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von Philipp Münch

Erfahrungen und Lehren aus dem militärischen Afghanistan-Einsatz

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Rund zwei Monate nach Abzug der Bundeswehr und ihrer Verbündeten aus Afghanistan marschierten die Taliban am 15. August 2021 triumphierend in Kabul ein. Nun war offenkundig, was Unions- und Regierungsfraktionen kürzlich im Einsetzungsbeschluss der entsprechenden Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags formulierten: nämlich, dass „die militärischen und zivilen Stabilisierungsmaßnahmen […] nicht zu einer dauerhaften Befriedung des Landes beigetragen haben […]“.1 Als wäre das nicht schon genug, folgte mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine gut sechs Monate später der nächste Schock für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik.

Unter dem Druck der Ereignisse erklärte die neue Bundesregierung eine „Zeitenwende“ für die deutsche Sicherheitspolitik. Sie gab damit der von ihren Vorgängern nach der russischen Annexion der Krim 2014 erklärten „Refokussierung“ auf die Landes- und Bündnisverteidigung neuen Auftrieb. Über 100.000 Angehörige der Bundeswehr haben in Afghanistan gedient.

Umso drängender stellt sich die Frage, welche Lehren sich aus den Erfahrungen der Soldatinnen und Soldaten mit dem fast zwanzig Jahre währenden Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan für die neue Lage der deutschen Sicherheitspolitik ziehen lassen.

Es ist von der Forschung noch en détail herauszuarbeiten, welchen konkreten politischen Zweck die insgesamt sechs Bundesregierungen mit der, wie es in dem bereits erwähnten Einsetzungsbeschluss heißt, „sich […] kontinuierlich ändernden Zielsetzung“ des deutschen Engagements in Afghanistan verfolgten. Am überzeugendsten erscheint derzeit die These, dass es für die Verantwortlichen nachrangig war, etwas Konkretes in Afghanistan selbst zu erreichen. Vielmehr war das Engagement vor allem Mittel zum politischen Zweck, Solidarität mit der Führungsmacht USA zu zeigen und dadurch den Einfluss Deutschlands in den internationalen Beziehungen zu erhalten oder gar zu vergrößern.2

Infolgedessen hatten viele Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan „starke Zweifel an dem Sinn und Zweck hier“, wie es ein Hauptfeldwebel 2010 in seinem kürzlich edierten Tagebuch formulierte.3 Ein paar Jahre später stimmte in einer Umfrage weniger als die Hälfte der Soldatinnen und Soldaten mit Gefechtserfahrung der Aussage zu, dass der Auftrag der Mission sinnvoll gewesen sei.4 Hintergrund dafür dürfte gewesen sein, dass die internationalen Truppen fast ausschließlich in Afghanistan operierten. Die Urheber der Anschläge vom 11. September 2001 waren jedoch nach Beginn der Intervention größtenteils nach Pakistan ausgewichen. Außerdem war der Widerwille insbesondere der traditionellen afghanischen Landbevölkerung gegen eine von der Bundeswehr zu unterstützende, starke Zentralgewalt und westlich geprägte Reformen unübersehbar. Parallel nahm auch die Unterstützung breiterer deutscher Bevölkerungsschichten für das Afghanistan-Engagement ab.

 

Mantra Effizienzgewinn

 

Aus dieser ungünstigen Konstellation sollten die Verantwortlichen in Außen- und Sicherheitspolitik für die Zukunft die Lehre ziehen, dass es geboten ist, den politischen Zweck eines Unterfangens klar zu benennen und gegebenenfalls in der vielfach geforderten öffentlichen sicherheitspolitischen Debatte zur Diskussion zu stellen. Hier bietet die Rückbesinnung auf die Landes- und Bündnisverteidigung klare Vorteile. Denn der Schutz von Territorium und Bevölkerung ist für breitere gesellschaftliche Gruppen plausibel und weit weniger umstritten als es die Auslandseinsätze jemals waren. So hat die Einstellungsforschung gezeigt, dass die Bevölkerung weniger die Institution Bundeswehr als konkret ihren Afghanistan-Einsatz kritisch betrachtete.5 Die russische Aggression dürfte die Wertschätzung für Landesverteidigung noch einmal verstärken.

Der Einsatz in Afghanistan berührte auch die Erfahrungen der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in der Heimat. Denn in den vergangenen zwanzig Jahren mussten die Verantwortlichen im Bundesministerium der Verteidigung die Anforderungen der Auslandseinsätze bei gleichzeitig fast stetig real sinkendem Haushalt bewältigen. Hierzu strukturierten sie die Bundeswehr mehrfach um. Allgemein folgten sie dabei dem Mantra, Effizienzgewinne zu erzielen, indem sie Funktionen zentralisierten. Weiterhin bestand zwar die ursprünglich auf die Landesverteidigung ausgerichtete Divisions- und Brigadestruktur. Allerdings nutzten die Verantwortlichen sie vor allem dazu, um aus zahlreichen dieser Verbände regelmäßig für vier bis sechs Monate Einsatzkontingente zusammenzustellen, die sie unter anderem nach Afghanistan entsandten.

Für die Angehörigen der Bundeswehr hatten die im Zuge der Strukturreformen erfolgten Standortschließungen oftmals zur Folge, dass sie – teilweise über längere Strecken – pendeln mussten. Dies schwächte ihre persönliche Bindung an die Standorte und deren Bevölkerung. Die Praxis, notgedrungen Einsatzkontingente aus zahlreichen Verbänden und Einheiten und sogar einzelnen Experten zusammenzustellen, schwächte zudem den inneren Zusammenhalt. Bei ausreichender Finanzierung ergibt sich nun die Chance, wieder eine stärker dezentralisierte Struktur aufzustellen, die fachlich auf jeden Fall erforderlich ist, da zur Landes- und Bündnisverteidigung Großverbände in Gänze einsetzbar sein müssen. Dies dürfte auch den äußeren und inneren Zusammenhalt der Truppe stärken.

 

„Kriegerhabitus“ und tradierte Grundsätze

 

Unabhängig von Zweck und Zielen des deutschen Afghanistan-Einsatzes sammelten Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in dem Land zahlreiche Erfahrungen, die über den normalen Dienstbetrieb einer Friedensarmee hinausgingen. Glücklicherweise erlebten die wenigsten, wie es ist, physische Gewalt zu erleiden oder auch selbst auszuüben. Dabei zeigte sich, dass Gewaltpraxis und Gewaltverarbeitung vielfach in den Bahnen historischer Traditionen verliefen. Insbesondere viele Angehörige der Kampftruppe des Deutschen Heeres hatten von mir als „Kriegerhabitus“ bezeichnete Einstellungen ausgebildet, indem sie über Generationen von Soldaten weitergegebene militärfachliche Ideale verinnerlichten.6

Auf der Ebene der höheren Offiziere hatte dies zur Folge, dass diese sich bei der Planung und Führung von Operationen überwiegend an den tradierten Grundsätzen von Landoperationen orientierten. Diese reichten bis ins 19. Jahrhundert zurück und sahen im Kern vor, den Gegner mit möglichst schnellen, am Gelände orientierten Truppenbewegungen zu schlagen. Viele Angehörige der hierarchisch untergebenen Dienstgrade der Kampftruppe wiederum nutzten ebenfalls weit zurückreichende Sinnsprüche, Symbole und militärische Vorbilder, um Orientierung für den letztendlich lebensgefährlichen Kampf zu erhalten. Auch bei Trauerfeiern für gefallene Kameraden nutzten sie solche symbolischen Formen.7

 

Neue taktische Konzeptionen

 

Die Strategie, afghanische Aufständische mit hergebrachten Grundsätzen operativer Führung zu bekämpfen, lief jedoch überwiegend ins Leere. Dementsprechend oft war zu vernehmen, dass die Bundeswehr lieber die Methoden der – letztlich jedoch ebenfalls nicht erfolgreichen – angelsächsischen „Counterinsurgency“ übernehmen sollte. Indem viele Offiziere am hergebrachten Vorgehen festhielten, konnten sie allerdings auch die eindeutig besser geeigneten Grundsätze operativer Führung für die Landes- und Bündnisverteidigung gegen staatliche Gegner wie Russland bewahren. Als Lehre ist dennoch festzuhalten, dass es zumindest auf taktischer Ebene völlig zeitlose Grundsätze der Kriegsführung nicht geben kann. Vielmehr sind diese von den Rahmenbedingungen des Konflikts abhängig.

Dies gilt insbesondere für die Kampferfahrung, die einige Tausend deutsche Soldatinnen und Soldaten sammeln konnten. Auch wenn viele von ihnen aufgrund des Endes ihrer Dienstzeit die Bundeswehr inzwischen verlassen haben und so manche unter der Erinnerung leiden, stellt sie einen wichtigen Erfahrungsschatz dar. Dieser wird, ebenso wie die Erfahrungen vorhergegangener Generationen, zumindest die informelle Tradition der Truppe prägen und damit auch indirekt in neue taktische Konzeptionen einfließen. Hierbei darf nicht außer Acht geraten, dass die Bundeswehr ihre Kampferfahrung gegen einen sehr schwachen Gegner erwarb, auch wenn sich die afghanischen Aufständischen im Laufe der Zeit zunehmend professionalisierten. In der Landes- und Bündnisverteidigung steht die Bundeswehr zweifelsohne im Ernstfall einem sehr viel kampfkräftigeren Gegner gegenüber.

Ungeachtet des nachteiligen Ausgangs des Afghanistan-Einsatzes konnten die Angehörigen der Bundeswehr wertvolle Erfahrungen sammeln. Dabei standen sie zahlreichen Herausforderungen gegenüber, die sich vielfach in dieser Form nicht mehr zu stellen scheinen. Denn nicht nur der politische Zweck der wieder eindeutig im Vordergrund stehenden Landes- und Bündnisverteidigung gegen reguläre Streitkräfte eines feindlichen Staats ist klar, sondern grundlegende Strukturen und Einstellungen der Bundeswehr sind auch passgenauer auf diese Aufgabe abgestimmt.

 

Philipp Münch, geboren 1980 in Schleswig, Projektbereichsleiter „Deutsche Sicherheitspolitik und Bundeswehr“, Forschungsbereich Sicherheitspolitik und Streitkräfte, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam.

Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Autors wieder.

 

1 Deutscher Bundestag: Drucksache 20/2570, Einsetzung einer Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“, 05.07.2022, S. 2.
2 Vgl. Philipp Münch: „Ein paradoxer Krieg. Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan“, in: Einsatz ohne Krieg? Hrsg. von Martin Rink und Jochen Maurer, Göttingen 2021 (= Bundeswehr im Einsatz, Bd. 1), S. 151–171, hier S. 155–160.
3 Markus Götz: „Hier ist Krieg“. Afghanistan-Tagebuch 2010, im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, hrsg. von Christian Hartmann, Göttingen 2021 (= Bundeswehr im Einsatz, Bd. 4), S. 193.
4 Anja Seiffert / Julius Heß: Leben nach Afghanistan. Die Soldaten und Veteranen der Generation Einsatz der Bundeswehr. Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Langzeitbegleitung des 22. Kontingents ISAF, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Forschungsbericht, Potsdam September 2017, veröffentlicht im Februar 2019, S. 271.
5 Meike Wanner: Das Ansehen der Bundeswehr. Persönliche Einstellung versus Meinungsklimawahrnehmung. Dissertation, Baden-Baden 2019.
6 Philipp Münch: Die Bundeswehr in Afghanistan. Militärische Handlungslogik in internationalen Interventionen, Freiburg i. Br. 2015 (= Neueste Militärgeschichte, Analysen und Studien, Bd. 5), S. 61–66.
7 Ebd., Kap. VIII.

 

 

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