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von Karlies Abmeier

Über Kirche und Politik aus Anlass des 101. Deutschen Katholikentages in Münster

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Vom 9. bis 13. Mai 2018 findet in Münster der 101. Deutsche Katholikentag statt. In der Stadt des Westfälischen Friedens werden hundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs unter dem Leitwort „Suche Frieden“ Zehntausende ihren Glauben feiern und über kirchliche, gesellschaftliche und politische Themen diskutieren.

 

Katholikentage blicken auf eine lange Tradition zurück. Die ersten – damals noch als Generalversammlungen der Katholischen Vereine Deutschlands bezeichnet – waren Zusammenkünfte mit klarer politischer Ausrichtung. In der Zeit nach der Revolution von 1848/49 ging es um Religionsfreiheit und um die soziale Frage. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden Katholikentage zu Plattformen für Abgeordnete der katholischen Zentrumspartei. Man sprach gar von der „Heerschau“ oder dem „Herbstmanöver“ des politischen Katholizismus. Von diesen Ursprüngen ist nur die Grundidee geblieben. Mit der Pluralisierung der Gesellschaft und der damit verbundenen Auflösung des katholischen Milieus wandelte sich die Ausrichtung der Katholikentage.

 

Heute will das Treffen auf die Vielfalt des katholischen Lebens reagieren. In einem breit gefächerten spirituellen Programm, besonders auch für Jugendliche, in Präsentationen der Organisationen und Vereinigungen auf der „Kirchenmeile“ sowie in gesellschaftlichen und politischen Vorträgen und Podien sollen sich Menschen mit unterschiedlichen Interessen wiederfinden. Anknüpfend an ältere Traditionen sendet die Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, die dem Katholikentag zeitlich unmittelbar vorausgeht, jedoch ergänzend zu dem Glaubensfest mit geistlich-liturgischen Elementen einerseits und Diskussionsveranstaltungen zu Themen aus Gesellschaft und Politik andererseits seit einigen Jahren wieder eine politische Botschaft.

 

Der politische Charakter der Katholikentage spiegelt sich in dem Interesse der Öffentlichkeit und der politischen Amtsträger wider. In jüngerer Vergangenheit besuchten der jeweilige Bundespräsident und die Bundeskanzlerin – soweit es deren Terminkalender zuließ – die Katholikentage. Dies gilt in gleicher Weise für die Deutschen Evangelischen Kirchentage, die alle zwei Jahre im Wechsel mit den Katholikentagen stattfinden. Auf den Christentreffen wirken regelmäßig Ministerinnen und Minister aus Bund und Ländern auf den Podien mit und stellen sich der politisch interessierten Öffentlichkeit.

 

Auch wenn das Gespräch von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama vor dem Brandenburger Tor während des Evangelischen Kirchentags 2017 teilweise als Wahlkampf gedeutet wurde, ist dennoch zu fragen, welche politische Wirkung diese Großveranstaltungen haben und welche Rolle die Kirche(n) für und in der Politik spielen.

 

 

Nachlassende Präsenz?

 

Verglichen mit der großen öffentlichen Präsenz der Kirchen in der unmittelbaren Nachkriegsphase, als sie nach der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus als moralisch weitgehend intakte Organisationen galten, wird ihnen heute oft ein dramatischer Verlust ihrer Anziehungskraft attestiert. Jedes Jahr werden die zurückgehenden Zahlen an Kirchenmitgliedern veröffentlicht. Ende 2016 machten die Mitglieder der großen Kirchen, der früheren „Volkskirchen“, nur 55 Prozent der Bevölkerung aus. 1951 waren es noch 96,4 Prozent in der Bundesrepublik. Zu Beginn des Jahres 2018 verbreitete sich die Nachricht, dass sich in Berlin nur noch ein Viertel der Bevölkerung einer der großen Kirchen zugehörig fühle. Dazu passen Umfragen, die untersuchen, was Glaube und Religion für den Einzelnen bedeuten: Laut infratest dimap messen 63 Prozent Religion und Glauben geringe oder keine Bedeutung für ihr Leben zu. Hinzu kommt die Beobachtung, dass die Menschen nur wenig Vertrauen in die Kirchen setzen. Dabei fällt eine Diskrepanz zwischen dem Ansehen der sogenannten Amtskirche und dem ihrer Organisationen wie etwa der Caritas auf, die Teil der katholischen Kirche ist.

 

Das nicht zuletzt medial vermittelte schlechte Ansehen – auch Folge von finanziellem Missmanagement und Missbrauchsskandal – kontrastiert mit einer starken institutionellen Stellung der Kirchen und mit dem hohen ehrenamtlichen Engagement ihrer Mitglieder. Nicht erst in Krisensituationen wird der große Anteil deutlich, den Christen zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen. Besonders vielfältig sind die Aktivitäten auf dem sozialen Sektor. Diakonie und Caritas, die beiden Wohlfahrtsverbände der großen Kirchen, sind als Antwort auf die sozialen Missstände im 19. Jahrhundert entstanden. Aus christlicher Nächstenliebe und Barmherzigkeit nahmen sich Einzelpersönlichkeiten und Vereinigungen der von Verelendung bedrohten Industriearbeiter und ihrer Familien an. Heute bilden diese aus vielen Initiativen gewachsenen Einrichtungen einen wichtigen Teil des Sozialsystems, dessen Vielfalt sie mit ihrem Angebot an Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, Jugendhilfe, Seniorenbetreuung und Beratungsstellen garantieren. Auch im Bildungsbereich spielen kirchliche Akteure eine wichtige Rolle. Das gilt etwa für die konfessionell getragenen Kindertagesstätten. Dort kann ein Grundstock an Kenntnissen über religiös motiviertes Handeln und Werthaltungen gebildet werden. Exemplarisch mag dafür die Geschichte des Heiligen Martin stehen, der seinen Mantel mit dem Armen teilte. Wenn an dieses Beispiel christlicher Nächstenliebe mit einem Laternenumzug erinnert wird, ist das nicht nur bei christlichen, sondern auch bei kirchenfernen und religiös anders geprägten Eltern ein gern gesehenes Brauchtum. Einen ähnlichen Auftrag erfüllen Schulen in konfessioneller Trägerschaft. Sie erfreuen sich – allen Negativschlagzeilen zum Trotz – eines ungebrochenen Zulaufs.

 

Ehrenamtliches Engagement ist vielfältig und wird oft weder von Akteuren noch von Beobachtern als kirchlich geprägt wahrgenommen. Es reicht von der Nachmittagsbetreuung in Schulen und dem Betrieb von Kleiderstuben über Tätigkeiten in Eine-Welt-Initiativen bis zur Mitwirkung in kulturellen Arenen wie Singen in Chören und Ausstellungsbegleitungen.

 

Eine jüngere Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach zeigt darüber hinaus, dass viele Menschen die christlichen Wurzeln Deutschlands schätzen, auch wenn sie selbst zu deren Pflege nicht aktiv beitragen. Obwohl die Zustimmung zu den Glaubenssätzen abgenommen hat und auch die Kirchenmitglieder nur noch unregelmäßig einen Gottesdienst besuchen, sagt mit 56 Prozent eine größere Zahl als vor fünf Jahren, dass Deutschland in der Öffentlichkeit seine christliche Prägung zeigen solle.

 

 

Anwalt der Benachteiligten

 

Doch lassen sich die Kirchen nicht auf einen sozial-karitativen Reparaturbetrieb beschränken, sondern sie erheben auch einen anwaltlichen Anspruch. Sie wollen sich für die Armen und Benachteiligten einsetzen, die sich nicht organisieren und ihre Interessen nicht selbst vertreten können. Denn es geht nicht nur darum, Not zu lindern, sondern auch die Ursachen für die Notlagen zu benennen und Abhilfe zu fordern beziehungsweise Alternativen zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund sind Kirchenvertreter Partner für Politiker und staatliche Organe. Sie werden zu Anhörungen eingeladen und in Gremien berufen.

 

Besonders wenn es um Orientierung in ethischen Grundsatzfragen geht, ist der Rat theologisch versierter Persönlichkeiten gefragt. Teilweise sind die Wege der Konsultationen institutionalisiert, wie etwa die Berufung von Kirchenvertretern in Rundfunkräte. Teilweise hängt es vom Thema ab, wie kirchliche Repräsentanten einbezogen werden, zum Beispiel im Nationalen Ethikrat. Die Kirchen erscheinen hier als eine Wertegemeinschaft, die Leitlinien zur Orientierung in ethischen Fragen formulieren kann.

 

An ihren Voten scheiden sich jedoch die Geister. Je nach politischer Ausrichtung wird man ihre Aussagen für zielführend oder irreleitend halten. In vielen Fällen rufen sie Widerspruch hervor. Die Wirkung der Einlassungen hängt im Wesentlichen davon ab, in welchem Kontext sie geäußert werden und wer mit welcher Autorität und Verbindlichkeit spricht.

 

Nicht nur in seiner sozialen, sondern besonders in seiner anwaltlichen Funktion ist christlicher Glaube politisch. „Wir können nicht von Gott sprechen, ohne vom Menschen zu sprechen“, so der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki.

 

Als Beispiel einer gelungenen Verbindung von Glaubensverkündigung mit der Verbreitung sozialpolitischer Botschaften und sozialer Praxis erinnert Reinhard Kardinal Marx an den „Sozialbischof“ Wilhelm Emmanuel von Ketteler: „Irdisches Wohl und ewiges Heil sind nicht zu trennen, sondern aufeinander zu beziehen. Deshalb: Christ sein heißt politisch sein!“ Es könne keine Trennung zwischen Spiritualität und Weltverantwortung geben.

 

„Mystik und Politik gehören zusammen. Mystik ist keine Weltflucht und Politik keine Glaubensflucht.“ Mit dieser prägnanten Synthesebildung macht er klar, dass der Glaube keine Privatsache ist, sondern sich in der Zuwendung zum Nächsten äußert. Das Evangelium lenkt die Aufmerksamkeit auf die Not der Mitmenschen und schärft den Blick für Gerechtigkeit.

 

 

Politik möglich machen

 

Aus der Bibel lassen sich jedoch keine konkreten Handlungsanweisungen für die Gegenwart ableiten. Die biblischen Texte können keine Rezepte für den politischen Alltag liefern, sondern nur Grundsätze und Maßstäbe aufstellen, an denen sich Politiker ausrichten können. Denn – wie Papst Franziskus schreibt – „weder der Papst noch die Kirche haben das Monopol für die Interpretation der sozialen Wirklichkeit oder einen Vorschlag zur Lösung gegenwärtiger Probleme“ (Evangelii Gaudium 184).

 

In diesem Sinn ist auch der oft zitierte Satz aus dem Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz von 1997 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit zu verstehen: „Die Kirchen wollen nicht selbst Politik machen, sie wollen Politik möglich machen.“ Das heißt, sie wollen Richtlinien setzen, aber keine weiteren Sachverständigengutachten liefern. Es geht um Wertorientierung, die dem Wohlergehen aller dient. Diesem Ziel sind die Denkschriften der EKD wie auch die päpstlichen Rundschreiben, die Verlautbarungen der Deutschen Bischofskonferenz und die Stellungnahmen des Zentralkomitees der deutschen Katholiken verpflichtet. Sie sind sich bewusst, dass sich konkrete politische Maßnahmen nicht aus dem (christlichen) Glauben ableiten lassen.

 

Selbst wenn auf der Grundlage sozialethischer Wertentscheidungen konkrete politische Forderungen aufgestellt werden, bleibt das Bewusstsein für die Eigengesetzlichkeit von Politik und Religion bestehen. In der Politik geht es um Kompromisse und pragmatische Regelungen, die vorläufig sind und über die in demokratischen Gesellschaften abgestimmt werden muss. Demgegenüber steht das Ziel von Religion, den Sinn des Lebens und den Weg zum transzendenten Heil zu erschließen, das der Wahrheit verpflichtet ist. Das Zweite Vatikanische Konzil gesteht den vorletzten Fragen in Abgrenzung von den letzten Fragen die „Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“ (Gaudium et Spes 36) zu. Für die jeweiligen politischen Sachprobleme werden Experten zu Rate gezogen, die die Materie verstehen und sich ein Urteil bilden können. Dabei ist es nötig, die jeweiligen Fachsprachen zu übersetzen und einer Allgemeinheit zugänglich zu machen.

 

 

Wie politisch darf eine Predigt sein?

 

Als Foren eines solchen interdisziplinären Austausches dienen Symposien, Anhörungen und auch Podien auf Katholiken- und Kirchentagen. Experten verschiedener Professionen können ihre Fachkenntnisse mit den ethischen Erkenntnissen und politischen Realitäten messen und eine gemeinwohldienliche Perspektive entwickeln. Nicht religiöse Autorität darf ins Spiel gebracht werden, sondern die religiös fundierten Argumente sind so vorzutragen, dass sie in einer pluralistischen und säkularen Öffentlichkeit verstanden werden, zum Nachdenken anregen und damit Entscheidungen vorbereiten können. Die Gefahr eines Übergewichts theologisch begründeter politischer Positionierung tritt leicht bei Predigten ein. Niemand kann widersprechen. Durch die Kanzel wird dem Inhalt eine besondere Autorität zuerkannt. Wie politisch darf eine Predigt sein?

 

In teilweise polemischer Zuspitzung spielen Kritiker in Predigtäußerungen über Windenergie und Grüne Gentechnik gegenüber Bekenntnissen zur Heilsbotschaft aus. Politische Einlassungen bergen die Gefahr, parteipolitisch missverstanden und als Indoktrination gedeutet zu werden. Deswegen sollten Predigten sich nicht in tagespolitische Detailfragen einmischen. Sie dürfen eine Gemeinde nicht spalten. Gleichzeitig sollten sie jedoch nicht weit von den Erfahrungen der Gläubigen entfernt sein. „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“

 

Dieses Zitat aus der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils fordert eine präsente Zeitgenossenschaft. Wichtige, die Menschen beschäftigende Ereignisse müssen in den Predigten aufgegriffen werden. Das schließt den Trost nach Katastrophen ebenso ein wie den Ausblick am Beginn eines Jahres, der auch die politischen Ereignisse einbezieht. Anderenfalls kann dem Prediger Weltfremdheit und Schweigen da vorgeworfen werden, wo die Kirche die Stimme hätte erheben müssen. Ein positiv aufrüttelndes Beispiel waren 1941 die Predigten des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, gegen die Euthanasie. Demgegenüber ist vielen das Eintreten Papst Pius’ XII. für die Juden nicht explizit genug gewesen.

 

Auch wenn in Deutschland die Zahl der aktiven Christen rückläufig ist: Religion ist als Faktor von Politik weltweit – spätestens seit den Anschlägen in New York 2001 – wieder ins Bewusstsein gerückt. Religiosität kann die Menschen zum Guten motivieren, sie in der Suche nach Gerechtigkeit und in der Nächstenliebe bestärken. In ihrer fundamentalistischen Ausprägung kann sie sich aber auch zerstörerisch auswirken. Über die Potenziale von Religion, ihren Einfluss auf die Politik und das Leben der Einzelnen sowie über die Wechselwirkung religiöser Inspiration und gelebter Nächstenliebe wird auch auf dem kommenden Katholikentag in Münster diskutiert werden. „Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn“, schrieb vor 2.700 Jahren der Prophet Jeremias an das jüdische Volk im babylonischen Exil. Dieser Appell des Propheten zu tatkräftigem Engagement und gleichzeitigem Gebet kann den Gegensatz von Spiritualität und Weltverantwortung, von weltferner Innerlichkeit und Mitgestaltung des Politischen auflösen. Man darf das eine nicht gegen das andere ausspielen. In ihrem gesellschaftsfördernden Potenzial kann gerade die christliche Religion zu Frieden und Gerechtigkeit beitragen und damit das Leitwort des Katholikentags „Suche Frieden“ mit Leben erfüllen.

 

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Karlies

Abmeier, geboren 1953 in Münster, Leiterin Team Religions-, Integrations- und Familienpolitik, Hauptabteilung Politik und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

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