Wahlen sind Hochfeste der Demokratie. Ihr Ausgang hat maßgebliche Auswirkungen auf die politischen Entwicklungen in der jeweils folgenden Legislaturperiode, zugleich kommt durch sie die innere Verfasstheit eines Landes und seiner Gesellschaft zum Ausdruck, ablesbar am jeweiligen Wahlergebnis. In dieser Hinsicht war das Ergebnis der vorgezogenen Bundestagswahl 2025 sowohl aufschlussreich als auch alarmierend für die Akzeptanz der Demokratie in Deutschland.
„Die Demokratie verliert an Vertrauen. Unsere Demokratie ist in Gefahr“, warnte nicht nur Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner im Sommer 2024.[1] Der Historiker und Yale-Professor Timothy Snyder war Anfang 2025 dagegen der Auffassung, Deutschland sei heute „die wichtigste Demokratie der Welt. […] die größte funktionierende Demokratie“.[2] Beide Beobachtungen sind nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig; auf jeden Fall sind sie unvollständig.
Es ist unübersehbar, dass die Sicherung unserer Demokratie zu den größten Baustellen für die künftige Bundesregierung zählt. Dabei wird es nicht nur auf die Politikinhalte ankommen, sondern nach dem Eindruck des Dauerstreits in der Ampelkoalition auch auf den Politikstil ebenso nach innen wie nach außen. Beides wird Auswirkungen auf die Bundestagswahl im Jahr 2029 haben, in welchem auch die Europawahl, die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen sowie neun Kommunalwahlen stattfinden werden. Um es mit den Worten Konrad Adenauers zu sagen: „Mit dem Sieg einer Bundestagswahl ist es nicht getan, sondern man muß auch an die Arbeit gehen für die nächste Wahl.“[3]
Geschrumpfte Mitte
Das Bundestagswahlergebnis beinhaltet bei kritischer Betrachtung nicht viele positive, dafür allerdings manche bedenkliche, bisweilen gar alarmierende Befunde. Eindeutiger Wahlsieger ist die Union, die mit 28,5 Prozent jedoch ihr historisch zweitschlechtestes Ergebnis erzielt. Die Ampelregierung ist abgewählt worden, was für eine vitale Demokratie nicht unüblich ist, in dieser Deutlichkeit dagegen schon: SPD und FDP erzielen ihre historisch schlechtesten Ergebnisse. Die Liberalen scheitern nach 2013 erneut an der Fünf-Prozent-Hürde. Die Grünen verzeichnen zwar das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte, verlieren jedoch ebenfalls deutlich. Der kontinuierliche Vertrauensverlust der Ampelkoalition bis zum vorzeitigen Ende der Legislaturperiode hat die politische Mitte erheblich schrumpfen lassen: 76,1 Prozent der Stimmen vereinten 2021 diese Parteien auf sich, nun nur noch 56,6 Prozent. Einzig die Union legt als Partei der politischen Mitte zu. Die politischen Ränder – AfD, Die Linke und das knapp den Einzug ins Parlament verfehlende BSW – haben insgesamt 19,3 Prozentpunkte hinzugewonnen.
Profitiert haben diese Parteien auch von der zum vierten Mal in Folge gestiegenen Wahlbeteiligung, die mit 82,5 Prozent die höchste seit der Wiedervereinigung ist. Auch das ist einer der wenigen positiven Befunde, spricht es doch für die Vitalität unserer Demokratie. Allerdings haben viele Wähler, die sich bei der letzten Wahl enthielten, nun die Parteien der politischen Ränder gestärkt – in einem für das Parlament historischen Ausmaß: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat die politische Mitte keine Zwei-Drittel-Mehrheit für Grundgesetzänderungen, und die ehemals großen Volksparteien haben zusammen gerade eine Mehrheit der Mandate, allerdings nicht einmal die Mehrheit der abgegebenen Stimmen.
Dies wird die Arbeit der künftigen Bundesregierung erheblich erschweren: Seit 1949 haben sich über Jahrzehnte stets stabile Regierungsbündnisse zwischen Parteien der politischen Mitte gebildet, während die Kontrolle der jeweiligen Regierung durch eine möglichst starke demokratische Opposition erfolgte. Die AfD wird in Zukunft als zweitstärkste Fraktion „Oppositionsführerin“ sein, zu der wiederum Grüne und Die Linke in Opposition stehen werden. Die weitere Polarisierung der Parlamentsfraktionen dürfte – so eine Lehre seit dem Einzug der AfD in den Bundestag 2017 – nicht ohne Einfluss auf die Parlamentskultur bleiben.
Schwindendes Vertrauen
Zu Zeiten früherer Großer Koalitionen aus Union und SPD galten diese immer als abträglich für eine vitale parlamentarische Demokratie, da zu befürchten war, dass sich ein beachtlicher Teil der Bürgerinnen und Bürger mit ihren Anliegen und Interessen nicht in der Regierung oder gar im Parlament repräsentiert fühlte, was in der Regel die politischen Ränder stärkt. Dass nun ausgerechnet nach drei Jahren Regierungszeit des auf Bundesebene neuen Ampelkoalitionsmodells die Ränder in nie dagewesener Weise erstarkt sind, ist zum einen der desolaten Bilanz dieser Regierung geschuldet.
Eine weitere Ursache liegt in der gegenüber 2021 noch einmal gestiegenen Polarisierung und Fragmentierung der Wählerschaft. Der bereits bei der vergangenen Wahl deutlich gewordene Umbruch in der Wählerlandschaft hat sich noch einmal verstärkt. Immer mehr Wählerinnen und Wähler sind bereit, abwechselnd für unterschiedliche Parteien zu stimmen. Vor allem die AfD profitierte von der zunehmenden Volatilität und gewann, mit Ausnahme leichter Verluste an das BSW, von allen Parteien Stimmen hinzu, am stärksten aus dem Nichtwählerlager (1,8 Millionen Stimmen). Besonders bemerkenswert ist, dass von den 18bis 24-jährigen Wählerinnen und Wählern beinahe die Hälfte Die Linke (26 Prozent) oder die AfD (21 Prozent) gewählt hat. Vor drei Jahren neigte diese Wählergruppe eher den Grünen (23 Prozent) und der FDP (21 Prozent) zu, die zusammen aktuell auf nur noch 16 Prozent kommen, während die beiden künftigen Koalitionspartner zusammen weniger als ein Viertel der Jungwählerstimmen erhalten haben.
Auffällig ist, dass die Wechselbereitschaft weiter zugenommen hat, obwohl die persönliche Polarisierung – die Neigung, mit anderen gesellschaftlichen Gruppen nichts zu tun haben zu wollen – messbar gestiegen ist: Misstrauen und Ablehnung gegenüber anderen Teilen der Gesellschaft nehmen zu, das Vertrauen in den Staat, in staatliche Institutionen und insbesondere in die öffentlich-rechtlichen Medien schwindet. Für unsere auf Konsens und Kompromiss, auf Zusammenhalt und Solidarität angewiesene demokratische Gesellschaft sind solche Verwerfungen ein bedenklicher Zustand.
Auch bei der Positionierung zu politischen Streitfragen haben die Wählerschaften sich weiter voneinander entfernt. Die Ansichten über Fragen, ob mehr oder weniger Klimaschutz, Sozialstaat oder Migration notwendig ist, sind deutlich divergenter geworden. Die wichtigsten Themen vor der Wahl waren für 44 Prozent der Bevölkerung Zuwanderung, Asyl und Migration und für 36 Prozent die Wirtschaftslage. Bei den Gründen für die individuelle Wahlentscheidung spielte dagegen eine Reihe von Themen auf etwa gleichem Niveau eine Rolle: innere und soziale Sicherheit, Migration und Wirtschaftswachstum, Klimaschutz und Frieden. Die Wählerinnen und Wähler erwarten von der künftigen Bundesregierung Lösungen für Herausforderungen, die hinsichtlich ihrer Zahl und ihrer Größe einem Ausmaß entsprechen, wie es vergleichbar allenfalls in der Anfangszeit der Bundesrepublik Deutschland bestanden hat.
Doppelte „Zeitenwende“
Drei Jahre nach Russlands Angriff auf die Ukraine erleben wir die Aufkündigung der von den westlichen Demokratien propagierten und vermeintlich allgemein akzeptierten regelbasierten Weltordnung – ausgerechnet durch den neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten. Längst bestehen erhebliche Zweifel an der Verlässlichkeit der wechselseitigen Beistandsverpflichtungen aller NATO-Mitglieder in einem konkreten Konfliktfall. Die eigentliche Dramatik dieser insofern doppelten „Zeitenwende“ liegt in der Aufkündigung der regelbasierten internationalen Ordnung durch eine auf „Deals“ statt Verträge gestützte, jeweils bilaterale Vereinbarung.
Die Herstellung der Verteidigungsfähigkeit unseres Landes und auch Europas ist infolgedessen akut und dringend erforderlich. Dass dafür künftig deutlich mehr als zwei Prozent Verteidigungsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt nötig sind, ist inzwischen weitgehend politischer Konsens. Die erklärte Absicht der neuen Koalition, notwendige Verteidigungsausgaben – „whatever it takes“ (Friedrich Merz) – von der Schuldenbremse auszunehmen, ist dafür ein historisches Signal.
Die künftige Finanzierung von Sicherheit und Verteidigung muss zusammengedacht werden mit der Finanzierung der darüber hinaus auf vielen innenpolitischen Feldern bestehenden Herausforderungen, von deren Bewältigung die Zukunft unseres Landes nicht weniger maßgeblich abhängt.
Deutschland ist längst nicht mehr Europas Wirtschaftsmotor: Nach jeweils einem Minus von 0,3 Prozent 2023 und 0,2 Prozent 2024 wird unsere Wirtschaft vermutlich auch 2025 bestenfalls stagnieren. Die zunehmend maroden hiesigen Infrastrukturen und die überbordende Bürokratie, der Fachkräftemangel, eine übermäßige Steuer- und Abgabenlast sowie die im internationalen Vergleich viel zu hohen Energiepreise sind Gift für unseren Wirtschaftsstandort.
Wir müssen schnellstmöglich wieder wettbewerbsfähiger werden. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen den erforderlichen Strukturwandel als Daueraufgabe und als eine gemeinsame Kraftanstrengung verstehen.
Lange Liste von Baustellen
Die Soziale Marktwirtschaft hat unserem Land viele Jahrzehnte soziale Sicherheit und Wohlstand garantiert. Der notwendige Umbau unserer Industrie bedingt sowohl langfristige, verbindliche Zielvorgaben als auch angemessene Freiheiten hinsichtlich der Wege und Instrumente. Unternehmer, Investoren und Verbraucher benötigen Planungssicherheit und angesichts des rasanten technischen Wandels zugleich Offenheit für neue Entwicklungen und Innovationen. Diese sind entscheidend für unsere künftige internationale Wettbewerbsfähigkeit. Wohlstand für alle erfordert Investitionen in Bildung und Forschung. Wir müssen die Chancen des technologischen Fortschritts nutzen – und zwar schneller und besser als bisher. In zu vielen Bereichen unserer Gesellschaft geht es mit der überfälligen Digitalisierung zu langsam voran.
Auch die Sozialversicherungssysteme, insbesondere die staatliche Altersvorsorge, müssen reformiert werden, andernfalls droht ein Rekordbeitragssatz von 44 Prozent in dieser Legislaturperiode und von knapp 50 Prozent bis 2040. Intelligente Anreize zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit, mehr Wettbewerb zwischen den Kassen im Pflegebereich und Gesundheitswesen sowie weitere private Vorsorgemöglichkeiten sind unabdingbar.
Die Liste der Baustellen für unser Land, denen sich die neue Bundesregierung annehmen muss, ist lang. Das muss auch im Koalitionsvertrag deutlich werden, und die Koalitionspartner sollten sich dessen bewusst sein, dass im Verlauf der letzten drei Legislaturperioden ganz andere Themen dominierten als anfangs gedacht und vereinbart. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das auch für die 21. Wahlperiode gilt und weitere Herausforderungen hinzukommen. Definitiv bleiben wird die Aufgabe, unsere Demokratie zu bewahren und vor ihren inneren wie äußeren Feinden zu schützen, wenn es im nächsten großen Wahljahr 2029 kein böses Erwachen geben soll.
„Seit dem Ende des Kalten Krieges sind die meisten demokratischen Zusammenbrüche nicht durch Generäle und Soldaten, sondern durch gewählte Regierungen verursacht worden. […] Der demokratische Rückschritt beginnt heute an der Wahlurne.“[4] So haben die beiden US-amerikanischen Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt es in ihrem 2018 erschienenen Buch Wie Demokratien sterben auf den Punkt gebracht. Wir dürfen nicht zulassen, dass es so weit kommt. Das als Provisorium beschlossene Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gehört inzwischen zu den ältesten geltenden Verfassungen der Welt. Es muss gelebt und gegen alle Anfechtungen verteidigt und gesichert werden. Stabilität und Vitalität einer Demokratie stehen und fallen mit dem Engagement von Demokraten.
Norbert Lammert, geboren 1948 in Bochum, Sozialwissenschaftler, 1998 bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 2005 bis 2017 Präsident des Deutschen Bundestages, seit 2018 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.
[1] Maria Fiedler, Jonas Schaible: „Wir dürfen uns nicht kaputtsparen“, Interview mit Kai Wegner, in: Der Spiegel, 31.08.2024.
[2] Steffen Gassel, Moritz Gathmann: „Was immer Trump und Putin vereinbaren, könnte schreckliche Folgen haben“, Interview mit Timothy Snyder, in: stern, 26.02.2025.
[3] Vor dem Bundesparteiausschuss der CDU am 17.01.1958, st. N., S. 3, ACDP VII-001-021/1.
[4] Steven Levitsky / Daniel Ziblatt: Wie Demokratien sterben. München 2018.