Lange Zeit herrschten vielerorts vermeintliche Gewissheiten: Die Wähler entscheiden zunehmend seltener aufgrund ihrer sozialen Stellung oder Lage. Einstellungen zu politischen Problemen bestimmen das individuelle Wahlverhalten. Die Wähler werden immer volatiler und bewegen sich unbeschwert zwischen den politischen Lagern. Stammwähler werden für das Abschneiden von Parteien immer unbedeutender. Politische Lager verlieren ihre Bindekraft. Personen werden für die Wahlentscheidung immer wichtiger. Volksparteien sind Volksparteien und bleiben Volksparteien. Deutschland ist gegenüber einer rechtsextremen Partei weitgehend immun. Die Menschen in Ost- und Westdeutschland wachsen immer stärker zusammen, und die Unterschiede werden immer kleiner. Die Bundesrepublik hat sich zu einer Konsensgesellschaft entwickelt. Die Linke wird aus dem Parteiensystem verschwinden. Eine hohe Wahlbeteiligung ist Zeichen einer guten Demokratie.
Die vorgezogene Bundestagswahl 2025 stellte einige dieser Gewissheiten infrage. Die Wahlbeteiligung war mit 82,5 Prozent ausgesprochen hoch. Weitläufig gilt eine hohe Wahlbeteiligung als Gütesiegel der Demokratie. Meist wird argumentiert, dass Legitimation hergestellt, die Akzeptanz der Demokratie gesteigert und Politikverdrossenheit abgebaut würde. Einige Indikatoren weisen allerdings darauf hin, dass sie nicht zwangsläufig ein gutes Zeichen für die Demokratie ist. Zunächst gibt die Wahlbeteiligung vor allem darüber Auskunft, wie sich die Menschen für die konkrete Wahl interessieren und für wie wichtig sie die Wahl halten. Wenn die Wahlbeteiligung steigt oder sinkt, ist normalerweise ein systematischer Nutzen für eine Partei oder eine Parteienfamilie bislang nicht sichtbar. Allerdings ist bekannt, dass neue Parteien und Protestparteien – unabhängig von ihrer ideologischen Verortung – von der Wahl ehemaliger Nichtwähler überdurchschnittlich stark profitieren.
Seit der Parteigründung und Wahlteilnahme profitiert die Alternative für Deutschland (AfD) regelmäßig besonders stark von der Mobilisierung ehemaliger Nichtwähler. 1,8 Millionen frühere Nichtwähler gaben der AfD bei der Bundestagswahl 2025 ihre Stimme. Zählt man noch die Zugewinne aus dem Nichtwähllager bei der Linken und dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hinzu, haben diese drei Parteien 2,5 Millionen Stimmen hinzugewonnen. Die Parteien der politischen Mitte konnten dagegen nur 1,3 Millionen ehemalige Nichtwähler von sich überzeugen.
Fragmentierung und Polarisierung
In den ostdeutschen Flächenländern hat die AfD die dominante Stellung im Parteiensystem. Alle Wahlkreise – bis auf drei – gehen an sie. Und auch bei den Zweitstimmen liegt sie mit 32 Prozent mit Abstand auf dem ersten Platz. In Westdeutschland kommt sie auf einen Wert von 18 Prozent. Umgekehrt liegt die Union mit 30,9 Prozent in Westdeutschland auf Platz eins, während sie mit 18,7 Prozent in Ostdeutschland den zweiten Platz erreicht. Berlin hat zudem als Alleinstellungsmerkmal, dass die größeren Parteien fast gleichauf liegen: In Berlin ist Die Linke knapp stärkste Partei. Auf Platz zwei folgt die CDU, dicht gefolgt von SPD, Grünen und AfD.
Die deutsche Wählerschaft ist gegenüber 2021 nicht nur deutlich fragmentierter, sondern auch polarisierter. Auf der inhaltlichen Ebene zeigen sich bei der Positionierung zu politischen Streitfragen (zum Beispiel Klimaschutz versus Wirtschaft, mehr oder weniger Sozialstaat, mehr oder weniger Zuwanderung) wachsende Distanzen zwischen den unterschiedlichen Wählerschaften. Gleichzeitig sind die jeweiligen Wählerschaften der Parteien in sich homogener geworden. Die Anhänger der Grünen und Linken bilden bei allen inhaltlichen Einstellungen den Gegenpol zu der Anhängerschaft der AfD. Man kann eine zunehmende Kleinteiligkeit und den Zerfall in Partikularinteressen innerhalb der Wählerschaften beobachten.
Die persönliche (affektive) Polarisierung nimmt zu. Dies trifft unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen. Danach gefragt, mit wem man persönlich nichts zu tun haben möchte, ist insgesamt die gesellschaftliche Abneigung gegenüber allen abgefragten Gruppen (zumeist leicht) gestiegen. Vor allem die Abneigung gegenüber den Wählerinnen und Wählern der Grünen ist deutlich angestiegen. Die Abneigung gegen AfD-Wähler ist hingegen konstant hoch. Ausdruck findet dies auch im Vertrauen in die Medien. Mittlerweile sind fragmentierte Öffentlichkeiten entstanden, was sich auch am Vertrauen in die öffentlich-rechtlichen Medien ablesen lässt. Vor allem in der AfD-Anhängerschaft dominiert das Misstrauen diesen gegenüber.
Zudem scheint sich eine neue soziale Konfliktlinie zu zeigen. Die AfD schneidet bei unter 35-jährigen Männern im ländlichen Raum besonders gut ab (Gemeinden unter 20.000 Einwohner). Dies ist auch bei der Bundestagswahl so: 36 Prozent dieser Wählergruppe stimmen für die Partei. Im Gegensatz dazu hat sich die Wählerschaft der Linken zu der Partei der jüngeren, städtischen Frauen entwickelt. Hier gewinnt sie 35 Prozent. Die Grünen verlieren hingegen in dieser Gruppe stark.
Fehlender Amtsbonus
Bei (fast) jeder Wahl war die Bewertung der Spitzenkandidaten eines der besten Vorhersageinstrumente. Normalerweise (außer 2005) gewann derjenige Spitzenkandidat die Wahl, der gegenüber dem Herausforderer beziehungsweise 2005 der Herausforderin über das Gewicht des Amtsbonus verfügte. Auch 2021 konnte Olaf Scholz als Finanzminister von einem Quasi-Amtsbonus profitieren. Bei der Bundestagswahl 2025 sind diese Gewissheiten erschüttert worden. Die Ablehnung der Ampelregierung war so groß, dass weder Bundeskanzler Olaf Scholz noch Finanzminister Christian Lindner noch der Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck einen Amtsbonus besaßen. Sie waren zwar innerhalb ihrer eigenen – deutlich geschrumpften – Wählerschaft, konnten allerdings darüber hinaus kaum mobilisieren. Vermutlich dürfte dies jedoch eine Momentaufnahme sein. Bei Landtagswahlen wird der Einfluss des Amtsinhabers voraussichtlich auch in Zukunft von Bedeutung sein.
Seit 1990 wurde der Linken (damals noch PDS) selbst von wohlmeinenden Auguren ein längerfristiges Verweilen im Parteiensystem in keiner Glaskugel vorhergesagt. Auch wenn es der Linken nicht immer gelang, die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden, war sie in jedem Bundestag repräsentiert, wenn auch einmal mit nur zwei Abgeordneten.
Nach Abspaltung des BSW von der Linken schien das Ende der Partei mit 2,7 Prozent bei der Europawahl besiegelt zu sein. Mit einem Ergebnis von 8,8 Prozent hat Die Linke ein gutes – vor allem unerwartetes – Wahlergebnis bei der Bundestagswahl erzielt.
Etwa seit Mitte Januar 2025 konnte sie von Woche zu Woche jeweils einen Prozentpunkt hinzugewinnen. Mit sechs Direktmandaten (davon eines „im Westen“) hat sie ihren bisherigen Rekord von vier Mandaten übertroffen. Zudem wurde sie in Berlin – wenn auch mit geringem Vorsprung – stärkste Kraft. Profitiert hat sie dabei nicht nur von unterschiedlichen medienwirksamen Repräsentanten (etwa Gregor Gysi, Bodo Ramelow und Heidi Reichinnek), sondern auch von der polarisierenden Mobilisierung, die von den „Gegen-rechts“-Demonstrationen ausging. In guter alter Tradition der Totsagung soll auch hier darauf hingewiesen werden, dass eine Eindämmung der AfD die Zugkraft der Linken durchaus beeinträchtigen könnte.
Wachsende Ränder
Fasst man AfD, Die Linke und das BSW zusammen, sind die politischen Ränder auf einen Höchststand angewachsen, auch wenn das BSW mit 4,97 Prozent den Einzug in den Bundestag knapp verpasste. Gegenüber 2021 entspricht das einem Anstieg von insgesamt 19,3 Punkten. Zum ersten Mal haben die Parteien der politischen Mitte keine verfassungsändernde Mehrheit von zwei Dritteln der Mandate.
Noch nie war eine zumindest in großen Teilen rechtsextreme Partei mit einem so hohen Anteil (20,8 Prozent) im Parlament vertreten. Während sie bei der Bundestagswahl 2021 an Zustimmung verloren hatte, konnte sie 2025 ihren Anteil verdoppeln. Dies wird eine neue Phase der Auseinandersetzung mit der AfD einleiten. Der Aufwuchs der AfD hat viele Wurzeln, doch ist die Wahl der Partei längst kein (kurzfristiges) Protestphänomen, sondern eine Wahl aus Überzeugung. Die AfD verfügt mittlerweile über eine verhältnismäßig fest an die Partei gebundene Wählerschaft. Viele in der AfD schotten sich auch im Medienkonsum ab, was sich unter anderem in der starken Ablehnung der öffentlich-rechtlichen Angebote zeigt.
Während 2021 von der gesunkenen Akzeptanz der AfD vor allem die Sozialdemokraten profitiert hatten, verloren bei der Europawahl Union und SPD den gleichen Stimmenanteil an die AfD (570.000). Bei der Bundestagswahl 2025 gewann die AfD von der Union (circa eine Million Stimmen), weitere 890.000 Wähler verließen die FDP zugunsten der AfD, und 720.000 ehemalige Wähler der Sozialdemokraten stimmten für die Partei. Alle Wählerwanderungen, unabhängig davon, ob auf Bundes- oder Landesebene, weisen diese heterogene Herkunft auf. In den neuen Ländern fand zudem auch immer ein großer Austausch mit der Linken statt.
Von großer Bedeutung ist hingegen immer die Mobilisierung ehemaliger Nichtwähler (unabhängig davon, ob die Wahlbeteiligung sinkt oder steigt). Ist die die AfD von der Herkunft ihrer Wähler äußerst heterogen, so zeigen sich im Zeitverlauf in der Wählerschaft bestimmte Muster: wirtschaftliche, politische und persönliche Unzufriedenheiten; Skepsis gegenüber Institutionen, Parteien, Politikerinnen und Politikern; Misstrauen gegen andere Menschen; Ablehnung gesellschaftlicher Veränderungen, aber auch Gefühle wie Wut, Zorn und Verzweiflung prägen die AfD-Anhängerschaft. Auch sozialstrukturell zeichnen sich einige Konturen ab. Jüngere, Männer, ländlicher Raum und mittlere bis einfache Bildungsabschlüsse erhöhen die Wahrscheinlichkeit, AfD zu wählen.
Schlussendlich profitiert die AfD von der Fragmentierung des Parteiensystems und der Wählerschaften sowie von der gesellschaftlichen Polarisierung, die eine mobilisierende Wirkung entfaltet.
Skepsis und Unzufriedenheit
Die letzte Legislaturperiode war von einem kontinuierlichen Rückgang der Zufriedenheit mit der Bundesregierung, mit den die Koalition bildenden Parteien und den die Koalition repräsentierenden Personen geprägt. Die wahrgenommene Problemlösungskompetenz der Parteien ist in vielen Fällen geschrumpft oder sie stagniert. Insgesamt ist bei fast allen Politikern lediglich in den eigenen Reihen eine Zustimmung zu beobachten, die bei Alice Weidel und Sahra Wagenknecht besonders hoch ausfällt. Jenseits der eigenen Anhängerschaft findet sich nur eine geringe Akzeptanz, was dazu führt, dass im Bevölkerungsdurchschnitt fast alle Politiker negativ bewertet werden.
Doch auch bei anderen politischen Einstellungen gehen Zuversicht und Zufriedenheit verloren. Besonders prägnant sind hier die Anhänger der AfD und des BSW in ihren negativen Einsichten. Wirtschaftlich negative Perspektiven und eine deprimierte Zukunftszuversicht mischen sich mit dem weit verbreiteten Gefühl, dass es in Deutschland nicht mehr gerecht zugehe.
Die Volksparteien gehen geschwächt aus der Wahl hervor, obschon die Unionsparteien an Zustimmung gewonnen haben. Politische Mehrheiten sind fragil, und die Parteien der politischen Mitte haben keine eigene verfassungsändernde Mehrheit. Das Wahlgesetz hat zu einer erheblichen Schieflage geführt, da strukturstarke Gebiete überdurchschnittlich oft keinen direkt gewählten Abgeordneten mehr in Berlin haben. Umso wichtiger ist es, die Wurzeln für den Zustrom der Wähler zu den Rändern in der Politik anzugehen sowie Zufriedenheit und Zuversicht wieder zu stärken.
Viola Neu, geboren 1964 in Ludwigshafen am Rhein, promovierte Politikwissenschaftlerin, Stellvertretende Leiterin der Hauptabteilung Analyse und Beratung, Leiterin Wahl- und Sozialforschung, Konrad-Adenauer-Stiftung.