Asset-Herausgeber

von Adolf Muschg

Wer an sie glaubt, hat selber schuld

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Nicht nur Bücher, auch Verfassungen haben ihre Schicksale, und wer sich selbst Verfasser nennt, begegnet der großartigen Verwandtschaft mit Vorbehalten. Zwar hat der Feingeist Horaz seinen Gedichten eine Existenz „aere perennius“ („dauernder als Erz“) versprochen, aber gewiss nicht gemeint, dass sie dafür härter sein müssten als Erz, sondern eben kein Erz; vielmehr aus einem Stoff, der keine Liquidation scheuen muss, weil er schon aus Flüssigkeit besteht – wie jener Tropfen, der auf die Dauer jeden Stein höhlt, ebenfalls den Stein, in den Verfassungen dieser Welt gemeißelt sein wollen, denn auch diese Welt ist beweglich. Normen, die zeitlose Geltung für sich beanspruchen, sind nur Momentaufnahmen der menschlichen Geschichte: Denkmäler einer Bewegung, die eine siegreiche Partei an einem bestimmten Punkt für immer festgehalten wünschte: „Verweile doch, du bist so wahr!“ Aber für die Herstellung dieses schönen Scheins müssen Verfassungsschmiede sogar die Herkunft der Materie ignorieren, die sie bearbeiten, auch wenn sie glauben, das Feuer dazu selbst entfacht zu haben: etwa durch eine Revolution, den Umsturz alter Verhältnisse. Ihr Werk steht immer nur um den Preis, desto älter auszusehen, je mehr es sich „zum Starren waffnet“, um auf seinem unfesten Boden immer mehr in Schieflage zu geraten – bis es fällt und von ihm wieder eingeschmolzen wird.

Rätselhafte Merksätze

Denn das Fundament aller geschriebenen Verfassungen, die (vornehm gesprochen) condition humaine, mag noch so träge scheinen: Ihre Widersprüche, zugleich ihre beste Komponente, machen sie hoch labil, und die gewaltige Selbst-Erhebung des „nackten Affen“ über den Rest der Natur verlangt ihren Preis. Man emanzipiert sich vom Programm der Instinkte nicht, ohne sein Gleichgewicht aufs Spiel zu setzen. Die Merksätze für sich selbst, die Homo, genannt sapiens, einst dem Apollotempel in Delphi eingeschrieben hat, sind für ihn selbst rätselhaft oder unerfüllbar geblieben: „Erkenne dich selbst“, „Nichts im Überfluss“ – und erst recht das lapidare: „Sei“. Werkzeug, die technische Über-Kompensation seiner natürlichen Ausstattung, hat ihm eine gottähnliche Herrschaft über die Natur verschafft – ausgenommen über seine eigene. So weiß er nicht einmal, ob er an seiner Evolution arbeitet oder ihre Fallhöhe steigert; ob eine Künstliche Intelligenz seine Art salviert – oder erübrigt.

Solange Menschen für ihre natürliche Verfassung an einen göttlichen Urheber und Lenker glauben konnten, blieb ihnen erspart, sich selbsttätig als Gesellschaft zu verfassen und auf rechtsgültige Gesetze zu einigen. Für diesen Bedarf kam eine bevollmächtigte Kaste auf, die in geschichtlicher Zeit jene heiligen Schriften verwaltete, in denen ein allerhöchster Wille verbrieft war und in Form von Geboten befolgt werden wollte. Erst als in einem anfangs (und eigentlich bis heute) kleinen, jedoch vorübergehend maßgeblichen Teil der Welt die absolute Vormacht eines Gottes auf eine repräsentative oder symbolische geschrumpft war, sprangen weltliche Verfassungsgeber ein, um die Lücke mit einem selbst bestimmten Regelwerk zu füllen. Das obere Leitende, das nicht mehr feststand, musste jetzt in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen einer realen Gesellschaft statuiert werden, die aber noch immer höherer Legitimation bedurfte.

Streit um Werte

Jetzt erst schlug die Stunde säkularer Verfassungen und damit des Streits um Werte, die versprachen, der ordnenden Gewalt, die jedem Gemeinwesen unentbehrlich ist, die rechte Stelle anzuweisen. Ob man sie durch Teilung beschränkte oder für berechtigte Bürger reservierte: Sie sollte rechenschaftspflichtig gemacht werden, und der Wille, der ihr zugrunde lag, mit dem Interesse der Betroffenen vereinbar. Dafür stand – als Nachfolger heiliger Schriften – auch ein Grundgesetz. Es hatte zugleich die Handlungsfähigkeit eines staatlichen Ganzen zu sichern und die Maximen dafür verhandelbar zu machen – in Grenzen, über die sich wiederum die Begrenzten einig werden mussten.

Glück und Kreuz einer Verfassung

Die Selbstlegitimation, noch mehr: die Praxis eines verfassten Gemeinwesens war anspruchsvoll und auch so intendiert. Denn von Natur ist die neue Hauptperson, das Individuum, weder geneigt noch dafür geschaffen, eine Grenze seiner Freiheit hinzunehmen, zu ertragen, geschweige denn, ihr zuzustimmen. Aber so musste es, idealiter, sein und gelten. Eine als „menschenwürdig“ gedachte Verfassung verlangt von ihren Verfassten die Quadratur des Kreises. Die Frage blieb nur: War sie auch praktizierbar?

Wenn aber das Glück einer Verfassung von ihrem Kreuz nicht zu trennen ist, liegt es nur allzu nahe, für ihren Bestand doch wieder den Schutz einer höheren Macht anzurufen (auf meine Erfahrung damit komme ich zurück).

Eine zivilisierte Gesellschaft ist auch ohne Verfassung möglich. England hat bis heute keine: Es setzt auf die Weisheit historischer Rechtsprechung, leitet aus beispielhaften Verträgen wie dem Habeas Corpus eine präjudizielle Verbindlichkeit für alle weiteren Fälle ab und stellt ihre Anwendung einer ebenso beispielgebenden Körperschaft anheim, dem Parlament, dessen Mitglieder nicht das Volk vertreten, sondern ihren Wahlkreis. Die Tragikomödie um den Brexit führt vor, was dem Majorzsystem bei einem Fehltritt, einer direkten Volksbefragung geschehen kann: Es wird unberechenbar und chaotisch.

Eine Verfassung ist nur ausnahmsweise direkt-demokratisch, weil sie ein größeres Land unregierbar machen und/oder schrecklichen Vereinfachern und im nächsten Schritt der Diktatur ausliefern würde, also der Abschaffung der Freiheitsrechte für alle. Davor bewahrt sich die kleine Schweiz durch die noch kleinere Kammerung durch ihre Kantone, die Doppelspurigkeit des Parlaments und das Gebot der Neutralität. Das waren bisher Sicherungen der direkten Demokratie auch gegen ihre eigenen Folgen. Dass das ausbalancierte System die Handlungsfähigkeit des Staats nicht nur gewährleistet, sondern auch empfindlich behindert, ist keine neue Entdeckung, aber zurzeit eine eher peinliche. Die Schweiz hat sieben Bundesräte, aber ihr fehlt eine Regierung.

Der Osten: Nonvaleur des Westens?

Die Verfassung der vereinigten Bundesrepublik ist immer noch ein „Grundgesetz“ (GG), obwohl es für den Fall, der wider alle Erwartung eingetreten ist, die eigene Rangerhöhung ausdrücklich vorgemerkt hatte, verbunden mit einer allgemeinen Volksabstimmung. Dass die niederschwellige „Beitritts“-Regelung (Artikel 23 GG) ihren historischen Dienst speditiver und geräuschloser versah, war also nicht ganz verfassungsmäßig, aber praktisch und vielleicht unvermeidlich angesichts der Ungleichheit der beteiligten Partner, was ihre demokratische Legitimation, wirtschaftliche Stärke und kulturelle Anziehungskraft betraf.

Aber auch die niedriggelegte Schwelle des „Beitritts“ war denn doch nicht nur als Einbahnstraße zur Korrektur und Bevormundung des irregeführten durch das wahre Deutschland zu verstehen. Artikel 23 GG hat eine europapolitische Dimension, welche die starke Seite zur Partnerschaft mit der schwachen verpflichtete. Im beigetretenen Teil Deutschlands aber – vae victis! – wuchs der Eindruck, dass ihr der westliche Vormund den Respekt dafür schuldig blieb, dass sie zuerst die Last der Teilung allein getragen und später die Voraussetzungen für die ersehnte Einheit selbst geschaffen hatte, unter Einsatz von Leib und Leben. Und nun, da die Mauer gefallen war, wurde den neuen Bundesländern auch dafür noch ein hoher Preis abgefordert. So dringend die Ausgleichsleistungen waren, die der große Bruder jetzt springen ließ: Mit jeder Investition bewies er auch, dass er die bisherige Errungenschaft des Ostens – und damit die Lebensleistung der Ossis – als Nonvaleur betrachtete.

Wer sich enteignet fühlt, braucht Feinde

War es ein Wunder, dass diese Alternative eine neue Flucht auslöste, die dieses Mal nicht verboten, sondern notwendig war, wenn sich Junge gewinnbringend positionieren wollten? Und dass denen, die zurückblieben (in jedem Sinn des Wortes) an diesem Punkt auch die Selbstachtung abhandenkam, bis sie endlich in Wut umschlug und sich mit Gleichgesinnten, weil gleichermaßen Enttäuschten, zur „Alternative für Deutschland“ zusammenschloss?

Wer sich enteignet fühlt, braucht Feinde, die ihm wenigstens eine Identität besorgen, und sie waren bald gefunden: die Besserwessis mit „Buschzulage“; die „da oben“, die das Leid gewöhnlicher Bürger nicht kümmert, die „in Berlin“, und die „in Brüssel“ erst recht. Man kann diese nationale Vereinigung von Deutschen als Folge, Schatten oder Karikatur der deutschen Einheit sehen; jedenfalls als Beweis, wie viel diese zu wünschen übrig ließ – auch an jener Menschenwürde, die das Grundgesetz in seinem Artikel 1 für unantastbar erklärt.

Mit Stammesgeschrei längst nicht mehr allein

Inzwischen sind die Abgehängten der neuen Bundesländer mit ihrem Stammesgeschrei längst nicht mehr allein, auch nicht in Deutschland. Die Mauern und Zäune, die einmal die Republikflucht verhindern sollten, sind weltweit wieder gefragt, um „Flüchtlingsströme“ auszusperren. Millionen, die ihr Land verlassen, um ihr Leben zu retten oder ein besseres zu suchen, stoßen in den Ländern ihrer Sehnsucht überall auf Feinde – als kämen sie nur, um Einheimischen zu nehmen, was diese selbst vermissen: Sicherheit und ein gutes Leben. Darum ist der Widerstand gegen Flüchtlinge so unüberwindlich, die Weigerung, in ihnen seinesgleichen zu erkennen, unbelehrbar. Wenn schon Opfer: Die sind wir. Aber zuerst sind wir jetzt Deutsche (wahre Deutsche, Franzosen, Italiener und so weiter), Fremde brauchen wir nicht auch noch.

Das alt-rechte Stammesgefühl, die national gesonnene Internationale der Enteigneten, ist das giftige Abfallprodukt jener „Globalisierung“, die sich immer noch als Erfolgsgeschichte versteht und als alternativlos. Der wahre Gewinner des Kalten Kriegs, der freie Kapitalverkehr, tritt als beinharter Sachzwang auf. Anonym, wie er ist, nennt er sich einfach „Wachstum“ und bestimmt, ohne Rücksicht auf Verluste (anderer), was sich rechnet und was nicht. Da war sogar die DDR noch besser: Arbeit für alle, Kitas, welche Frauen verpflichteten, berufstätig zu sein, man war miteinander stallwarm verbunden, sogar im Meckern. Zur DDR-Nostalgie reicht das noch nicht, aber ein gutes Stück Selbstgerechtigkeit hat man sich sauer genug verdient. Jetzt will man, jedenfalls gegen Flüchtlinge, die Grenzen zurück, die der globalisierte Profit nicht kennen will, auch nicht die Kapazitätsgrenzen unseres einzigen Planeten. Wenn diese antastbar sind, kommt mehr an die Kasse als die Menschenwürde – aber diese zuerst. Grundgesetz oder Verfassung: Das macht dann keinen Unterschied mehr, verglichen mit den weltweit himmelschreienden Unterschieden seiner Anwendung.

Menschenwürde – eine schöne Lüge

Lügen gibt es vieler Sorten; „die Würde des Menschen ist unantastbar“ ist wenigstens eine schöne Lüge, andeutungsweise sogar eine fromme, immerhin ein Statement gegen unmenschliche Tatsachen. Darin spukt Immanuel Kants kategorischer Imperativ nach: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Dafür verlangt der Philosoph auch noch „Interesselosigkeit“ – leider kein brauchbares Geschäftsmodell. Aber wollen und auch sollen darf man es immerhin.

Die Schweiz hat immer noch eine Verfassung, und in den 1970er-Jahren sollte sie total revidiert werden. Ich kam zu der Ehre, in der Kommission des Justizministers Kurt Furgler zu sitzen, neben Rechtsgelehrten und Regierungsräten. In der Präambel der ersten Bundesverfassung von 1848 gab noch nicht Menschenwürde den Ton an, sondern Gott in Person. Inzwischen nahmen Ihn nur noch die franco-spanische und die irische Verfassung für sich in Anspruch. In unserer Kommission waren inzwischen auch fromme Katholiken empfindlich für die Kritik, ein Verfassungsentwurf könne nicht zugleich die Glaubens- und Gewissensfreiheit schützen und den Gott der Christen darüber allein wachen lassen. Als rhetorische Garnitur aber kam Er für Reformierte noch weniger in Betracht als für Agnostiker und Atheisten. Der Vorschlag, Ihm wenigstens das Beiwort „des Allmächtigen“ zu ersparen, scheiterte an der Entdeckung, dass „nom de Dieu“ in der zweiten Landessprache als Fluch herausgekommen wäre.

Ich gehörte zur Partei der ersatzlosen Streicher, blieb bei der Schlussabstimmung aber in der Minderheit. Wenigstens als Garant von Tradition sollte dem Land ein allmächtiger Gott erhalten bleiben. Dafür erhielt ich den Auftrag, den längeren Teil der Präambel als säkular begründeten Vorschlag zur Güte zu formulieren.

Eine Fiebernacht im Hotel Cucagna („Schlaraffenland“) zu Disentis gab mir denn auch allseits wohlgefällige Sätze ein, wie „daß frei nur bleibt, wer seine Freiheit gebraucht“, oder „daß die Stärke des Volks sich mißt am Wohl der Schwachen“.

Inzwischen ist das Hotel aufgelassen, und unser Verfassungsentwurf auch. Der anerkannte „Wurf“ wurde von Verbänden und Parteien schon als solcher nicht goutiert. Wir bekamen Gottfried Kellers Einwand (1864) zu spüren: „Eine Verfassung ist keine stilistische Examensarbeit. Die sogenannten logischen, schönen, philosophischen Verfassungen haben sich nie eines langen Lebens erfreut. Wäre mit solchen geholfen, so würden die überlebten Republiken noch da sein, die sich einst bei Rousseau Verfassungen bestellten, weil sie kein Volk hatten, in welchem die wahren Verfassungen latent sind bis zum letzten Augenblick. Uns scheinen jene Verfassungen die schönsten zu sein, in welchen ohne Rücksicht auf Stil und Symmetrie ein Concretum, ein errungenes Recht neben dem andern liegt, wie die harten glänzenden Körner im Granit, und welche zugleich die klarste Geschichte ihrer selbst sind.“

Ob die ausdrücklich nur „nachgeführte“ Version, die seither Parlament und Volksabstimmung überstanden hat, Kellers Kriterien besser erfüllt, sei dahingestellt. Jedenfalls hat „Gott der Allmächtige“ darin seinen Platz behalten. Schließlich hat ihn auch Keller öfter zitiert, ohne an ihn zu glauben. Tatsächlich könnten ja die Sündenfälle der Menschengesellschaft einen gnädigen Gott nötiger haben als Er sie. Die Frage ist dann nur, ob ihm der Ernst, mit dem wir ihn fassen (oder auch lassen), genugtäte.

Um den Primat der Menschenwürde nicht geradezu einen Schwindel zu nennen, bleibt der Ausweg, ihn kulturell zu relativieren – auch wenn gerade dies dem normativen Anspruch einer Verfassung zuwiderläuft. Doch hören wir immer noch ungern, dass Normen, die wir, da sie schwer errungen sind, auch für universal und alleindiskutabel halten, das Werk weißer, alter, jüdisch-christlich und kolonialistisch geprägter Männer sein sollen, die schon aus kosmopolitischem Anstand keinen Anspruch auf privilegierten Zugang zur Wahrheit haben.

„Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall.“

Wie unser Katalog persönlicher Freiheitsrechte ohne das Gegengewicht sozialer Pflichten auskommt, wird man in der Tat einem konfuzianisch geprägten Weltbürger nicht plausibel machen können – außer man gestehe gelassen zu, dass es in jedem System darum geht, kostspielige Pflichten in der Praxis möglichst zu umgehen. Vom pursuit of happiness der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung hat ein Präsident Donald Trump völlig andere Vorstellungen als ihr Verfasser Thomas Jefferson, und mit denjenigen eines gläubigen Hindu sind beide gleichermaßen unvereinbar. Das heißt: Der Verkehr funktioniert nur so lange, wie seine Teilnehmer den normativen Gehalt ihrer Regeln bei Bedarf hintansetzen.

Was Verfassungen zu ordnen suchen, ist eine gründlich widersprüchliche Materie, und je klarer ihre Sprache, desto größer die kleinen Lücken und wahren Abgründe, die sich in der Sache auftun. Denn diese Sache ist der Mensch im Umgang mit (keineswegs nur) seinesgleichen, und da gilt der Satz des alten Goethe: „Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall.“

Diesem Satz getreu hätte der Dichter Gretchens 1783 als Minister in Weimar sein Plazet zur Hinrichtung der armen Kindsmörderin Johanne Catharina Höhn unter keinen Umständen geben dürfen. Und doch hat er es getan. Weil es das geltende Recht verlangte, auch wenn das „peinliche Halsgericht“ aus der Zeit Karls V. stammte? Oder weil man auch vom größten Dichter nicht verlangen kann, dass er als Mensch so gut sei wie sein Wort?

Gnade üben – jetzt und hier

Ich denke, dass er seinem jungen Fürsten (der zur Begnadigung neigte) einen Konflikt abnehmen wollte, ohne den sich dieser gar nicht an seine Geheimen Räte gewandt hätte. Er neigte immer wieder zu impulsiven, für die Politik fatalen Sprüngen – und von Goethe wusste er, dass der eine Ungerechtigkeit der Unordnung allemal vorziehen würde. Denn wenn das „Allgemeine der einzelne Fall“ ist, trifft auch der Gegen-Satz zu: „Was ist das Besondere? Millionen Fälle.“ Da kann Faust plötzlich wie Mephisto klingen: „Sie ist die erste nicht.“ Das klingt zynisch, aber es ist mindestens so gültig wie jede Statistik. Es entschuldigt das Todesurteil nicht, denn es ist durch nichts zu entschuldigen.

Schon bei Wolfram von Eschenbach steht der Satz: „Die mennescheit hât wilden art.“ Und diese Wildheit a priori lässt so manchen, der ihr abhelfen will, barbarisch aussehen. Darum muss das Beste an einer Verfassung ungeschrieben bleiben. Es ist schon viel, wenn wir die offensichtlichen Grenzen jeder geschriebenen Verfassung zwar zu unserem Vorteil nützen, aber ohne Schadenfreude und ohne Zynismus, und sie nicht als Pharisäer hüten, sondern als Zöllner, mit dem Stoßgebet: „Gott sei mir Sünder gnädig.“

Dieser Gott ist von keiner Verfassung in Anspruch zu nehmen. Er ist ihren Organen darum nicht weniger nötig, auch wenn wir ihn uns wohl mit dem Gesicht eines Hermes vorstellen müssen. Der war zwar der Gott der Händler und Diebe, aber auch der guten Wege, der, soviel wir wissen, Spaß verstand im Verkehr von Hüben und Drüben – nicht nur am Ladentisch, sondern auch am Strom der Unterwelt, der die Lebenden von den Toten scheidet –, soviel wir wissen: definitiv. Aber wir wissen nicht viel. Das ist auch eine Gnade – das stillschweigende Gegen-Spiel jener Würde, die wir in die Verfassung gehievt haben. Diese Gnade aber, als menschliche Grazie verstanden, bleibt unverfügbar, doch beweglich, unter allen Umständen. Keine Verfassung kann sie garantieren, kein Gericht muss über sie wachen, keine Moral sie beurteilen. Darum braucht kein Mensch auf sie zu verzichten oder auch nur zu warten. Denn er selbst kann sie üben, jetzt und hier.

Adolf Muschg, geboren 1934 in Zollikon im Kanton Zürich, Schweizer Dichter, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler.

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