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Was es uns kostet, wenn wir nicht europäisch handeln

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Erinnert sich noch jemand an die Vorbereitungen zur Einführung des Europäischen Binnenmarkts 1992? Grundlage dafür war der „Cecchini-Bericht“, eine umfassende Analyse der wirtschaftlichen Folgen eines einheitlichen Marktes für die Bürger von damals noch zwölf Mitgliedsstaaten, der insbesondere die Kosten der europäischen Marktfragmentierung ermittelte. Das entscheidende Argument der Studie war die enorme Kostensenkung im Warenverkehr, die zu erreichen sei, wenn einheitliche europäische Regeln an die Stelle von zwölf nationalen Regelungssystemen träten. Unterschiedliche Regelungen schaffen immense Kosten für die Verbraucher – die Kosten von Nicht-Europa.

Dieser methodische Ansatz ist in den vergangenen Jahren bedauerlicherweise verloren gegangen. Heute werden die ökonomischen, sozialen und ökologischen Folgen europäischer Regelungen genauestens beziffert, aber die Kosten von Inaktivität und fortgesetzter Zersplitterung bleiben außen vor. In Analogie zum Autofahren könnte man sagen: Es gibt europäische Bremspedale, aber kein Pedal zur Beschleunigung und zum Gasgeben.

Studien des Europäischen Parlaments, die zwölf Sach- und Arbeitsbereiche umfassen, haben bei vorsichtiger Schätzung Kooperations- und Einsparungspotenziale in Höhe von über 800 Milliarden Euro jährlich identifiziert. Selbst wenn diese konkrete Zahl in Zweifel gezogen werden sollte, mehrere Hundert Milliarden Euro möglicher Entlastung im Jahr sind es auf jeden Fall.

Bedeutende Vorteile europäischer Kooperation drohen also in sträflicher Weise ungenutzt zu bleiben. Dabei werden Impulse für Wachstum und die Verbesserung der Lebensverhältnisse gerade auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten dringend gebraucht. Man denke nur an die Einsparmöglichkeiten bei öffentlichen Beschaffungen, die im europäischen Rahmen weitaus kostengünstiger organisiert werden könnten. Ein eindeutiger Fall von Verschwendung durch unterlassene Zusammenarbeit ist die Fortexistenz nationaler Beschaffungsmaßnahmen im militärischen Bereich. Sie führt zu hohen Zusatzkosten – bei gleichzeitiger Verringerung unserer Verteidigungskapazität.

 

Vorteile eines Methodenwechsels

Es ist an der Zeit für ein Revival der Methode „Kosten von Nicht-Europa“. Dieser fundamentale Methodenwechsel bietet nicht zuletzt eine Reihe von systematischen Vorteilen.

Erstens: Die Operationalisierung von Subsidiarität. Das in den Europäischen Verträgen verankerte Subsidiaritätsprinzip hat in der Praxis noch keine Form der Operationalisierung gefunden. Es gibt zwar ein Verfahren, mit dessen Hilfe nationale Parlamente einen Subsidiaritätsvorbehalt anmelden können. Auf welcher Grundlage aber entschieden werden kann, ob tatsächlich ein Bruch des Subsidiaritätsprinzips vorliegt, bleibt im Dunkeln und ist letztlich einem rein politischen Prozess überlassen.

Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass nur diejenigen Aufgaben einer übergeordneten Ebene übertragen werden sollen, die dort „besser“ gelöst werden können. Aber auch: Was auf einer übergeordneten Ebene besser gelöst werden kann, soll auf diese übertragen werden. Die systematische Prüfung der Kosten von Nicht-Europa bietet genau das: die quantifizierte Prüfung, ob eine Aufgabe besser auf der europäischen Ebene gelöst werden kann oder nicht.

Zweitens: Wiederherstellung eines positiven Grundkonsenses zu Europa. Beruhte das Arbeitsprogramm der Europäischen Union auf der Analyse klar identifizierter Integrationsvorteile, ließe sich ein Grundkonsens über die Notwendigkeit europäischer Integration wiederherstellen, ohne systematisch auf Meta-Argumente wie Krieg und Frieden zurückgreifen zu müssen.

Natürlich werden weiterhin die Vorteile von europäischen Integrationsschritten zwischen Nationen und sozialen Gruppen unterschiedlich verteilt sein. Die politische Auseinandersetzung um Verteilungsgerechtigkeit ist also nicht aufgehoben. Aber die Identifizierung eines globalen Vorteils ist nicht das Ende der Debatte. Die Chance auf Akzeptanz europäischer Entscheidungen dürfte trotzdem erheblich höher sein.

Drittens: Identifizierung von Prioritäten. Die Europäische Kommission macht im Laufe einer Legislaturperiode Hunderte von Gesetzgebungsvorschlägen. Was ist wirklich wichtig? Worauf soll die Arbeitszeit des Gesetzgebers konzentriert werden? Welche Gesetzesvorhaben müssen in die nächste Legislaturperiode verschoben werden? Das ist kein abstraktes Problem. Aktuell ist sichtbar, dass eine große Anzahl von Gesetzesvorhaben in dieser Legislaturperiode nicht mehr bewältigt werden kann. Welche sollen also Vorrang haben?

Rational wäre, sich auf die Gesetzesvorhaben zu konzentrieren, die die größten Kosten der Nicht-Integration mit sich bringen. Das Legislativpaket für den Weiterbau eines gemeinsamen Dienstleistungsmarkts mit einem Mehrwert von Hunderten Milliarden Euro muss selbstverständlich vorrangig behandelt werden. Eine engere Kooperation im Bereich gemeinsamer Normen und eines Binnenmarkts für Rüstungsgüter im Umfang von über zwanzig Milliarden Euro jährlich verdient ebenfalls baldige Beachtung. Aber es gibt auch viele Vorhaben, die in Zahlen kaum messbar sind. Die im Parlament entwickelte Karte über die „Kosten Nicht-Europas“ macht diese Unterschiede grafisch sichtbar. All das schließt im Übrigen soziale und ökologische Maßnahmen nicht aus, sondern sie bekommen mehr Beachtung, wie sich am Beispiel „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ demonstrieren lässt.

Nicht zuletzt erhöht die gemeinsame Methode auch die Chancen einer Einigung von Parlament, Rat und Kommission auf ein gemeinsames Arbeitsprogramm für die neue Legislaturperiode. Das Parlament ist vorbereitet.

 

Milliardenschweres Potenzial

Habe ich die Leserinnen und Leser mit einem administrativ-bürokratischen Aufsatz belästigt? Nichts läge mir ferner. Die künftige Legitimation der Europäischen Union hängt zentral von ihrer Fähigkeit ab, „europäischen Mehrwert“ zu produzieren und das auch zu kommunizieren. Die vorgeschlagene Arbeitsmethode systematisiert diese Fähigkeit und wirkt darauf hin, ein Hunderte von Milliarden Euro schweres Kooperationspotenzial nicht brachliegen zu lassen. Darüber hinaus wird die Arbeit des Europäischen Parlaments transparenter, indem seine Vorhaben durch Analysen zum europäischen Mehrwert untermauert werden. Sie werden veröffentlicht und unterliegen damit auch der Kritik. Ob Themen auf nationaler oder europäischer Ebene behandelt werden sollen, würde mit dieser Methode dem Bereich der Ideologie entzogen und wäre Gegenstand einer rationalen Analyse.

 

Klaus Welle, geboren 1964 in Beelen, Kreis Warendorf, Generalsekretär des Europäischen Parlaments, Mitglied der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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