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Warum eine weitere Eskalation noch ausstehen könnte

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Vorsicht! Bilder sagen nichts. Kriegsbilder sagen noch weniger. Sie führen uns nicht zum Kern des Leidens. Das liegt auch daran, dass die meisten Berichterstatter vom Wesen des Krieges nichts und vom Guerillakrieg rein gar nichts verstehen. Sie urteilen vom Schein aufs Sein.

Das zeigten die meisten Bilder vom Gazakrieg: erschossene palästinensische Zivilisten. Vor allem Frauen und Kinder. Zu Recht sind die Zuschauer, sind „wir“ empört, denn jeder anständige Mensch empört sich über das Töten Unschuldiger. Wer ist schuld? Das aus den Bildern abgeleitete Urteil kommt schnell. „Israel“. Ja, das ist der Schein.

Das Sein, der wahre Kern ist ein anderer. Die meisten unschuldigen palästinensischen Zivilisten sind Opfer der palästinensischen Hamas.

Die Hamas ist militärisch, konventionell in diesem Krieg der kleine David, Israel ist militärisch der Riese Goliath. Militär gegen Militär wäre die Hamas sofort besiegt. Die Hamas hat keine Panzer, keine Flugzeuge, keine Raketenabwehr. Sie hat außer Raketen nur mehr oder weniger leichte Waffen.

Deshalb nutzt die Hamas, wie alle Davids gegen jeden Goliath dieser Welt die Guerilla-Strategie und erweitert sie um die Strategie des Terrors. Guerillas zielen aufs Militär, Terroristen aufs Zivil des Feindes. Kein Guerilla oder Terrorist kann seinen Feind, das überlegene feindliche Militär, besiegen. Aber Guerillas und Terroristen können – und haben stets – den Preis für das feindliche Militär und Zivil in die Höhe getrieben, so sehr genervt, entnervt und zermürbt, dass kaum je Guerillas und Terroristen militärisch besiegt werden konnten. Es sei denn, das feindliche Militär hat die feindliche Guerilla sowie das feindliche Zivil vernichtet. Gaius Julius Caesar hat das mit den Galliern vor rund zweitausend Jahren gemacht. Vor wenigen Jahren erst ahmte das Militär von Sri Lanka diese Vernichtungsstrategie nach, und zwar gegen die „Tamil Tigers“, also die tamilischen Guerillas und Zivilisten.

 

Das Gesetz des Guerillakrieges

Guerilla-Strategie bedeutet an allen Orten dieser Welt und in allen Epochen der Weltgeschichte: Die Guerillas nutzen – man lese den Theoretiker und (!) Praktiker des Guerillakrieges Mao Zedong – ihre eigene Zivilbevölkerung als Schutzschild. Das sieht so aus: Raketen und andere Waffen werden aus Kindergärten, Krankenhäusern oder Moscheen auf israelische Zivilisten gefeuert. Dort befinden sich auch die Eingänge zu den nach Israel führenden Tunneln. Das wollen die Ärzte und Patienten so wenig wie die Kinder und Kindergärtner, wahrscheinlich auch nicht die Geistlichen in den Moscheen. Doch sie werden nicht gefragt. Sie müssen sich den Guerillas fügen. Wenn sie sich nicht fügen, werden sie ermordet. Nun schießen die Guerillas auch auf das feindliche Militär. So ist das in jedem Guerillakrieg. Das ist sozusagen das Gesetz des Guerillakrieges. Anders geht es nicht. So ist es also auch im Krieg zwischen der Hamas und Israel.

Das von Guerillas beschossene israelische Militär hat nun, wie jedes Militär, zwei Möglichkeiten: auf die Guerillas zurückschießen oder nicht. Wird nicht zurückgeschossen, geht der Beschuss auf israelisches Militär und Zivil weiter. Folglich wird zurückgeschossen. Das wiederum schafft von Israel, wie von jedem Goliath, politisch und psychologisch im wahrsten Sinne des Wortes verheerende Bilder. Abschreckende Bilder oder der Tod eigener Soldaten und Zivilisten. Das ist die Alternative, vor der Israel, wie jedes gegen Guerilla kämpfende Militär, steht. Im Klartext: Guerillas, also auch die Hamas, missbrauchen die eigene Zivilbevölkerung als Geisel. Auf diese Weise wird der militärisch Überlegene, hier Israels Soldaten und alle Bürger Israels, psychologisch und moralisch verunsichert. Die Guerilla aber, hier die Hamas, erobert durch die Schreckensbilder das Herz der fernsehenden Welt. Diese Bilder sind von hohem politischen Wert. Sie sind von der Hamas, wie von allen Guerillas zu allen Zeiten, gewollt. Das ist die Strategie der Guerillas. Sonst gehen auch sie unter. Sonst gäbe es keinen politischen Druck auf den Feind der Guerilla, also auf Israel.

Diejenigen, die die Bilder machen und kommentieren, also die Journalisten, werden somit, gewollt oder nicht, doch ahnungslos, weil kenntnislos, zum Instrument der Guerilla. Die Zuschauer verlassen sich – wie könnte es anders sein? – auf die Bilder und die Kommentare der Berichterstatter. Und fertig ist das Bild. Wir haben alles gesehen und nichts verstanden. Wir „haben Augen und sehen nichts“. Wir haben Ohren und verstehen nichts.

 

Von Schein und Sein

Dazu ein besonders krasses Beispiel aus dem jüngsten Gazakrieg: Drei am Strand spielende palästinensische Kinder wurden von Israels Militär getötet. Sie waren – wie könnte es anders sein? – völlig unschuldig, völlig unbeteiligt am Krieg. Unmoral total, denkt man aufgrund der Bilder sofort. Und sagt: „Israel handelt verbrecherisch.“ Stimmt das?

Jenseits von Unmoral total war diese Tötung ein Irrtum des israelischen Militärs. Das wurde zugegeben. Davon werden jedoch die Kinder nicht wieder lebendig.

Jenseits von Unmoral und Irrtum ist eine solche Tötung, weil zu Recht Empörung auslösend, ein katastrophaler politischer Fehler, und freiwillig begeht keiner Fehler. Wir fragen weiter: Warum ließen die Eltern ihre Kinder, mitten im Kampfgeschehen, am Strand spielen? Weil ihnen das Schicksal ihrer Kinder gleichgültig gewesen sein soll? Eine zynische und dumme und unrealistische Annahme.

Die Antwort ist einfach: Die palästinensischen Eltern waren sich sicher, dass Israel aus eben den genannten Gründen nicht auf palästinensische Zivilisten schießen würde. Wer hat sich hier aber diese Fragen jemals gestellt? Ich kenne niemand. Kein Wunder, denn jeder urteilt nach Bildern, vom Schein aufs Sein. So sind wir Menschen nun einmal. Gerade deshalb müssen wir regelrecht trainieren, nicht vom Schein aufs Sein zu schließen, vom Trugbild aufs Realbild. „Du sollst dir kein Bildnis machen.“ Das kennen wir aus dem Alten Testament. Dieses Erste der Zehn Gebote bezieht sich eben nicht nur auf Gott und den Menschen, sondern auch auf Menschen untereinander und übereinander.

Man muss sich fragen, ob der Schein das Sein zeigt. Nein, meistens nicht. Hier erst recht nicht, zumal die Tragödie des palästinensischen Volkes unter anderem darin besteht, dass seine Führung sich seit jeher, seit mehr als 100 Jahren, selten ums Wohl der Menschen sorgte. Präsident Abbas ist eine Ausnahme, die Hamas entspricht allerdings dieser tragischen Regel. Auch das kann man beweisen, wenn man sogar nur Bild zu Bild fügt. Israel rief Gaza-Zivilisten an und forderte sie auf, ihre Wohnhäuser und -regionen rechtzeitig zu verlassen. Sie würden dann oder dann angegriffen. Ergo flohen Tausende palästinensische Zivilisten. Nun aber rief die Hamasführung „ihre“ Zivilisten zurück und drohte Rückkehr-Unwilligen mit harten Strafen. Was blieb den Fliehenden anderes übrig, als umzukehren? Von dort feuerte die Hamas auf Israelis. Diese schossen zurück. Massenweise wurden palästinensische Zivilisten getötet.

 

Strategische Fehler der Hamas

Einen zweiten strategischen Fehler beging die Hamas. Sie glaubte und hoffte, Israels Raketenabwehr sei so unwirksam wie im Sommer 2006. Damals hatte die libanesische Schiitenmiliz Hisbollah Israels Städte mit Raketen getroffen und die Bevölkerung demoralisiert. In diesem Jahr machte Israels Raketenabwehr 90 Prozent der Hamasraketen unschädlich. Gleichzeitig wollte die Hamas durch ihre nach Israel führenden Tunnel das Zivil Israels überfallen. Die Hamaskämpfer erreichten Israels Zivilisten nicht, denn sie wurden rechtzeitig von israelischen Soldaten entdeckt.

Wenn das so weitergeht, haben die Palästinenser noch in 1.000 Jahren keinen eigenen Staat. Wo sollte der sein? Es heißt allgemein: im Westjordanland und im Gazastreifen. Doch in der Mitte läge Israel. Ein Korridor als Straße, Brücke oder Tunnel wäre ein Kunstprodukt, keine Dauerlösung. Es kommt dann entweder zur Trennung von Palästina, also des Westjordanlandes vom Gazastreifen, oder umgekehrt.

 

Jordanien wird Palästina

Was aber wird aus dem Königreich Jordanien? Rund 80 Prozent der Jordanier sind Palästinenser. Seit jeher betrachten sie Jordanien historisch und demografisch zu Recht als „Palästina“. Dazu wird es auch werden. Wann? Das ist offen, aber als Folge der seit 2011 tobenden Arabischen Revolutionen wohl zu erwarten. Diese sind noch längst nicht vorbei. Jordanien ist zudem als Staat seit Jahren überfordert. Wodurch? Durch Millionen Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien. Das bedeutet ein weiteres Zerbröseln Jordaniens. Jordanien wird also Palästina und sich als Palästina mit dem Gazastreifen sowie dem Westjordanland wiedervereinen.

Was wird aus der halben Million jüdischer Siedler im Westjordanland, also immerhin rund zwanzig Prozent der dort lebenden Menschen? Bestenfalls werden sie friedlich umgesiedelt, wahrscheinlich aber vertrieben, oder es kommt zum Krieg zwischen Palästina und Israel, das seine Bürger schützen wird, weil jeder Staat seine Bürger schützen muss. Andernfalls schafft er sich selbst ab.

Was passiert mit den palästinensischen Arabern in Israel? Sie stellen circa zwanzig Prozent der Staatsbürger des Landes. Wird es ihnen ergehen wie den jüdischen Siedlern, nur unter anderen Vorzeichen? Steht also das ganz große Blutvergießen noch aus? Ja – wenn weiter so gedacht und Politik und Analysen so gemacht werden wie bisher!


Michael Wolffsohn, geboren 1947 in Tel Aviv, Historiker an der Bundeswehruniversität München.


Zum Weiterlesen

Wolffsohn, Michael: Zum Weltfrieden. Ein politischer Versuch, dtv Verlag, München 2015.

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