Politserien erfreuen sich großer Beliebtheit. Das US-amerikanische House of Cards, das dänische Borgen oder die deutsche Miniserie Bonn. Alte Freunde, neue Feinde – so sehr sie sich unterscheiden, sie verbindet etwas Bemerkenswertes: Je komplexer die Charaktere gezeichnet sind, desto fesselnder wirken sie auf uns. Die fiktiven Personen des politischen Lebens bewegen sich zwischen Überzeugung und Pragmatismus, zwischen Prinzipientreue und Kompromiss, zwischen rationaler Abwägung und menschlicher Empfindung sowie Abgründen. Natürlich sind das überzeichnete Darstellungen. Doch gerade diese Vielschichtigkeit fasziniert uns. Paradoxerweise erwarten wir jedoch von der realen Politik oft das Gegenteil: Eindeutigkeit, wo tatsächlich Komplexität herrscht. Der öffentliche Diskurs neigt zur Vereinfachung. In sozialen Medien werden Politikerinnen und Politiker in Schubladen gesteckt, um sie leichter kritisieren zu können, oder Politikerinnen bedienen bewusst das, was Klicks bringt. Wir konsumieren Komplexität als Unterhaltung – und erwarten Schlichtheit als politische Wirklichkeit. Wir sehen bunt und urteilen schwarz-weiß. Diese Beobachtung führt direkt zum Kern unseres Zusammenlebens: Frieden und Streit stellen nur scheinbar ein Gegensatzpaar dar. Tatsächlich sind beide zentrale Elemente demokratischen Seins. Streit ist der Weg, friedliches Zusammenleben das Ziel. Das Grundgesetz gewährleistet, dass jede und jeder einen „Beitrag zum geistigen Meinungskampf“ leisten kann[1] – eine Formulierung, die zunächst nicht nach Frieden klingt, ihm aber dienen soll. Das Bundesverfassungsgericht hat dies einmal so beschrieben: Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Ansichten wirke integrierend und sei zugleich die wirksamste Waffe gegen totalitäre und menschenverachtende Ideologien.[2]
Meinungsfreiheit bewahrt uns vor den dunkelsten Zeiten. Sie umfasst nicht nur die eigene Meinung. Toleranz beginnt erst, wenn wir auch die Meinung ertragen, die wir überhaupt nicht teilen. Das Verb „tolerieren“ stammt vom lateinischen Wort tolerare ab und bedeutet genau das: ertragen, erdulden, aushalten.
Gerade im Streit der Argumente zeigt sich die Verbundenheit der Demokratinnen und Demokraten. Je härter sie in der Sache diskutieren, desto deutlicher wird, dass sie auf einem gemeinsamen Boden stehen – auf dem Fundament geteilter demokratischer Werte und Verfahren. So folgten der teilweise harten Debatte um die Ostverträge Anfang der 1970er-Jahre die höchsten Wahlbeteiligungen in der Geschichte der Bundesrepublik. Und auch die erbitterte Wiederbewaffnungsdebatte der 1950er-Jahre hat die westdeutsche Identität über Jahrzehnte geprägt.[3]
Gesellschaftlicher Frieden beruht nicht auf Eintracht, nicht auf gleicher Gesinnung und dem gleichen Bekenntnis in der Tagespolitik, sondern auf der Akzeptanz des Unterschiedlichen. Aufgabe der Demokratie ist nicht, Unterschiede zu beseitigen, sondern sie erträglich zu machen – und am Ende zu entscheiden. Auf diesem Weg muss man zuhören, was die andere Seite beizutragen hat, und ihr mit Ernsthaftigkeit begegnen. Das ist anstrengend. Aber diese Mühe kann uns niemand abnehmen. Abkürzungen sind im demokratischen Diskurs nicht zielführend.
Wann Polarisierung gefährlich wird
Genau hier liegt eine der großen Aufgaben. Denn schnelle Zustimmung gibt es meist für das Gegenteil. Digitale Filterblasen behindern den mühsamen Weg der Verständigung. Sie dienen weniger dem Meinungsaustausch als der Selbstvergewisserung.[4] Algorithmen verzerren die Wahrnehmung, Meinungen verfestigen sich, Diskussionen entgleisen. Sogenannte Fake News haben Durchschlagskraft. Wenn die gemeinsame Grundlage zerrinnt, lässt sich die Auseinandersetzung nicht mehr in geregelten Bahnen führen. Der Streit wird zum Wert an sich. Lautstärke wird zum Maßstab von Aufmerksamkeit und scheinbarem Rechthaben.
Andere Demokratien zeigen, wohin das führen kann. In Großbritannien hat die Brexit-Debatte tiefe Gräben hinterlassen, die bis heute nachwirken.[5] In den USA leben Republikaner und Demokraten in verschiedenen Realitäten. Sie verbindet nicht mehr der gemeinsame Diskurs, sondern die gegenseitige Abneigung – ein Phänomen, das Politikwissenschaftler als „affektive Polarisierung“ beschreiben.[6] In den vergangenen Jahren eskalierte es bis hin zu politischen Gewalttaten und Morden.[7]
Polarisierung ist kein Fremdkörper der Demokratie, sie gehört zu ihr. Gefährlich wird sie, wenn das Vertrauen in die Redlichkeit und Existenzberechtigung der anderen Seite schwindet – wenn nicht mehr das Argument, sondern das Obsiegen zählt und nur die Frage: „Bist Du dafür oder dagegen?“ Wenn die Bereitschaft schwindet, das Gegenüber überhaupt verstehen zu wollen.[8]
Digitale Empörung versus parlamentarische Debatte
Wir müssen anerkennen, dass digitale Empörung anderen Regeln folgt als die gesittete parlamentarische Debatte. Politik muss auch in digitalen Räumen Präsenz zeigen, doch für den gesellschaftlichen Fortschritt sollten wir diese Auseinandersetzungen nicht überbewerten. Filtert man Lautstärke und Emotionen aus digitalen Debatten heraus, bleibt oft wenig Substanzielles übrig. Eine Öffentlichkeit ist entstanden, die die leisen Zwischentöne nicht mehr versteht, bewusst missversteht und überinterpretiert.[9] Sie ist häufig lauter, wird aber selten klüger.
Diese Entwicklung ist bereits in den parlamentarischen Raum geschwappt. Verkommen Redebeiträge im Plenum zu Contentschnipseln für soziale Medien, stehen hinter lautstarken Auftritten am Saalmikrofon nur noch Klick- und Abonnementzahlen, verdrängt Performance die eigentliche Politik, dann verfehlen Parlamentarierinnen und Parlamentarier ihren Auftrag. Und wer Ordnungsrufe als Auszeichnungen betrachtet, hat die Funktion demokratischer Institutionen missverstanden. Ein Parlament kann den Ton für gesellschaftliche Debatten setzen. Wer die Polarisierung in der Gesellschaft beklagt, sollte sich fragen, welchen Anteil er oder sie selbst im Plenarsaal dazu beiträgt.
Wann wird eine Auseinandersetzung destruktiv? Wenn das Obsiegen wichtiger wird als das Gestalten. Die Philosophin Svenja Flaßpöhler skizzierte es drastisch: „Damit ein Streit nicht eskaliert und die Parteien unwiederbringlich auseinandertreibt, müssen die Bindungskräfte mächtiger sein als der Vernichtungsdrang.“[10]
Konstruktiver Streit braucht Regeln und Rituale. Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ist mehr als Bürokratie – sie bildet den Rahmen, in dem um die beste Lösung gerungen wird. Wer Sitzungen einberuft, wer wie lange sprechen darf, welche Rechte und Pflichten die Abgeordneten haben – all das steht im Vorfeld fest. All das zählt zu den Spielregeln der Demokratie. Es sind keine Nebensächlichkeiten. Sie gelten unabhängig von Person und Fraktion.
Hier zeigt sich die Verletzlichkeit des demokratischen Diskurses: Nehmen sich politische Kräfte vor, nicht mehr konstruktiv zu debattieren, überschreiten sie Grenzen bewusst und wollen die Institutionen verächtlich machen, dann wird die Offenheit für andere Meinungen zur Achillesferse der Demokratie.
Diese Entwicklung macht die Bedeutung institutioneller Wächter sichtbar. Das Bundestagspräsidium sorgt als unparteiischer Schiedsrichter dafür, dass die Regeln eingehalten werden, die konstruktiven Streit ermöglichen. Wenn parlamentarische Debatten zu Public-Relations-Veranstaltungen verkommen und Provokation wichtiger wird als Argumentation, dann muss die präsidiale Sitzungsleitung korrigierend eingreifen.
Aus Strenge erwächst Offenheit
Das mag merkwürdig erscheinen – ausgerechnet durch Regelsetzung und -durchsetzung soll die Lebendigkeit der Demokratie bewahrt werden? Aus Strenge erwächst Offenheit? Genauso ist es. Denn in der Spannung zwischen Regelwerk und freier Rede entfaltet sich demokratische Kultur. Regeln statt Willkür, Ordnung statt subjektiver Geschmack, Klarheit statt Moralisieren. Ebenso, wie grenzenlose Freiheit zu unbegrenzter Anarchie führt, schaffen klare Grenzen in dosierter Form auch die größte Freiheit für alle. Daher legen die Grundrechte unserer Verfassung dem Staat Grenzen auf – sie sind in erster Linie Abwehrrechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Staat. Sie bilden das Freiheitsfundament für uns alle.
Demokratie ist verletzlich, doch gerade das macht ihre Stärke aus. Sie zwingt uns zur Selbstreflexion. Wir können nur vorläufige Antworten geben, die bei besseren Argumenten revidiert werden müssen. Sie verlangt, anzuerkennen, dass unser Gegenüber möglicherweise recht hat.
Wer sich auf demokratische Auseinandersetzung einlässt, riskiert, überzeugt zu werden. Autoritäre Systeme kennen diese Unsicherheit nicht – dort steht das Ergebnis vorher fest. Demokratie lebt von Ergebnisoffenheit und vertraut dem Wettstreit der Argumente. Diese Offenheit benötigt Übung überall im gesellschaftlichen Leben. Wer immer recht behalten will, wird niemals ein guter Demokrat. Der wahre Kampfgeist der Demokratie liegt im Kampf um bessere Lösungen, nicht in der Demontage des Gegners.
Letztlich können jedoch auch die besten institutionellen Wächter nur den Rahmen schaffen. Den demokratischen Geist müssen wir als Gesellschaft selbst mit Leben füllen und wachhalten.
Wie die fiktiven Charaktere in den Politserien, die uns mit ihrer Vielschichtigkeit fesseln, müssen wir im echten Leben die Komplexität von Streit und Frieden annehmen. Nuancen, Widersprüche und schwierige Abwägungen gehören zum politischen Prozess dazu. Genau hier liegt der demokratische Kern: Weder „Spaltung“ noch „Zusammenhalt“ dürfen zum Selbstzweck werden. Totale Spaltung zerstört die Demokratie – aber ein Zusammenhalt um jeden Preis erstickt sie.[11] Echter demokratischer Zusammenhalt wächst aus dem Streit heraus, nicht aus seiner Vermeidung.
Das ist anstrengend und mühsam. Aber es ist auch die beste Form des Zusammenlebens, die Menschen je erfunden haben. Oder wie es Winston Churchill formuliert hat: Demokratie ist die schlechteste Staatsform – mit Ausnahme aller anderen. Und sie verdient es, dass wir um sie kämpfen – mit Worten, mit Argumenten, mit der ganzen Kraft unserer demokratischen Überzeugung.
Julia Klöckner, geboren 1972 in Bad Kreuznach, 2009 bis 2011 Parlamentarische Staatssekretärin, 2001 bis 2018 Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion Rheinland-Pfalz, 2012 bis 2022 Stellv. Bundesvorsitzende der CDU Deutschlands, 2018 bis 2022 Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, seit 2025 Präsidentin des Deutschen Bundestages.
[1] So im sogenannten „Lüth-Urteil“ vom 15.01.1958, BVerfGE 7, 198ff., RN 39, www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/1958/01/rs19580115_1bvr040051.html [letzter Zugriff: 14.10.2025].
[2] Bundesverfassungsgericht: „Das Grundgesetz geht davon aus, dass nur die ständige geistige Auseinandersetzung zwischen den einander begegnenden sozialen Kräften und Interessen, den politischen Ideen und damit auch den sie vertretenden Parteien der richtige Weg zur Bildung des Staatswillens ist […]. Es vertraut auf die Kraft dieser Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien […].“ Leitsätze zum Urteil des Zweiten Senats vom 17.01.2017, 2 BvB 1/13, www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/01/bs20170117_2bvb000113.html [letzter Zugriff: 14.10.2025].
[3] „Der Diskurs über die Wiederbewaffnung hat zu einer grundlegenden Rekonstruktion der nationalen Identität Westdeutschlands geführt. Dabei wurden Identitätselemente etabliert, die über Jahrzehnte Bestand haben sollten.“,Siehe Jörg Nadoll: „Der westdeutsche Diskurs zur Wiederbewaffnung (1950–1955)“, in: Britta Joerißen / Bernhard Stahl (Hrsg.): Europäische Außenpolitik und nationale Identität: Vergleichende Diskursund Verhaltensstudien zu Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien und den Niederlanden, Bonn 2003, S. 340–352, hier S. 352, www.sobi.uni-passau.de/fileadmin/dokumente/fakultaeten/sobi/lehrstuehle/stahl/Publikationen/Nadoll_Der_westdeutsche_Diskurs_zur_Wiederbewaffnung.pdf [letzter Zugriff: 14.10.2025].
[4] Vgl. auch im Folgenden Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste: „Echokammern“ und „Filterblasen“ in digitalen Medien, WD 10 – 3000 – 007/22, 21.03.2022, S. 11 ff., www.bundestag.de/resource/blob/898208/396d70db93fbc68bca40726b4d5308db/WD-10-007-22-pdf-data.pdf [letzter Zugriff: 14.10.2025].
[5] Nicolai von Odarza: „Vom Brexit zum Bregret? Britische Wirtschaft und Politik drei Jahre nach dem EU-Austritt“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 73. Jg., 12-13/2023, 20.03.2023, www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/vereinigtes-koenigreich-2023/519168/vom-brexit-zum-bregret/ [letzter Zugriff: 14.10.2025].
[6] Torben Lütjen: „Die amerikanische Lektion. Wie Polarisierung der Demokratie schaden kann“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 71. Jg., 17-18/2021, 26.04.2021, www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/usa-2021/331736/die-amerikanische-lektion/ [letzter Zugriff: 14.10.2025].
[7] Zu nennen wären hier der Anschlag auf den Ehemann von Nancy Pelosi, siehe „Lebenslange Haft nach Angriff auf Ehemann von Nancy Pelosi“, in: Die Zeit, 29.10.2024, www.zeit.de/politik/ausland/2024-10/nancy-pelosi-ehemann-paul-pelosi-usa-lebenslange-haft-ueberfall-hammer-gericht-kalifornien; die Mordanschläge auf die demokratische Abgeordnete Melissa Hortman, siehe „Verdächtiger nach Attentaten auf US-Politiker festgenommen“, in: Focus, 16.06.2025, www.focus.de/politik/ausland/politisch-motiviertes-attentat-demokratische-us-politikerin-und-ehemann-erschossen-senator-schwerverletzt_e20d87d3-8451-4b47-ae98-eb620625a2b5.html; den Trump-nahen Influencer Charlie Kirk, siehe Klaus Brinkbäumer / Rieke Havertz: „Das Attentat auf Charlie Kirk und die Spirale politischer Gewalt“, in: Die Zeit, 11.09.2025, www.zeit.de/politik/2025-09/politische-gewalt-usa-charlie-kirk-attentat-ok-america [letzte Zugriff jeweils: 14.10.2025].
[8] Arnd Pollmann: „Der Wille zum Missverständnis“, in: Deutschlandfunk Kultur, 30.08.2020, www.deutschlandfunkkultur.de/verrohte-gespraechskultur-der-wille-zum-missverstaendnis-100.html [letzter Zugriff: 14.10.2025].
[9] Ebd.
[10] Svenja Flaßpöhler: Streiten, Berlin 2024, S. 22.
[11] Vgl. hierzu auch Jan-Werner Müller: „Verlieren ist auch eine Chance. Konflikte in Demokratien“, in: Die Zeit, 23.08.2023, www.zeit.de/2023/36/konflikte-demokratien-spaltung-zusammenhalt [letzter Zugriff: 14.10.2025].