Asset-Herausgeber

von Sabine Walper

Die Situation Jugendlicher in der Coronakrise

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Die COVID-19-Pandemie hat das Familienleben und die Alltagserfahrungen junger Menschen dramatisch verändert. Schulisches Lernen musste sich im Eiltempo digitalisieren und angesichts der Schulschließungen in das eigene Zimmer verlagern. Persönliche Kontakte wurden drastisch zurückgefahren. Wer eine Berufsausbildung oder ein Studium an einem anderen Ort beginnen wollte, konnte seine neue „Peer Group“ zunächst nur virtuell kennenlernen. Nicht wenige zogen zurück in den elterlichen Haushalt, um den Lockdown nicht allein durchstehen zu müssen.

Die Situation Jugendlicher in der Corona-Pandemie blieb lange im toten Winkel der öffentlichen Aufmerksamkeit. Während die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise rasch ins Blickfeld gerieten, wurde die Situation von Eltern, Kindern und Jugendlichen erst mit Verzögerung aufgegriffen. Nach den prominent verhandelten Fragen des schulischen Lernens werden allmählich auch der veränderte Alltag, das Fehlen sozialer Kontakte und deren Bedeutung für Kinder und Jugendliche thematisiert.

Der Erkenntnisstand zur Situation Jugendlicher in der Corona-Pandemie ist noch begrenzt. Umfangreiche Ad-hoc-Online-Befragungen wie die beiden JuCo-Studien Junge Menschen und Corona, die im Mai und November 2020 junge Menschen im Alter von fünfzehn bis dreißig Jahren adressiert haben, sprechen wichtige Themen an, erlauben jedoch kaum Vergleiche zur Situation vor der Corona-Pandemie. Individuelle Veränderungen in der Alltagspraxis und dem Wohlergehen Jugendlicher zwischen 2019 und (Früh-) Sommer 2020 lassen sich schlüssiger anhand der Corona-Erhebungen des DJI-Surveys Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten (AID:A) und des deutschen Beziehungs- und Familienpanels pairfam (Panel Analysis of Intimate Relationships and Family Dynamics) nachzeichnen. Fast alle Studien beleuchten allerdings lediglich die Situation im ersten Lockdown und erlauben damit nur in begrenztem Maße Rückschlüsse auf die gegenwärtige Lage, die sich vermutlich deutlich zugespitzt hat.

 

Familienleben, Freizeitgestaltung und Freundeskreis

 

Während des Lockdowns wurde der Familienhaushalt für viele zum zentralen Lebensraum, und Kontakte zu Gleichaltrigen konnten nicht mehr im gewohnten schulischen Kontext stattfinden. Weit mehrheitlich fühlten sich die jungen Menschen zu Hause sicher, und über 70 Prozent berichteten, dass es dort einen Ansprechpartner gibt, der ihnen hilft, wenn sie ein Problem haben (1. JuCo-Studie). Gleichzeitig hat sich unter dem Eindruck der Pandemie in vielen Familien das „Klima“ verändert. Laut der pairfam-Befragung erlebte fast die Hälfte aller Jugendlichen die Stimmung zu Hause vermehrt als „stressig und genervt“, während nur jede/r achte Jugendliche über einen Rückgang von Stress in der Familie berichtete. Mehr als jeder vierte Jugendliche erlebte eine ängstlichere und sorgenvollere Stimmung, während nicht einmal jeder zehnte einen Rückgang dieser Stimmung angab. Auch Streitigkeiten hatten eher zuals abgenommen. Insgesamt überwogen für jeden zweiten Jugendlichen die negativen Veränderungen im Familienklima.

Für die große Mehrheit der jungen Menschen (81 Prozent) hat sich bis November 2020 die Freizeitgestaltung deutlich verändert, und 70 Prozent wünschten sich, ihren Hobbys wieder nachgehen zu können (2. JuCo-Studie).

Die Zeit sinnvoll zu füllen, war durchaus eine Herausforderung. Bereits im Mai 2020 hatten sich immerhin 32 Prozent der Befragten mehrmals am Tag gelangweilt (1. JuCo-Studie). In der Rückschau der Jugendlichen fiel ihre Zufriedenheit mit der verbrachten Zeit vor Corona deutlich höher aus als während der Pandemie im Mai 2020.

Erwartungsgemäß haben sich die Aktivitäten Jugendlicher stärker in das Internet verlagert. In der Online-Befragung JIM plus 2020 Lernen und Freizeit in der Corona-Krise gab die Mehrheit der befragten Jugendlichen (zwölf bis neunzehn Jahre) an, mehr Videos bei YouTube zu schauen (81 Prozent), mehr Musik zu hören (78 Prozent), Streamingdienste häufiger zu nutzen (71 Prozent) und mehr fernzusehen (54 Prozent). Wenig überraschend beschäftigten sich Jungen häufiger als Mädchen mit Computerspielen, sei es allein oder mit Freunden.

Die meisten Jugendlichen pflegten weiterhin Kontakte mit Personen außerhalb des Haushalts, die sich allerdings weitgehend auf wenige Personen konzentrierten. Um in Kontakt zu bleiben, wurden hauptsächlich Messenger, Telefon, Computerspiele oder TeamSpeak, Videochats, soziale Medien und SMS genutzt. Persönliche Treffen standen in der 1. JuCo-Studie lediglich an fünfter Stelle. Vergleicht man in der AID:A-Corona-Studie die Zufriedenheit mit dem Freundeskreis im Sommer 2020 zum Vorjahr, so zeigt sich ein deutlicher Rückgang. Auch die Zufriedenheit mit den Möglichkeiten, sein Leben selbst gestalten zu können, hatte sich gegenüber dem Vorjahr merklich reduziert.

Mehrheitlich haben sich die Jugendlichen an die Kontaktbeschränkungen gehalten. Kontakte mit der älteren Bevölkerung wurden weitgehend gemieden. Wo Kontakte stattfanden, mögen sie durchaus uneigennützig gewesen sein. Vor allem die 17- bis 21-Jährigen haben anderen emotionale Unterstützung oder Hilfe bei Technikfragen gegeben.

 

Lernen in Zeiten von Corona

 

Intensiv diskutiert wurden Fragen der schulischen Bildung unter Bedingungen der Kontaktbeschränkungen und des Distanzlernens. Angesichts der Schließung von Schulen wurde schnell klar, wie wenig die meisten Schulen auf den digitalen Unterricht vorbereitet waren. Laut dem deutschen Schulbarometer während der Coronakrise bezeichneten die Lehrer am häufigsten die fehlende digitale Ausstattung der Schüler als größte Herausforderung. Zwei Drittel der Lehrer gaben an, dass ihre Schüler nur teilweise über die notwendige Hardware verfügten, sodass nicht alle Schüler in gleichem Maße online unterrichtet werden konnten. Auch die Schulen waren mit ihrer technischen Ausstattung nur unzureichend auf die Situation vorbereitet.

Ergebnisse der pairfam-COVID-19-Studie bestätigen, dass das Homeschooling beziehungsweise Distanzlernen eine  große  Herausforderung  darstellt.  Fast 60 Prozent der Befragten fiel das Lernen zu Hause schwerer als in der Schule. Auch laut der 1. JuCo-Studie waren 54 Prozent der Schülerinnen und Schüler  mit ihrem Lernerfolg zu Hause (eher) unzufrieden. Auffällig ist die große Unzufriedenheit mit Fachkräften der (Schul-)Sozialarbeit und Jugendarbeit. Immerhin fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler  äußerte Sorgen  um ihre schulische Zukunft (AID:A Corona Add-on). Auch in den offenen Angaben zur aktuell größten Herausforderung standen die Sorge um Schule/Ausbildung für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Vordergrund. Am wenigsten zuversichtlich blickt die Gruppe der 17- bis 21-Jährigen in die Zukunft.

Vor allem für Jugendliche kurz vor dem Schulabschluss ist die Situation belastend. Ein Drittel der befragten Abiturienten und Abiturientinnen machte sich wegen der Schulschließungen Sorgen um ihre berufliche Zukunft. 45 Prozent hatten große oder sehr große Sorgen über eventuell negative Auswirkungen von Schulschließungen auf ihre Schulleistungen. Stärkere Sorgen äußerten Schülerinnen und Schüler mit schlechterem Notenschnitt und diejenigen, die in der Vorabschlussklasse waren.

 

Zukunftsängste, Einsamkeit und Stress

 

Zukunftsängste waren schon nach dem ersten Lockdown weit verbreitet. Über 45 Prozent der Befragten der 2. JuCo-Studie stimmten zu, Angst vor der Zukunft zu haben. Besonders bedenklich ist, dass schon in der 1. JuCo-Studie (Mai 2020) ein Viertel der Jugendlichen den Eindruck äußerte, dass ihre Sorgen nicht gehört werden. Noch stärker gilt das für die Politik: Knapp 60 Prozent der jungen Menschen hatten den Eindruck, dass ihre Situation der Politik nicht wichtig sei, und 65 Prozent gaben in der 2. JuCo-Studie an, ihre Sorgen würden von der Politik überhaupt nicht gehört.

Eine wichtige Rolle spielt die Einsamkeit der Jugendlichen während der Kontaktbeschränkungen. Über ein Drittel der Befragten der 2. JuCoStudie äußerte, dass sie sich in der aktuellen Situation einsam fühlen. Auch in einer weiteren Online-Befragung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen fühlten sich 30 Prozent der Befragten oft oder sehr oft sozial isoliert, sogar nachdem die Infektionsschutzmaßnahmen gelockert wurden.

Vergleicht man anhand der pairfam-Daten das Wohlbefinden der Jugendlichen während des Lockdowns mit deren Wohlbefinden bei der Befragung 2019, so zeigten sich Veränderungen in beide Richtungen: 36 Prozent der Jugendlichen gaben an, während der Pandemie mehr an Einsamkeit zu leiden als zuvor, 29 Prozent fühlten sich jedoch weniger allein. 35 Prozent zeigten keine Veränderung. Hinsichtlich Aktivität und Tatkraft fiel die Veränderung noch ungünstiger aus: 45 Prozent der Befragten fühlten sich weniger aktiv, tatkräftig und energiegeladen, während das Gegenteil nur bei 17 Prozent der Befragten der Fall war (38 Prozent unverändert). Zugleich nahm auch der Stress häufiger ab als zu. Insgesamt überwogen die negativen Veränderungen. Einen bedeutsamen Anteil hieran hatten die Veränderungen im Familienklima: Das Wohlbefinden der Jugendlichen war in mehr Bereichen beeinträchtigt, wenn auch die negativen Veränderungen des Familienklimas überwogen. Auch die Studie „Corona und Psyche“ (COPSY-Studie) lässt darauf schließen, dass die Lebensqualität und das psychische Wohlbefinden für einen Großteil von Kindern und Jugendlichen während der Corona-Pandemie gesunken sind. Viele gaben psychische und psychosomatische Auffälligkeiten an (Gereiztheit 54 Prozent, Einschlafprobleme 44 Prozent und Kopf- und Bauchschmerzen 40 beziehungsweise 31 Prozent), insbesondere Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Familien. Das Risiko für psychische Auffälligkeiten stieg von 18 Prozent vor Corona auf 31 Prozent während der akuten Krise.

Besonders alarmierend ist der Anstieg klinisch relevanter Depressionen unter Jugendlichen, der sich in der pairfam-Befragung zeigte: Schon im ersten Lockdown des Jahres 2020 gab es mehr als eine Verdopplung der Depressionen im Vergleich zum Vorjahr. Dieser Anstieg war unter den Mädchen und jungen Frauen noch ausgeprägter als unter männlichen Befragten. Interessanterweise waren nicht die ohnehin emotional labilen Jugendlichen von diesem Anstieg betroffen, sondern vor allem sozial aufgeschlossene, gesellige Jugendliche (hohe Extraversion). Dies zeigt, dass die Belastungen der Corona-Pandemie nicht nur die bekannten Risikogruppen treffen. In diesem Fall waren es sogar eher jene Jugendlichen, die sich unter normalen Umständen als besonders resilient erweisen, weil sie dank ihrer sozialen Orientierung in schwierigen Situationen leichter soziale Unterstützung generieren können. Die Kontaktbeschränkungen haben diese Gruppe offensichtlich besonders hart getroffen.

 

Fehlender Diskurs mit fatalen Folgen

 

Jugendliche sind in vielfacher Weise durch die COVID-19-Pandemie in ihrem alltäglichen Leben, ihren sozialen Bezügen, ihren Bildungsmöglichkeiten und ihren Zukunftsperspektiven tangiert. Dies hat sich schon im ersten Lockdown gezeigt, wobei die Erfahrungen und Reaktionen durchaus heterogen ausgefallen sind. Inzwischen dürfte sich die Situation vieler Jugendlicher verschärft haben. Sie wurden jedoch bislang viel zu wenig gehört. Die hier berichteten Studien haben sich darum bemüht, ihnen eine Stimme zu geben. Vor allem fehlt eine stärkere Berücksichtigung dieser Altersgruppe im politischen Diskurs. Bislang war die öffentliche Diskussion sehr stark auf Bildungsfragen fokussiert, die für die Jugendlichen fraglos von zentraler Bedeutung sind. Es fehlt jedoch ein Blick auf die Folgen der Pandemie für jene anderen Entwicklungsaufgaben Jugendlicher, mit denen sie sich in dieser Entwicklungsphase auseinandersetzen müssen. Kontakte zu Gleichaltrigen sind von zentraler Bedeutung, um vertiefte Beziehungen aufzubauen, Selbstsicherheit im sozialen Kontext zu gewinnen und die eigene Identität profilieren zu können. Erste romantische Beziehungen legen die Basis für die spätere Entwicklung tragfähiger Partnerschaften. Die Möglichkeiten hierfür sind allerdings unter den gegebenen Bedingungen eingeschränkt. Wer auf das Internet als Alternative zurückgreift, begibt sich auf eine Bühne mit zahlreichen Fallstricken. Die Gefahren des Cybergrooming dürften wachsen.

Angebote der Kinderund Jugendhilfe sollten eine wichtige Ausgleichsfunktion übernehmen, um Stress abzubauen und motivierende Aktivitäten sowie soziale Kontakte im geschützten Raum zu ermöglichen. Sie sind jedoch vielfach ausgesetzt. Es wird darauf ankommen, auch für die Öffnung der Jugendarbeit geeignete Konzepte zu entwickeln, Schulsozialarbeit zu stärken und möglichst bald in der Lage zu sein, Vor-Ort-Angebote wieder aufzunehmen.

Nicht zuletzt gilt: Das Hineinwachsen in die Gesellschaft bemisst sich an den Teilhabechancen Jugendlicher. Das schon im vergangenen Jahr verbreitete Gefühl, von der Politik nicht gehört zu werden, könnte fatale Folgen für die Einstellungen junger Menschen zur Politik haben und Politikverdrossenheit befördern. Umso wichtiger ist es, jetzt gegenzusteuern und Jugendlichen eine Stimme im Prozess der Krisenbewältigung zu geben.

 

Sabine Walper, geboren 1956 in Düsseldorf, seit 2001 Professur für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Jugendforschung (C3), Institut für Pädagogik, Ludwig-Maximilians-Universität München, seit 2012 Forschungsdirektorin am Deutschen Jugendinstitut (DJI) e.V., München.

 

Literatur

Andresen, Sabine / Heyer, Lena / Lips, Anna / Rusack, Tanja / Schröer, Wolfgang / Thomas, Severine / Wilmes, Johanna: „Die Corona-Pandemie hat mir wertvolle Zeit genommen“. Jugendalltag 2020, Universitätsverlag Hildesheim, Hildesheim 2020.

Anger, Silke / Bernhard, Sarah / Dietrich, Hans / Lerche, Adrian / Patzina, Alexander/ Sandner, Malte / Toussaint, Carina: Schulschließungen wegen Corona: Regelmäßiger Kontakt zur Schule kann die schulischen Aktivitäten der Jugendlichen erhöhen, IAB-Forum, 23.04.2020.

Berngruber, Anne / Gaupp, Nora: „Unterstützung suchen, Unterstützung leisten. Junge Menschen in der Zeit des sogenannten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020“, in: Gaupp, Nora / Holthusen, Bernd / Lüders, Christian/ Milbradt, Björn / Seckinger, Mike: Jugend ermöglichen – auch unter den Bedingungen des Pandemieschutzes, Deutsches Jugendinstitut, München, im Erscheinen.

Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs): JIMplus 2020. Lernen und Freizeit in der Corona-Krise, Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), Stuttgart 2020.

Ravens-Sieberer, Ulrike / Kaman, Anne / Otto, Christiane / Adedeji, Adekunle / Devine, Janine / Erhart, Michael/ Napp, Ann-Kathrin / Becker, Marcia / Blanck-Stellmacher, Ulrike / Löffler, Constanze / Schlack, Robert / Hurrelmann, Klaus: „Psychische Gesundheit und Lebensqualität von Kindern  und Jugendlichen während der COVID-19-Pandemie – Ergebnisse der COPSY-Studie“, in: Deutsches Ärzteblatt International 117 (48), 2020, S. 828–829. DOI: 10.3238/arztebl.2020.0828.

Walper, Sabine / Reim, Julia: „Young People in the COVID-19 Pandemic: Findings from Germany“, in: ISSBD Bulletin, Heft 2 (78), Deutsches Jugendinstitut, München 2020, S. 18–20.

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