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Staat und Religion in der pluralistischen Gesellschaft

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Die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Staat ist ein Thema, das schon seit der Gründungsphase in der Bundesrepublik Deutschland intensiv diskutiert wird. Bis in unsere Gegenwart hinein ist sie eine Frage nach dem Verhältnis zwischen Staat und christlicher Religion beziehungsweise Staat und Kirchen. Aber im 21. Jahrhundert haben sich das Spektrum und die Perspektive deutlich erweitert. Fragen wie die nach dem islamischen Religionsunterricht, nach der Beschneidung, nach dem Schächten oder dem Bau von Moscheen machen deutlich, dass mit Religion nun nicht mehr automatisch nur die christliche Religion gemeint ist, sondern insbesondere auch der Islam ins Blickfeld gerät. Vor diesem Hintergrund bekommt auch die Frage nach dem (staatlich verordneten) Kreuz im Zusammenhang mit dem Erlass von Ministerpräsident Markus Söder einen völlig anderen Charakter, da wir nicht mehr in einem geschlossenen christlichen Milieu leben. Ebenso stellt die Frage nach religiös begründeter Kleidung (nicht nur) staatlicher Bediensteter oder nach dem Schutz des Sonntags eine neue Herausforderung dar, die letztlich auch für die Kirche(n) eine argumentativ plausible Rekonstruktion ihres Verhältnisses zum Staat und eine Präzision der zentralen Aussagen im Kontext der religionspluralen Gesellschaft erforderlich macht.

 

Bereits seit der Weimarer Verfassung gibt es in Deutschland keine Staatsreligion mehr. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes stehen in dieser Hinsicht ganz in der Tradition von Weimar. Sie wollten ebenfalls keine Staatskirche. Es gibt jedoch die spezifische, grundgesetzlich fixierte und seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland insgesamt erfolgreich realisierte, aber aktuell zunehmend auch kritisch hinterfragte Gestalt des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche. Diese lässt sich kennzeichnen als das Modell autonomer Zusammenarbeit beider Größen, die auf der fundamentalen Unterscheidung, aber nicht totalen Trennung von Kirche und Staat gründet. Letzteres wäre ein Laizismus, ein Modell, das der grundgesetzlichen Intention in keiner Weise entspricht. Aktuelle kritische Anfragen richten sich unter anderem auf das Kirchensteuersystem, auf den Religionsunterricht und das eigene kirchliche Arbeitsrecht.

 

Debatte um die res mixtae

 

Speziell nach den verheerenden Erfahrungen der Menschheitsverbrechen im „Dritten Reich“ war klar, dass die zentrale weltanschauliche Neutralität des Staates keinesfalls Wertneutralität bedeuten konnte. Dies führt auch zu einer komplexen Konstruktion des Verhältnisses von Staat und Religion: Auf der einen Seite besagt die notwendige staatliche Neutralität in Bezug auf Weltanschauung und Religion, dass der Standpunkt des modernen Verfassungsstaates den Kirchen gegenüber ein „Standpunkt jenseits von Glaube und Unglaube“ zu sein hat. Ganz im Sinne der Ringparabel in Lessings Nathan der Weise kann es nicht Aufgabe des Staates sein, obrigkeitlich zu klären und zu verordnen, welcher Ring der echte ist. Andererseits bleibt die Religion dennoch für den Staat „eine geistige Kraft der Wirklichkeit, mit der er sich auseinanderzusetzen hat. Das Christentum“, so fährt Josef Isensee 1991 fort – in einer Zeit, in der das Christentum noch die alleinige religiöse Bezugsgröße darstellt –, „geht ihn an, obwohl er es sich nicht zu eigen macht.“

Diese Tatsache, dass das Christentum – wie auch andere Religionen, die in der Gesellschaft präsent sind – den Staat etwas angeht, ohne dass er es sich zu eigen gemacht hat, artikuliert sich ebenfalls im grundgesetzlich verbrieften Recht auf Religionsfreiheit (Artikel 4 Absatz 1 und 2). Die Forderung nach Religionsfreiheit für Christen wie Nicht-Christen führt auch und gerade dadurch, dass sie ebenso von den Kirchen formuliert wird, zur endgültigen Abwendung von einem Denken, das in der Forderung nach staatlicher Privilegierung der christlichen Religion gipfelt. Wenn heute eine Debatte um die sogenannten res mixtae zwischen Staat und Kirche geführt wird unter der Problemanzeige einer Privilegierung der Kirchen, dann verfehlt dies den eigentlichen Sachverhalt von vornherein.

 

Bei dem Recht auf Religionsfreiheit ist zwischen zwei Aspekten zu differenzieren: dem Recht auf Freiheit vom Bekenntnis und dem Recht auf Freiheit zum Bekenntnis, für das der Staat Möglichkeit und Freiraum zu schaffen verpflichtet ist. Der Staat, der sich selbst nicht mit einer Religion beziehungsweise Konfession identifizieren darf, darf „seine eigene Neutralität nicht dem Bürger verordnen […], sondern [hat] vielmehr die freie Entfaltung religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zu gewährleisten“. Dabei geht es um das individuelle und auch korporative Recht auf Ausübung der Religion.

 

Die aktuelle gesellschaftliche Debatte hat zwei unterschiedliche Facetten: Zum einen wird eine mittel- und langfristige Tendenz deutlich, eine Bedeutungsverschiebung dieses Grundrechts allein hin zu einer minimalistischen Variante, zur Freiheit von Religion, zu erreichen und damit religiöse und kirchliche Bezüge weitgehend aus dem öffentlichen Leben zu eliminieren. Würde aber der negativen Religionsfreiheit tatsächlich der Vorrang eingeräumt, dann würde dies de facto auf eine Privilegierung areligiöser oder antireligiöser Kräfte hinauslaufen, was wiederum der ursprünglichen Intention des Grundrechts auf Religionsfreiheit zuwiderliefe.

 

Zum anderen aber geht es in der Debatte um die Erweiterung des Feldes der Religionsfreiheit um die Realisierung dieses Rechts auch für andere Religionen. Das bedeutet, dass aktuell insbesondere darauf zu achten ist, dass auch die Ausübung des jüdischen und des islamischen Glaubens entsprechend staatlich geschützt ist: Dazu gehört auch etwa der Bau einer Synagoge oder Moschee, wobei es wichtig bleibt, daran zu erinnern, dass dieses Recht keine Bedingungen oder Vorbehalte kennt. Von daher steht eine Argumentation, die den Bau von Moscheen an das Recht für Christen knüpfen möchte, etwa in der Türkei Kirchen bauen zu dürfen, auf wackeligen Füßen.

 

Hinsichtlich der Erweiterung des Feldes der Religionsfreiheit ist noch anzumerken, dass es sich dabei eben nicht um ein Nullsummenspiel handelt, bei dem automatisch dann, wenn eine andere Religion, etwa der Islam, die Freiheit zur Entfaltung für sich in Anspruch nimmt, die Entfaltung der anderen, etwa der christlichen, zurückgeht oder bereits vorab begrenzt werden müsse. Im Rahmen dieser Entwicklung der jüngsten Vergangenheit hat sich sicherlich die Selbstverständlichkeit verändert, mit der der Staat davon ausgehen kann, dass er es nur mit der christlichen Religion und ihren Vertretern zu tun hat. Nicht aber verändert hat sich das Recht der Gesellschaft und ihrer Gruppierungen, aktiv den christlichen Glauben zu leben. Konkret: Dass eine staatliche Autorität aktiv das Aufhängen von Kreuzen verordnet, widerspricht – zumal in einem pluralistischer werdenden Umfeld – der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates. Dass Kirchen und gesellschaftliche Gruppierungen in der Öffentlichkeit mit ihren Symbolen, allem voran mit dem Kreuz, präsent sind, ist dagegen nachhaltig zu unterstützen und zu fordern, impliziert dies doch das gerade für unsere pluralistische Gesellschaft zentrale Versprechen von nachhaltigem Engagement für Humanität und unbedingter Achtung der Menschenwürde für alle und jeden.

 

Theologisch hat sich die Abkehr vom Modell der Staatsreligion als Konsequenz aus der im Zweiten Vatikanischen Konzil formulierten Anerkenntnis der Autonomie der politischen Gemeinschaft logisch entwickelt. Das bedeutet zugleich die Anerkenntnis des Pluralismus als konstitutives Merkmal der Demokratie sowie, in Konsequenz der Religionsfreiheit, der Koexistenz verschiedener christlicher Bekenntnisse und nichtchristlicher Religionen. Daraus resultiert ein „klares Ja zur religiösen Neutralität des modernen demokratischen Staates“. Dieses kirchliche Ja wurde auch deswegen möglich, weil sich das Demokratieverständnis des modernen Verfassungsstaates deutlich von dem antireligiösen, antikirchlichen und laizistischen Verständnis des 19. Jahrhunderts unterscheidet.

 

Das Freiheitsverständnis der modernen Demokratie ist nicht materialinhaltlich geprägt, sondern transzendental und versteht sich als Bedingung der Möglichkeit für individuelle und kollektive Freiheit; es muss also eine rechtliche Ordnung der Gesellschaft geben, die es der menschlichen Person und einzelnen Gemeinschaften ermöglicht, Freiheit, mithin auch das Recht auf Religionsfreiheit, zu realisieren (vgl. Dignitatis humanae [DH] 2).

 

Verzicht auf Gewissheit

 

Es geht nicht mehr darum, dass sich der Staat letztlich der Kirche, die für das übernatürliche Heil des Menschen verantwortlich ist, und deren Wahrheitsanspruch unterordnet. Vielmehr werden Staat und Kirche als zwei Wirklichkeitsbereiche verstanden, die mit unterschiedlichen Bestimmungen und Funktionsweisen autonom existieren, obgleich sie wesentliche Schnittstellen haben. Politisch gesehen ergibt sich aus dem Selbstverständnis des modernen Verfassungsstaates notwendigerweise die weltanschauliche und religiöse Neutralität der Demokratie, denn sie will und kann „nicht letzte Antworten auf die Frage nach Ursprung und Ziel der menschlichen Existenz geben, nicht den Sinn menschlichen Lebens bestimmen“. Der Staat hat „nicht mehr das überzeitliche Heil und auch nicht das innerweltliche Glück seiner Bürger“ zu verantworten. Dies ist jedem Einzelnen überlassen. Der Staat garantiert die dafür unabdingbare rechtliche Freiheit. Solche Zurückhaltung im Blick auf religiöse Fragen ergibt sich politisch notwendig, denn „(w)o […] der Staat das Letzte, End-Gültige verbindlich bestimmen will […], da nimmt die gesellschaftlich-politische Auseinandersetzung eine Art von Kreuzzugscharakter an“. Aus theologischer Perspektive legt sich von der Botschaft Jesu her ein „Ethos des Verzichts auf Gewissheit im Letzten innerhalb des Politischen“ nahe.

 

Die religiöse Neutralität des Staates resultiert somit aus dieser politisch und theologisch begründeten Trennung von Staat und Religion beziehungsweise Staat und Kirche. Diese Trennung stellt einerseits einen Schutz vor Ideologie und „Gesinnungsterror“ dar, bedeutet aber andererseits weder eine Areligiosität des Staates noch die „Anerkennung eines staatlich dekretierten religiösen Indifferentismus“, sondern vielmehr eine „respektvolle Nicht-Identifikation“, die dem religiösen Leben die eigengesetzliche Entfaltung ermöglicht.

 

Keine Verallgemeinerung des Säkularismus

 

Aus respektvoller Nicht-Identifikation folgt aber nicht zwangsläufig ein Verbot der Kooperation zwischen Staat und Kirche. Theologisch ergibt sich sogar unabdingbar die Abkehr vom Modell einer vollständigen Trennung von Staat und Kirche, jedenfalls sofern man darunter „die französische Laïcité als radikal wirkende laizistische Trennung“ versteht. Ausgehend von der Erkenntnis, dass der christliche Glaube alle Bereiche menschlichen und damit auch gesellschaftlichen Lebens tangiert, geht es um den Ansatz einer autonomen Kooperation zwischen beiden, denn beide „dienen, wenn auch in verschiedener Begründung, der persönlichen und gesellschaftlichen Berufung der gleichen Menschen“ (Gaudium et Spes [GS] 76). Aus dem korporativen Recht auf Religionsfreiheit folgt auch, „dass die religiösen Gemeinschaften nicht daran gehindert werden, die besondere Fähigkeit ihrer Lehre zur Ordnung der Gesellschaft […] zu zeigen“. Dies impliziert auch das Recht, dass Menschen aus ihrer religiösen Gesinnung heraus „Vereinigungen für Erziehung, Kultur, Caritas und soziales Leben schaffen können“ (DH 4). Ebenso ist damit das Recht verbürgt, qua Institution als gesellschaftlicher Akteur aufzutreten. Mit dieser rechtlichen Aussage geht das Zweite Vatikanum über eine rein grundrechtsbezogene Argumentation hinaus. Hier kommt je nach kultureller und politischer Tradition und Pfadabhängigkeit ein eigenes komplexes Staatskirchenrecht zum Tragen, wie etwa im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.

 

Für eine angemessene Interpretation spielt dabei die Tatsache eine entscheidende Rolle, dass der Staat neben dem Grundrechtsbezug auch ein eigenes Interesse an dem Beitrag der Kirchen hat, der darauf basiert, dass der „freiheitliche, säkularisierte Staat […]. von Voraussetzungen (lebt), die er nicht selbst garantieren kann“. Wenn er also infolge der oben skizzierten Prinzipien der Religionsfreiheit und der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates die Begründung für die Geltung der Freiheitsrechte und die daraus folgende Politik nicht selbst leisten kann, so „bedient er sich, soweit es um die seinen eigenen innerweltlichen Horizont übersteigenden, aber für den gesellschaftlichen Zusammenhalt unverzichtbaren Einstellungen zu den letzten Dingen geht, der Religionsgemeinschaften“, speziell auch der Kirchen.

 

Vor diesem Hintergrund erweist sich auch die Habermas’sche Perspektive als relevant, der aufgrund dieses Eigeninteresses des Staates an der Religion auch die liberale Gesellschaft zu ihrem eigenen Wohl in die Pflicht nimmt, „sich an Anstrengungen (zu) beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen“.

 

Der weltanschaulich neutrale Staat verlangt mithin nicht die Verallgemeinerung eines Säkularismus, sondern schafft ermöglichende Rahmenbedingungen für die aktive und konstruktive Entfaltung religiöser Freiheit in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Dies gilt grundgesetzlich verbrieft nicht nur für die christlichen Kirchen. Trotzdem darf die weltanschauliche Neutralität des Staates nicht mit schematischer Gleichbehandlung aller Religionen identifiziert werden; aus der Tradition erwachsende „Neutralitätsverstöße“14, wie zum Beispiel der Schutz des Sonntags, haben genau da in einer noch mehrheitlich christlich geprägten Gesellschaft ihren Sitz im Leben und ihre Berechtigung.

 

Ursula Nothelle-Wildfeuer, geboren 1960 in Unna, römischkatholische Theologin, Professorin für Praktische Theologie, Arbeitsbereich Christliche Gesellschaftslehre an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

 

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