Seit mindestens drei Jahrzehnten zeigt sich in den Repräsentativumfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach immer wieder, dass man zwei vollkommen unterschiedliche Ebenen der Meinungsbildung voneinander unterscheiden muss, wenn man die Haltung der Deutschen zur Europäischen Integration verstehen will. Da ist zum einen die Ebene der Tagespolitik, die meist im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit steht. Sie wird dominiert von Nachrichten über – aus der Sicht der Bevölkerung – die negativen Aspekte der Einigung.
Europa macht Negativschlagzeilen
Dazu gehören Meldungen über eine angebliche Regulierungswut der Europäischen Union und die fast schon ritualhaft beklagte Brüsseler Bürokratie, öffentliche Diskussionen um die Staatsschuldenkrise in vielen europäischen Ländern und die diversen Versuche, mit gemeinsamen Anstrengungen der Euro-Staaten die Krise zu überwinden.
Dass heute, mehr als drei Jahre nach Ausbruch der Schuldenkrise in Griechenland, der Unmut über die Europäische Union dennoch nicht größer ist als vor fünf Jahren, hat mit der zweiten Ebene des Europabildes der Deutschen zu tun, die in der öffentlichen Diskussion oft übersehen wird: Sobald man in den Frageformulierungen die Sphäre der Tagesaktualität verlässt und grundsätzliche Themen anspricht, wie beispielsweise das Zusammengehörigkeitsgefühl mit anderen europäischen Völkern oder das allgemeine Vorstellungsbild von Europa, zeigt sich eine recht robuste Europafreundlichkeit der Bevölkerung, die von allen aktuellen Krisen weitgehend unberührt bleibt.
Ein Ruck geht durch die deutsche Europafreundlichkeit
Dabei sah es vor zwei Jahren noch so aus, als habe die traditionelle Europafreundlichkeit der deutschen Bevölkerung unter dem Eindruck der nicht abreißenden Nachrichten über immer neue Schuldenrekorde in Griechenland, Irland und anderen Euroländern doch ernsthaft Schaden genommen. Nach Ausbruch der Griechenland-Krise im Frühjahr 2010 sank der Anteil derjenigen, die sagten, sie hätten großes Vertrauen in die Europäische Union, binnen weniger Wochen von 37 auf 26 Prozent. Die Zahl derer, die der Aussage zustimmten, Europa sei „unsere Zukunft“, ging vom April 2010 bis zum Januar 2011 von 53 auf 41 Prozent zurück. Solche ruckartigen Meinungsänderungen sind in der Umfrageforschung außerordentlich selten, vor allem dann, wenn es sich, wie hier, um eher allgemein gehaltene Fragen handelt. Die Zahlen vermittelten den Eindruck eines Dammbruches. Auf dem Höhepunkt der Vertrauenskrise im Herbst 2011 sagten 62 Prozent der Deutschen, die Situation in der Euro-Zone beunruhige sie „sehr stark“ oder „stark“.
Das Vertrauen in die Europäische Union wächst wieder
Doch seitdem hat sich die Aufregung wieder weitgehend gelegt. Obwohl die wirtschaftlichen und sozialen Probleme in vielen Ländern der Europäischen Union keineswegs gelöst sind und die Bevölkerung deswegen auch durchaus besorgt ist, nähert sich das Europabild der Deutschen wieder der Situation vor Ausbruch der Krise an. Erkennbar ist dies beispielsweise an den Antworten auf die Frage „Wie viel Vertrauen haben Sie zur Europäischen Union?“ Im Jahr 2011 sagten 68 Prozent der Deutschen, sie hätten „nicht so großes“ oder gar kein Vertrauen“ in die Gemeinschaft. Heute sind es 60 Prozent und damit weniger als 2010. Die Zahl derer, die sehr großes oder großes Vertrauen in die Europäische Union haben, ist seit 2011 von 24 auf 33 Prozent gestiegen, das sind ebenso viele wie 2007. Damit zeigt sich die Bevölkerung insgesamt zwar noch immer sehr misstrauisch, doch die Werte haben wieder das Niveau der Zeit vor Ausbruch der Schuldenkrisen erreicht.
Zukunft Europa
Was 2010 und 2011 wie ein Dammbruch wirkte, erscheint rückblickend eher wie eine kurze Fieberphase. Beispielhaft lässt sich das illustrieren mit der bereits erwähnten Frage „Wenn jemand sagt: ‚Europa ist unsere Zukunft.‘ Würden Sie sagen, das stimmt, oder ist das Ihrer Meinung nach nicht richtig?“ „Das stimmt“, sagten seit 1997, als die Frage zum ersten Mal gestellt wurde, stets deutliche Mehrheiten der Bevölkerung. Nach dem Einbruch auf 41 Prozent 2011 lag der Wert 2012 wieder bei 57 Prozent. Heute liegt er mit 55 Prozent auf dem gleichen Niveau. Von der Alarmstimmung 2011 ist zwei Jahre danach praktisch nichts mehr übrig geblieben.
Stabile allgemeine Trends, selbst in der Krise
Dagegen hat sich selbst auf dem Höhepunkt der Krise vor zwei Jahren das allgemeine Urteil der Deutschen über die Europäische Einigung bemerkenswert wenig verändert. Hier zeigt sich die erwähnte zweite Ebene des Europabildes, die von der Tagespolitik weitgehend unbeeinflusst bleibt. Viele Trendfragen zu diesem Thema zeigen selbst in den kritischen Jahren 2010 und 2011 kaum Schwankungen, beispielsweise die Frage „Hat Deutschland durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union eigentlich mehr Vorteile oder mehr Nachteile, oder würden Sie sagen, die Vor- und Nachteile gleichen sich aus?“ Im Mai 2008, vor Ausbruch der Krise, sagten 21 Prozent, Deutschland habe durch seine EU-Mitgliedschaft mehr Vorteile, 31 Prozent sahen mehr Nachteile. Eine relative Mehrheit von 38 Prozent meinte, die Vor- und Nachteile glichen sich wohl aus. Seitdem ist die Frage zehnmal wiederholt worden, und immer waren die Antworten nahezu gleich. Im Juli 2013 sagten 25 Prozent, die EU-Mitgliedschaft habe vor allem Vorteile, 27 Prozent glaubten, die Nachteile überwögen.
Frieden und nicht Niedergang
Auch wenn man die spontanen Assoziationen zum Stichwort „Europa“ erfragt, erhält man heute alles in allem die gleichen Antworten wie vor Beginn der Finanzkrise. Seit 2003 schwankt der Anteil derjenigen, die sagen, man könne bei „Europa“ an Frieden denken, zwischen 67 und 85 Prozent. Im Juli 2013 lag er bei 71 Prozent mitten in der gewohnten Bandbreite. Die Zahl derer, die beim Stichwort „Europa“ an „Einheit“ denken, sank von 2008 bis 2012 von 50 auf 39 Prozent, doch der Wert von 2008 war auch im Vergleich zu früheren Jahren außergewöhnlich hoch. 2013 lag die Zahl immerhin wieder bei 43 Prozent und damit im Mittelfeld der Ergebnisse aus den letzten zwölf Jahren. Auch der Anteil der Bürger, die mit „Europa“ Niedergang assoziieren, hält sich nach wie vor in engen Grenzen. Er stieg zwar von 2008 auf 2012 von 8 auf 19 Prozent, doch schon 2001 hatten 21 Prozent die gleiche Antwort gegeben. 2013 waren es mit 15 Prozent wieder merklich weniger.
Die D-Mark-Nostalgie schwindet
Auffällig ist, dass die Akzeptanz des Euro in den Jahren, in denen oftmals von einer „Euro-Krise“ die Rede war, deutlich gestiegen ist. Dies zeigen die Antworten auf die Frage „Hätten Sie lieber wieder die D-Mark, oder würden Sie das nicht sagen?“ Seitdem die Frage 2002 zum ersten Mal gestellt wurde, sagte stets eine deutliche Mehrheit der Befragten, ihnen wäre die D-Mark lieber als der Euro. Dies änderte sich ausgerechnet im kritischen Jahr 2011, als zum ersten Mal der Anteil derjenigen, die sich die alte Währung nicht zurückwünschten, mit 44 Prozent gleich groß war wie die Zahl der D-Mark-Anhänger. Im Juli 2013 sagten 50 Prozent, sie wünschten sich die D-Mark nicht zurück. Nur noch etwas mehr als ein Drittel, 35 Prozent, widersprachen. Mit diesen Antworten korrespondiert auch der Optimismus der Bevölkerung, dass der Euro auf Dauer Bestand haben wird. Auf die Frage „Wie schätzen Sie das ein: Glauben Sie, dass es in zehn Jahren noch den Euro geben wird, oder haben Sie da Zweifel?“ antworteten ebenfalls im Juli 2013 51 Prozent, sie glaubten, es werde die Gemeinschaftswährung auch in zehn Jahren noch geben. 39 Prozent meinten, da hätten sie Zweifel.
So geht die größte Gefahr für die Akzeptanz der europäischen Einigung vermutlich nicht von der Finanzkrise aus, sondern von einer schleichenden Zunahme des Desinteresses an Europa, die nichts mit den aktuellen Ereignissen zu tun hat.
Geringes Interesse an Europapolitik in der jungen Generation – schon vor der Krise
Auch wenn die Deutschen der europäischen Einigung ungeachtet aller aktuellen Probleme grundsätzlich sehr positiv gegenüberstehen, muss jedoch die Frage gestellt werden, wie lange das noch der Fall sein wird. Denn es ist bereits seit längerer Zeit zu beobachten, dass die Zustimmung zur europäischen Integration allmählich verhaltener wird, wenn sie auch bisher noch nicht in einen negativen Grundton umschlägt.
Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang einige Allensbacher Umfrageergebnisse aus dem Jahr 2008, also aus der Zeit kurz vor Ausbruch der Finanzkrise. Sie sind durchzogen von einer desinteressierten, gleichsam lauwarmen Zustimmung. Auf die Frage „Wie sehr interessieren Sie sich allgemein für die EU und die europäische Einigung?“ antworteten damals 16 Prozent, sie interessierten sich „sehr“ dafür, 61 Prozent entschieden sich für die unverbindliche Antwort „Interessiere mich etwas dafür“, 18 Prozent bekundeten rundheraus, dass sie das Thema gar nicht interessierte. Eine andere Frage lautete: „Wie sehr sind Sie für oder gegen die europäische Vereinigung?“ 13 Prozent antworteten darauf, sie seien sehr dafür, 59 Prozent, sie seien „im Großen und Ganzen dafür“, 15 Prozent meinten, das sei ihnen egal, 10 Prozent sprachen sich gegen die europäische Einigung aus. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Bekenntnisse der Bevölkerung zur Europäischen Integration den Charakter von Pflichtübungen angenommen hatten, denen man nicht aus tiefer Überzeugung nachkommt, sondern weil man weiß, dass es von einem erwartet wird.
Dabei war es nicht etwa die ältere, sondern vor allem die junge Generation, die sich dem Thema Europa gegenüber gleichgültig verhielt. Die folgende Grafik zeigt das charakteristische Antwortmuster am Beispiel der Frage „Interessieren Sie sich für Europapolitik, ich meine für die Entscheidungen, die in Brüssel oder im Europäischen Parlament in Straßburg getroffen werden, oder interessieren Sie sich nicht dafür?“ Drei Viertel der unter 30-jährigen Befragten sagten im Mai 2008, sie interessierten sich „nicht besonders“ oder „gar nicht“ für die Vorgänge in Brüssel und Straßburg, bei den 60-Jährigen und älteren waren es „nur“ 59 Prozent. „Ich interessiere mich dafür“, sagten 25 Prozent der Jungen und 41 Prozent der Angehörigen der älteren Generation.
Man wird zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Kräfte, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Gründung der Montanunion und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ermöglicht haben, schwinden. Die traumatische Erfahrung, die die Überlebenden des Zweiten Weltkriegs antrieb, alles zu tun, damit ein erneuter Rückfall des Kontinents in den Nationalismus unmöglich würde, wird von der Enkelgeneration – naturgemäß – nicht so geteilt. Als Bundeskanzler Helmut Kohl in den 1990er-Jahren wieder und wieder betonte, die europäische Integration sei eine Frage von Krieg und Frieden, und als der französische Staatspräsident François Mitterand in seiner letzten großen Rede vor dem Europaparlament den Abgeordneten den Satz „Le nationalisme, c’est la guerre!“ entgegenschleuderte, wurde dies bereits damals von vielen als etwas unzeitgemäß empfunden. Heute gehen diese Botschaften an wesentlichen Teilen der jungen Generation vorbei.
„Europa war früher ein Herzensthema“
Auf den Punkt gebracht hat das Problem der damalige österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel im Juni 2006 in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Europa“, sagte er, „muss jedes Mal neu begründet werden. Die Leute sind süchtig nach einer anderen Form der Vermittlung Europas. Sie wollen nicht mit Methodendiskussionen und Verfahrensstreitigkeiten gelangweilt werden, sondern sie wollen die Kernbotschaft Europas vermittelt bekommen. Das ist vor allem und nach wie vor die Friedensbotschaft. Gehen Sie auf einen Dorffriedhof, schauen Sie sich die Gräber aus den Weltkriegen an, und Sie wissen, was ich meine. Diese Botschaft ist nicht mehr selbstverständlich, und die Jungen kennen sie nicht mehr. Europa darf sich nicht nur wirtschaftlich begründen. Europa war früher ein Herzthema: ‚Nie wieder Krieg.‘ Heute ist es ein Kopfthema, oder es ist heruntergerutscht zum Portemonnaie: Was nützt mir das? Was habe ich davon? Das ist tödlich.“
Thomas Petersen, geboren 1968 in Hamburg, Projektleiter am Institut für Demoskopie Allensbach.
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