Zwei Neuerscheinungen widmen sich dem Parlamentarismus in Deutschland und Europa aus historischer Perspektive: Der Band Parlamentarismus in Deutschland von 1815 bis zur Gegenwart entstand anlässlich des 70-jährigen Jubiläums der Gründung der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (KGParl) im Jahr 1952 in Bonn. Die Gründung dieser außeruniversitären Forschungseinrichtung markierte, so die Herausgeber, die „institutionelle Etablierung einer historischen Parlamentarismusforschung“ in Deutschland. Dass der Bund die Finanzierung der Kommission übernahm, verdankte sich einem politischen Ziel: Durch die Erforschung von und Beschäftigung mit parlamentarischen Traditionen in der deutschen Geschichte und deren Verankerung in der Gesellschaft (S. 17) sollte ein Beitrag zur Überwindung der Diktaturfolgen und zur Festigung der noch jungen Demokratie geleistet werden. Mit der Jubiläumsschrift liegt nun ein Sammelband über „200 Jahre Parlamentarismusgeschichte“ vor, der sich ausdrücklich als „Handbuch“ versteht und sich an ein breites Publikum richtet. Titel und Themenauswahl erinnern daran, dass die Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland im 19. Jahrhundert beginnt. Zu Recht weisen die Herausgeber darauf hin, dass die Forderungen nach demokratischen Partizipationsrechten im 19. Jahrhundert von Anbeginn an die Idee des Nationalstaats geknüpft waren. Die Geschichte der Demokratie und die Geschichte des deutschen Nationalstaats bildeten demnach über weite Strecken zwei Seiten der gleichen Medaille. In den sechzehn Kapiteln des Sammelbandes werden problematische Aspekte der Geschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert keineswegs ausgeblendet – vielmehr wird der Blick auf die vielfältigen Grauzonen gelenkt, die stets Bestandteil historischer Entwicklungen waren und sind.
Die Aktualität des Bandes ergibt sich aus dem deutlichen Hinweis auf die Ursprünge des in der Bundesrepublik weiterhin gültigen Verständnisses parlamentarischer Repräsentation. Am Anfang des modernen Parlamentarismus stand die Abkehr vom Gedanken der Repräsentation bestimmter Gruppen, wie sie in den frühneuzeitlichen Ständeversammlungen verwirklicht war. Stattdessen setzte sich allmählich ein neues, abstraktes Ideal von politischer Repräsentation durch.
Das Ideal demokratischer Partizipation
In seinem instruktiven Beitrag „Parlamentarismus und Demokratie“ beschreibt Andreas Biefang, wie im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein „ideen- und machtpolitischer Kompromiss“ (S. 29) zwischen Forderungen nach einer direkten Herrschaftsausübung durch das Volk und dem Gedanken der Repräsentation der Bürgerinnen und Bürger durch frei gewählte Abgeordnete Form annahm. Obwohl es sich bei den Parlamenten, die seit 1815 in den deutschen Ländern auf Grundlage landesständischer Verfassungen entstanden, keineswegs um Parlamente nach unseren heutigen Idealvorstellungen handelte, waren es doch bereits „mehrheitlich moderne Parlamente in dem Sinne, dass die Abgeordneten über ein freies Mandat verfügten und im Namen des gesamten Volkes handeln sollten“ (S. 33).
Durch die zunehmende Einübung der Prinzipien der repräsentativen Volksvertretung in den Parlamenten des Vormärz, in der Frankfurter Nationalversammlung und im Reichstag setzte sich, so Biefang, das Ideal demokratischer Partizipation durch die Wahl freier Abgeordneter als Leitvorstellung durch. Ohne diese Vorgeschichte wären der politische Erfolg der Bundesrepublik und deren Stabilisierung als demokratischer Rechtsstaat nicht möglich gewesen, denn die Abgeordneten des Parlamentarischen Rats knüpften 1948 an kulturell verankerte Ideale und parlamentarische Erfahrungen an, die unter neuen Bedingungen und mit der Absicht, aus dem Scheitern der Weimarer Demokratie zu lernen, Berücksichtigung fanden.
In Teilen liest sich Biefangs Beitrag wie ein Appell an Parteien und Öffentlichkeit, sich auf die Prinzipien der Repräsentation zu besinnen, und dies, obwohl der Parlamentarismus der Bundesrepublik stets auch „in einem Spannungsverhältnis zur Demokratie“ stand. Gleichwohl gelang es in den Jahrzehnten nach 1949 stets, Teile außerparlamentarischer Bewegungen in das repräsentative System einzubinden. Ob dies weiter der Fall sein wird, ist für Biefang eine offene Frage, denn die zunehmende Infragestellung des Repräsentationsprinzips selbst durch gewählte Abgeordnete des Bundestags, etwa mit Forderungen nach einer vermehrten Anwendung von Instrumenten direkter Demokratie wie der Abhaltung von Referenden oder gar nach der Einführung von „Bürgerräten“, bergen ihm zufolge die Gefahr in sich, dass sie „organisierte, gut ausgebildete und politisch artikulationsfähige Eliten zu Lasten weniger gebildeter und ärmerer Milieus“ begünstigen (S. 48). Darüber hinaus zeige sich die aktuelle „Krise der parlamentarischen Repräsentation“ darin, dass sich die bestehenden Parteien immer schwerer damit täten, „ihre traditionelle Aufgabe innerhalb des parlamentarischen Systems zu erfüllen und die vielfältigen, oft widersprüchlichen ökonomischen und ideellen Interessen zu bündeln“.
Die einzelnen Beiträge des Bandes Parlamentarismus in Deutschland nähern sich ihrem Gegenstand in acht „historischen Längsschnitten“, in fünf Beiträgen zum „Parlament als politischer Akteur und Machtfaktor“ und drei Aufsätzen, die aus politikwissenschaftlicher, rechtsgeschichtlicher und historischer Perspektive grundsätzliche und aktuelle Fragen des Parlamentarismus erörtern.
Antiparlamentarische Ideen
Dass „Sinn und Grenzen parlamentarischer Repräsentation“ von Zeitgenossen seit jeher infrage gestellt wurden, schildert Hans-Christof Kraus in seinem Aufsatz „Parlamentarismuskritik, Antiparlamentarismus und Modelle alternativer Repräsentation“. Kraus unterscheidet zwischen „Antiparlamentarismus, der jede Art einer parlamentarisch organisierten Repräsentation ablehnt und bekämpft und Parlamentarismuskritik, die nur bestimmte Aspekte jenes Systems kritisch bewertet“ (S. 148, [Hervorhebung im Original]). Wenig überraschend ist der Hinweis auf die „extreme Zuspitzung des Antiparlamentarismus von rechts und links“ in der Weimarer Republik.
Nach 1945 bestand in der DDR die Volkskammer als „Scheinparlament“, dem die Aufgabe zufiel, als „Transmissionsriemen der Partei der Arbeiterklasse“ zu den Massen zu fungieren (S. 155). In der Bundesrepublik existierte, sozusagen als einmal mehr, einmal weniger vernehmbare Begleitmusik neben der mehrheitlich bestehenden Akzeptanz des politischen Systems, weiterhin ein „ausgeprägter Antiparlamentarismus und Antipluralismus der Rechts- und Linksradikalen“ (S. 155). Eine Hochzeit antiparlamentarischer Ideen waren die Jahre um 1968, als Teile der sogenannten Außerparlamentarischen Opposition einen „Kampf der Straße gegen das Parlament“ propagierten. Alternative Vorstellungen zum Parlamentarismus der Bonner Republik kursierten mit unterschiedlichen Akzentuierungen in den „neuen sozialen Bewegungen“, die sich in den 1970er-Jahren formierten und die Partei „Die Grünen“ hervorbrachten. Dass die Grünen mittlerweile selbst ein fester Bestandteil der bestehenden parlamentarischen Praxis sind und damit das Repräsentativsystem gewissermaßen die Oberhand über die einstigen Kritiker gewonnen hat, ist bereits oft beschrieben worden.
Am Ende unternehmen die Mitherausgeber Andreas Wirsching und Dominik Geppert den Versuch einer „Gegenwartsbestimmung des Parlamentarismus aus historischer Perspektive“. Sie kommen zu dem Schluss, dass „die Beschäftigung mit der langen Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland“ dazu beitragen kann, aktuellen Krisenerscheinungen mit mehr Gelassenheit und dem Vertrauen auf die Problemlösungskompetenz des parlamentarischen Systems zu begegnen. Dies mag so sein, jedoch ist die Stabilität des politischen Systems kein Garant für das langfristige Überdauern einzelner politischer Parteien. Es sollte deshalb zumindest bedenklich stimmen, dass der Niedergang der einst führenden christlich-demokratischen Parteien in Belgien, den Niederlanden und Italien längst ein historischer Fakt ist und auch in Deutschland die Frage gestellt werden muss, ob sich ausreichend große Teile der Bevölkerung noch von den Programmen der Parteien angesprochen fühlen.
Institution mit Eigenleben
Die Absicht, kulturhistorische Ansätze für die Erforschung ihres Gegenstands zu nutzen, vereint den Jubiläumsband der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien mit der an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen entstandenen Habilitationsschrift von Ines Soldwisch Das Europäische Parlament 1979–2004. Inszenierung, Selbst(er)findung und politisches Handeln der Abgeordneten. Mit der Arbeit betritt die Autorin insofern Neuland, als das Europäische Parlament bislang wenig in den Blick der historischen Forschung gelangt ist. Soldwisch vertritt in ihrer Untersuchung einen „akteurszentrierten Ansatz“, denn, so ihr Ausgangspunkt: „Das Europäische Parlament reflektiert nicht nur geschichtliche Veränderungen, es steht nicht nur für eine bestimmte Etappe des Integrationsprozesses. Es hat sich darüber hinaus selbst verändert, ist eine Institution mit Eigenleben, hat Geschichte mitgestaltet“ (S. 19). Die Entwicklung des Europäischen Parlaments in den 25 Jahren seit der ersten Direktwahl untersucht die Autorin anhand von vier Bereichen, wobei jeweils ein Kapitel der Zeit vor beziehungsweise nach dem Vertrag von Maastricht gewidmet ist. Ihr erstes Thema ist die Architektur, also die Gebäude, in denen die Abgeordneten tagten, denn der Raum, in dem die Abgeordneten tagten, sei, so Soldwisch, als Ort der Selbstdarstellung des Parlaments von großer symbolischer Bedeutung. Zweitens geht es um die Entwicklung der Geschäftsordnung, die die Arbeit des Parlaments strukturiert und anhand derer auch Aufschlüsse zum Selbstverständnis der Abgeordneten zu gewinnen sind, drittens untersucht sie das Selbstverständnis und die sozialen Rollen der Europaabgeordneten, und viertens analysiert sie die Wahlen der Parlamentspräsidenten und -präsidentinnen, die im Europäischen Parlament nicht nur zu Beginn, sondern auch zur Hälfte der Legislaturperiode stattfinden.
Inszenierung und Symbolik
Anhand der ausgewählten Themen zeichnet Soldwisch das Bild eines „lernenden Parlaments“, das sich „von einer diskutierenden Versammlung hin zu einem diskutierenden und Entscheidungen fällenden Parlament entwickelte“ (S. 281). Entscheidende Wegmarken hierzu waren die Verträge von Maastricht 1992/93 und Amsterdam 1997/1999, durch die sich die Kompetenzen der Abgeordneten erweiterten. Damit habe sich auch der Blick der Nationalen Regierungsvertreter auf das Parlament geändert: „Europäische Abgeordnete erlangten durch ihre neuen politischen und vertraglich bestätigten Rechte und das, was sie daraus ableiteten, eine neue Wertigkeit“ (S. 235).
Folgt man den überzeugend vorgebrachten Argumenten, so ist der europäische Parlamentarismus eine Erfolgsgeschichte. Alle, denen die europäische Integration am Herzen liegt, werden diesem Urteil sicher zustimmen wollen. Ob man über die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedsländer der Europäischen Union mit dem Europaparlament allerdings ein ähnlich positives Fazit ziehen kann, ist fraglich, zumal die Beteiligung an der Direktwahl zwischen 1979 und 2014 zumindest in Deutschland stetig zurückgegangen ist. 2019 änderte sich dies wieder; es bleibt abzuwarten, ob der positive Trend anhält.
Empfehlungen, wie die politisch Verantwortlichen das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an der parlamentarischen Arbeit und damit auch die Identifikation mit dem Parlament als „Herzkammer der Demokratie“ in Gegenwart und Zukunft stärken können, lassen sich den vorgestellten Publikationen entnehmen.
Sie verweisen auf die Bedeutung der medialen Vermittlung der parlamentarischen Arbeit und auf eine gelungene Kommunikation zwischen Öffentlichkeit und Parlamenten. Durch die kulturgeschichtliche Erweiterung der Perspektive zeigt sich – und das ist das überraschende Ergebnis dieser Zusammenschau –, dass der Erfolg des Parlamentarismus nicht nur von vermeintlich rationalen Verfahrensweisen und Arbeitsergebnissen abhängt, sondern auch von Inszenierungen und Symbolik. Beiden Publikationen ist zu wünschen, dass sie eine große Leserschaft finden.
Christine Bach, geboren 1970 in Sankt Ingbert, promovierte Historikerin, Referentin Zeitgeschichte, Wissenschaftliche Dienste /Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung.