Als ich vor zehn Jahren als junger Abgeordneter Mitglied im Europäischen Parlament wurde, hätte ich nie gedacht, dass sich Europa in den folgenden Jahren in so kurzer Zeit so sehr verändern würde. 2004 hatte die EU gerade die zehn neuen Mitgliedstaaten aufgenommen und damit die größte Erweiterungsrunde ihrer Geschichte hinter sich. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde das Europäische Parlament gleichwertiger Gesetzgeber neben dem Rat, der die Mitgliedstaaten vertritt.
Seither hat vor allem die Staatsschuldenkrise eine gewaltige Dynamik mit großen Veränderungen hervorgerufen. Einer der Auslöser für die Krise war der Sündenfall von SPD und Grünen, als der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder sich mit den europäischen Staats- und Regierungschefs auf eine Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspakts einigte. Damit sandte ausgerechnet Deutschland an seine EU-Partner ein verheerendes Signal für mehr Schuldenmachen und weniger Solidität. Dieser Fehler darf heute nicht wiederholt werden. Es ist erschreckend, dass die Sozialdemokraten nun erneut den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufweichen möchten. Eine wichtige Lektion aus der Krise ist die Schaffung einer europäischen Finanzmarktregulierung. Gegenwärtig arbeiten die Institutionen am Aufbau und an der Implementierung einer echten Bankenunion. Mit der Wahl von Jean-Claude Juncker zum Kommissionspräsidenten als Folge des Spitzenkandidatenprozesses mit der Europäischen Volkspartei (EVP) als Wahlsiegerin sind wir inmitten einer weiteren bedeutenden Veränderung, eines evolutionären Schritts hin zu mehr Demokratie, Parlamentarisierung und Transparenz.
Die letzten Jahre hat die EVP in Brüssel und den Mitgliedstaaten daran gearbeitet, die Scherben der Schuldenkrise aufzukehren. Das Ziel lautet: Wirtschafts- und Finanzpolitik muss nachhaltig sein! Auf EU-Ebene haben wir den Stabilitäts- und Wachstumspakt überarbeitet und auf ein neues Fundament gestellt. Die Regeln sind jetzt strenger denn je. Wir haben zusätzlich den Fiskalpakt ausgehandelt, einen internationalen Vertrag zwischen 25 EU-Mitgliedstaaten, in dem sich die Länder dazu verpflichten, eine Schuldenbremse in die nationalen Verfassungen aufzunehmen. Außerdem gibt es jetzt zahlreiche Regeln, um die Finanzmärkte stabiler zu machen.
Gegen Jugendarbeitslosigkeit
Auf nationaler Ebene hat die EVP häufig in Regierungsverantwortung zentrale Reformen vorangebracht. So steht Irland wieder deutlich besser da, weil unser Partner in der EVP, Fine Gael, dort harte Reformen durchgeführt hat. Auch in Portugal, Spanien und Griechenland kämpfen unsere Partner in der EVP für eine bessere Zukunft in den krisengebeutelten Ländern. Trotz dieser einschneidenden Reformen und der Last für die Menschen in diesen Ländern bei der Bewältigung der Krise hat die EVP die Europawahlen gewonnen. Welch bestärkendes Signal!
Vor uns liegt noch ein steiniger Weg. Die Schuldenkrise ist eingedämmt, aber noch lange nicht überwunden. Große Teile Europas sind von Stagnation und Arbeitslosigkeit geprägt. Vor allem die Jugendarbeitslosigkeit macht den Ländern in Südeuropa zu schaffen. Es droht eine ganze Generation ohne Zukunftsperspektive heranzuwachsen. Wachstum und Arbeitsplätze stehen im Zentrum der nächsten Legislaturperiode. Die EVP ist die Partei, die konkrete Rezepte anbietet. Eines ist klar: Am Schuldentilgen und an Strukturreformen führt kein Weg vorbei. Sie stehen Wachstum und Arbeitsplätzen nicht nur nicht entgegen, sondern sind Grundbedingung für eine nachhaltige, dauerhafte und stabile Erholung. Eine Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspakts wird es mit der EVP nicht geben.
Jean-Claude Juncker
Ich bin mir sicher, dass Jean-Claude Juncker der richtige Mann ist, um die Europäische Kommission hierbei auf Kurs zu halten. Er hat die Wähler Europas und große Teile des Europäischen Parlaments hinter sich. Erstmals hatten die Bürger eine echte Wahl und konnten mit ihrer Stimme konkreten Einfluss auf die Benennung des Präsidenten der EU-Kommission ausüben.
Im Vorfeld wurde viel diskutiert, ob die europäischen Parteien das Recht hatten, Spitzenkandidaten aufzustellen, und ob das Europäische Parlament fordern darf, dass ein Spitzenkandidat später offiziell von den Staats- und Regierungschefs vorgeschlagen wird. Die europäischen Verträge wurden dabei immer entweder in die eine oder die andere Richtung interpretiert. Ich finde es seltsam, dass sich die Parteien auf EU-Ebene für einen Prozess rechtfertigen müssen, der in praktisch allen Mitgliedstaaten eine demokratische Selbstverständlichkeit ist. Auch dort stehen Spitzenkandidaten in keiner Verfassung. Von der EU wird stets gefordert, sie müsse transparenter und demokratischer werden. Wenn nun die Menschen ganz konkret entscheiden dürfen, wer an die Spitze der EU-Kommission rückt, ist Europa in Sachen Demokratie ein gewaltiges Stück vorangekommen.
Bisher wurden die Kommissionschefs immer einstimmig von den Staats- und Regierungschefs nominiert. Dies war nun zum ersten Mal anders. Auch im Europäischen Rat haben die Beteiligten um den richtigen Weg für Europa gestritten. Auch das ist gelebte Demokratie. Und Europa hat sich mit der Nominierung von Jean-Claude Juncker klar entschieden. Im Europa der 28 muss es stets das Ziel sein, möglichst viele einzubinden und Kompromisse zu schließen. Aber die Entscheidung für Juncker ist mit einer eindeutigen Mehrheit gefallen.
Mit Juncker wird ein erfahrener ehemaliger Premierminister das Steuer übernehmen, der über langjährige Exekutiverfahrung verfügt und auch im Europäischen Rat bestens vernetzt ist. Ich bin zuversichtlich, dass mit ihm gemeinsam die Ziele der EVP in den nächsten fünf Jahren umgesetzt werden können.
Reformen
Die EVP-Fraktion hat in den letzten Wochen intensiv darüber beraten, wie wir Europa voranbringen wollen. Dazu hat die Fraktion eine „Reformagenda für Europas Zukunft“ verabschiedet – die Grundlage für die Arbeit in der kommenden Legislaturperiode. Das Kernthema wird die Schaffung von Arbeitsplätzen sein. Dazu soll der europäische Binnenmarkt weiter gestärkt und endlich das digitale Potenzial Europas genutzt werden. Noch sieht die EU zu, wie in anderen Regionen ein Internet-Gigant nach dem anderen entsteht. Bessere Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Industrie stehen auf der Agenda. Es muss eine gemeinsame Energiepolitik auf den Weg gebracht werden, die Europa mehr geopolitische Unabhängigkeit verschafft. Ein funktionierender Binnenmarkt ist dabei der Schlüssel. Die EU-Politik muss noch stärker auf kleine und mittelständische Unternehmen zugeschnitten sein. Europa sollte endlich anfangen, unnötige Bürokratie abzubauen. Der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber hat bereits wertvolle Vorarbeit geleistet. Ich wünsche mir, dass die nächste Kommission dem Thema eine noch höhere Bedeutung schenken wird.
Ein weiteres Versprechen, das schon lange im Raum steht und jetzt mit Leben erfüllt werden muss, ist die Umsetzung des Subsidiaritätsgedankens. Es sollte bald gelingen, nur die Dinge auf europäischer Ebene zu regeln, die auch eine europäische Dimension haben. Es gibt viele Bereiche des Lebens, in denen die Kommunen oder Bundesländer selbst am besten wissen, welche Regelungen nötig sind und welche nicht.
Neben der Wirtschaftspolitik müssen wir uns aber auch um andere wichtige Themen kümmern. Dass ein großes Augenmerk auf der Flüchtlingspolitik liegen muss, ist angesichts der rasant steigenden Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern offensichtlich. Das Asylpaket muss hierzu rasch in allen Mitgliedstaaten implementiert werden. Daneben müssen wir Europas Außengrenzen sicherer machen und dafür Sorge tragen, dass sich in den Gewässern vor Europa keine humanitären Katastrophen mehr ereignen.
Die EVP steht zur europäischen Integration. Besonders wichtig ist uns daher, dass es keine Rückschritte in Bereichen geben darf, die sich bewährt haben. So sind die offenen Grenzen innerhalb der EU für uns nicht verhandelbar.
Damit dieses ambitionierte Programm gelingt, muss Europa sich nach innen konsolidieren und festigen. Auch deshalb hat die Fraktion der Europäischen Volkspartei „ja“ gesagt zu einer privilegierten Partnerschaft mit der Türkei, aber „nein“ zu einer Vollmitgliedschaft des Landes. Europa muss sich auch in den nächsten Jahren Schritt für Schritt weiterentwickeln. Die EVP will dabei weiterhin die Kraft sein, die Europa ihren Stempel aufdrückt.
Manfred Weber, geboren 1972 in Niederhatzkofen, Bezirksvorsitzender der CSU Niederbayern. Seit 2014 ist er Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament.