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Interview: Der Angst trotzen

von Dieudonné Kardinal Nzapalainga
von Jean-Luc Mootoosamy

Dieudonné Kardinal Nzapalainga über die bewaffneten Auseinandersetzungen in Zentralafrika und die Bedeutung des islamisch-­christlichen Dialogs

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Die im Januar 2020 von den zentralafrikanischen Bischöfen veröffentlichte Botschaft „Gehet hin und lehret alle Völker“ ist ein Verweis auf die Evangelisierung Ihres Landes, eine Botschaft der Hoffnung und des Friedens, aber auch ein Appell, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Ist es die Aufgabe der katholischen Kirche in Zentralafrika, an vorderster Front zu stehen?

Kardinal Nzapalainga: Die Aufgabe der Kirche ist es, an vorderster Front zu stehen. Für uns ist die Fleischwerdung keine Fiktion, sie ist Realität. Sobald wir sagen, dass Christus Mensch wurde, ist es an der Kirche, das Leben der Menschen zu teilen. Sind wir bereit, hinauszugehen, um das Evangelium mit unseren Taten zu verkünden? Wir haben unsere Grenzen, unsere Schwächen gesehen. Viele sind aus unseren Gemeinschaften hinausgegangen, auf den Boden der Gewalt. Wir haben weiter die Hoffnung, unsere Gesellschaften wandeln zu können. Wir tun dies mit den anderen: den Protestanten, den Muslimen, den Animisten. Gemeinsam schreiten wir auf dem Weg voran, der uns zu Gott führt.

 

Meinen Sie mit dem gemeinsamen Voranschreiten, dass die Konflikte nicht auf religiösen Ursachen beruhen?

Kardinal Nzapalainga: Unser Konflikt beruht nicht auf religiösen Ursachen. Zehn Tage nach Ausbruch der Rebellion 2012 war von Zusammenstößen zwischen Christen und Muslimen die Rede. Ohne zu zögern, haben Pastor Nicolas Guerekoyame Gbangou, der Präsident der Evangelischen Allianz, Imam Omar Kobine Layamaqui, der Präsident der muslimischen Glaubensgemeinschaft, und ich selbst, Vorsitzender der Bischofskonferenz der Zentralafrikanischen Republik, uns getroffen, um deutlich zu machen, dass das nichts mit unseren tiefen Wurzeln, unseren Werten zu tun hat. Noch nie in der Vergangenheit sind wir im Namen der Religion derart in die Gewalt abgeglitten. Wir haben einen Krieg angeprangert, bei dem es um Interessen geht. Machtund geldgierige Individuen missbrauchen die Religion, um unsere Brüder und Schwestern zu manipulieren. Wir haben zu Wachsamkeit und Besonnenheit aufgerufen, um nicht in die Falle eines religiösen Konflikts zu geraten. Nie haben wir einen Pastor, einen Imam oder einen Priester an der Spitze einer bewaffneten Bewegung in der Zentralafrikanischen Republik gesehen. Bei uns kämpft man weder um den Koran noch um die Bibel, sondern um Diamanten, Gold oder Ministerposten. Wir haben es mit einer militärisch-politischen Krise zu tun, die von Politikern gelöst werden muss.

 

Es gibt radikale Strömungen in allen Religionen. Der Islamismus übt einen starken Druck auf dem afrikanischen Kontinent aus, insbesondere im Sahel. Wie stehen Sie dazu, dass Menschen sagen, sie dürften im Namen Gottes töten?

Kardinal Nzapalainga: Wir brauchen unbedingt Schutzwälle. Wir müssen zusammenarbeiten, für ein harmonisches Zusammenleben, den Respekt, die Wertschätzung, damit wir uns kennen und lieben lernen. Dann fehlt den Provokateuren der Boden für ihre Destabilisierung. Gewalt ruft Gegengewalt hervor. Es ist wichtig, dass Christen und Muslime den islamisch-christlichen Dialog pflegen, um damit den Extremen Einhalt zu gebieten. Wir mahnen die religiösen Anführer zur Vorsicht, weil viele unserer Kinder keine Schule besuchen und leichte Beute sind. Wir müssen darauf achten, dass unsere Gemeinschaften nicht destabilisiert, zersetzt oder gespalten werden. Wir müssen das betonen, was uns eint: unsere Werte.

 

Am 30. November 2015 hat Papst Franziskus die Große Moschee von Bangui besucht, wo vorher nur wenige eine Geste der Freundschaft gegenüber dem Großen Imam wagten. Sie öffnen regelmäßig die Tür zur Versöhnung. Kann Ihr Ansatz ein Modell für den Dialog sein?

Kardinal Nzapalainga: Ich versuche nicht, mich als Beispiel darzustellen, ich lebe meinen Glauben jeden Tag. Ich bin mit einem katholischen Vater und einer protestantischen Mutter aufgewachsen. Zu Hause gab es niemals einen Religionskrieg. Wir haben diese Brüderlichkeit, dieses harmonische Miteinander, diese Ökumene immer gelebt. Das hat mich nachhaltig geprägt, und ich wünsche mir, dass diese Offenheit auf die Bürger meines Landes überspringt. Der andere ist nicht nur eine Gefahr, ein Gift oder ein Dämon, sondern vielleicht eine Bereicherung, eine Chance. Wenn ich ihn mit den Augen der Barmherzigkeit empfange, kann ich Güte, Wahrheit und Leben in seinem Inneren wahrnehmen, um ihn aufzufordern, wieder zu sich, zur Vernunft zu kommen.

Als Papst Franziskus aus Bangui abgereist war, habe ich Christen gefragt: Worauf wartet Ihr? Geht hinaus! Kommt mit mir zum „Kilomètre 5“, einem Stadtviertel in Bangui, wo Rebellen und Mitglieder der muslimischen Gemeinde Schutz suchten. Als wir da waren, sahen wir viele aggressive junge Männer, sie waren bewaffnet, standen unter Drogeneinfluss, aber wir haben uns ihnen entgegengestellt. Wenn wir Angst vor der Gefahr haben, dann wird sie – früher oder später – für uns zur Realität. Ich war bereit, den berüchtigten „Leader Issa“ Kapi Djamouss zu treffen, der sich „Fünfzig/Fünfzig“ nannte. Er empfing mich umgeben von schwerbewaffneten Männern. Meine Begleiter waren zurückgeschreckt. Ich bin eingetreten und sagte zu ihm: „Junger Mann, in Deinem Alter solltest du lächeln!“ Er begann zu lächeln und sagte: „Jetzt sehe ich in Dir Freundlichkeit, Güte.“ Unser Gespräch war von großer Zuneigung geprägt. Er hat mir einfach zugehört, wie ich von Frieden, Zusammenhalt und Einheit sprach. Ohne ein Wort zu sagen, hat er sich an seine Getreuen gewandt, die einen Mann herbeigebracht haben, den sie am Abend noch hinrichten sollten. Er sagte zu mir: „Sie sind zu uns gekommen, Sie haben zu uns gesprochen. Wir überlassen Ihnen diesen Mann. Sie können ihn mitnehmen.“ Wenn man beschließt, der Angst zu trotzen, rettet man Menschenleben. „Du sollst nicht töten“, das ist nicht verhandelbar! Ich kann es nicht zulassen, dass ein Mitglied meiner Gemeinschaft mir sagt: „Ein Christ wurde getötet, gib uns den Befehl, zu den Waffen zu greifen, die Macheten zu nehmen, um Muslimen den Kopf abzutrennen.“ Da sage ich „Nein“, auch wenn ich mein Leben damit riskiere, und das ist mir nicht nur einmal passiert.

 

Christen werden zunehmend Opfer von Hinrichtungen und Verfolgung auf dem afrikanischen Kontinent. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Kardinal Nzapalainga: In der Zentralafrikanischen Republik wurden am 1. Mai 2019 Granaten auf betende Christen geworfen, vierzehn Menschen starben. Ich bete für meine Brüder und Schwestern, die uns im Glauben verlassen haben. Ich glaube, sie werden Teil der großen Gemeinschaft der Heiligen. Meine Gedanken sind auch bei den Familien, die einen geliebten Menschen verloren haben. Ich habe dieses Blutbad verurteilt und gesagt, dass ich Böses nicht mit Bösem vergelte. Wenn sich die Probleme meines Landes mit Waffen lösen ließen, dann wäre das schon längst geschehen. Wir müssen auf einen Wandel hoffen. Die Regierungen und die internationale Staatengemeinschaft müssen jeden Menschen schützen. Leider haben wir den Eindruck, dass Glaubensgemeinschaften sich selbst überlassen sind.

 

Weiterhin kommen Waffen in Ihrem Land an, trotz der Anwesenheit internationaler Streitkräfte. Was erwarten Sie von der internationalen Staatengemeinschaft?

Kardinal Nzapalainga: Die internationale Staatengemeinschaft soll ihre Verantwortung wahrnehmen. Es kann nicht sein, dass ein Land Waffen herstellt und deren Weiterverkauf nicht kontrolliert. Waffen aus demokratischen Staaten tauchen in unseren Ländern auf. Wenn diese Menschen Afrika wirklich helfen wollen, müssen sie dazu beitragen, die Quelle trockenzulegen. Den Waffenherstellern sage ich, dass das Resultat offensichtlich ist: Wir weinen um unsere Toten, wir haben Krüppel, Behinderte, und niemanden, der sie pflegt. Habt Mitleid mit den Armen!

 

Wird dieser Appell von den ausländischen staatlichen Hilfsorganisationen nicht gehört?

Kardinal Nzapalainga: Echte internationale Zusammenarbeit würde Partnerschaft bedeuten. Ich mache mir nichts vor: Unsere Regierung ist schwach. Im Landesinneren sagte ein Rebellenführer sogar, dass er mit dem Unterpräfekten Mitleid habe, weil der noch nicht mal ein Fahrrad besitze! Und er, der Rebellenführer, fährt Motorrad und hat noch seine Männer! Wenn man meinem Land so wie vielen anderen auf unserem Kontinent helfen will, dann muss man zu einer effizienteren Strukturierung der staatlichen Verwaltung beitragen. Denn ohne Staat herrscht überall das informelle System. Das besteht aus den Rebellen, Kriegsherren, die über Leben und Tod entscheiden. Wissen die Diplomaten das nicht? Jeden Tag beschließen diese Leute, Bürger dieses Landes zu töten, zu verbrennen, zu verjagen. Wir wollen eine internationale Zusammenarbeit, die den Staat unterstützt, seine Macht zurückzuerlangen und seinen Pflichten nachkommen zu können. Die internationalen Hilfsorganisationen müssen aus den Hauptstädten ins Land hineingehen. Sie werden feststellen, dass die Menschen dort sich selbst überlassen sind.

 

Nach der Statistik der katholischen Kirche verzeichnet der afrikanische Kontinent mit rund 26 Prozent weltweit die stärkste Zuwachsrate an Christen. Was erwarten Sie von den Katholiken Afrikas?

Kardinal Nzapalainga: Christen haben eine prophetische Berufung: Wenn es Korruption gibt, müssen sie den Mut haben, diese aufzudecken und auch zu verkünden, dass das Geld anders verteilt werden kann. Sie können zu einer neuen Brüderlichkeit auffordern. Die afrikanischen Christen dürfen nicht wie Salz sein, das auf den Boden fällt und mit Füßen getreten wird. Sie müssen wie das Salz in der Suppe der Gesellschaft Würze verleihen. Wenn die Bischöfe eine Botschaft verfassen, dann sagen wir, was wir denken, um damit zu einem veränderten Handeln aufzufordern, zu einer Bewusstwerdung und einem Aufbruch.

 

Abschließend noch die Frage, was aus Ihrer Sicht heute die Prioritäten für Afrika sein sollten?

Kardinal Nzapalainga: Jugend und Bildung. Gibt es für die jungen Menschen genügend Schulen, Universitäten, Beschäftigungsperspektiven? Unsere Jugend ist eine leichte Beute, sie kann instrumentalisiert werden. An die Regierenden richte ich die Frage, warum unsere Jugend ihre Träume nicht in Afrika verwirklichen kann. Warum überall diese Vetternwirtschaft, diese Korruption, die Weitergabe der Macht innerhalb der eigenen Familie, der Eindruck, dass nur der eigene Clan von Bedeutung ist und dass die anderen ruhig sterben können? Das ist ein Krebsgeschwür für unseren Kontinent. Wenn wir dieses Afrika lieben, brauchen wir einen patriotischen Ruck, um es voranzubringen. Armut und Gerechtigkeit sind weitere Herausforderungen. Wir haben immer den Eindruck, dass das Gesetz im Dienste des Stärkeren steht. Wir sehen ja, wie multinationale Unternehmen die Rohstoffe bei uns ausbeuten: Diamanten, Gold, Holz, Erdöl, und dann verkaufen sie es uns wieder hundertmal teurer! Und wir werden hundertmal ärmer! Die Globalisierung muss auch dazu führen, dass wir offen miteinander reden, um die Art und Weise, wie wir Handel treiben, zu verändern. Wir wollen Chancengleichheit und Gleichbehandlung, um damit den künftigen Generationen Perspektiven zu eröffnen.

 

Dieudonné Kardinal Nzapalainga, geboren 1967 in Mbomou (Zentralafrikanische Republik), 1993 Eintritt in die Ordensgemeinschaft der Spiritaner, seit 2012 Erzbischof von Bangui.

 

Das Gespräch führte Jean-­Luc Mootoosamy am 11. Februar 2020. Mootoosamy, geboren 1973 in Rose Hill (Mauritius), Journalist, leitet die Beratungsfirma „Media Expertise“, die sich auf die Schaffung und Unterstützung von Medien in Afrika spezialisiert hat. Er ist sowohl Staatsbürger von Mauritius als auch der Schweiz.

Übersetzung aus dem Französischen: Ralf Pfleger, Straßburg.

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