Herr Kauder, ein ehemaliger Fraktionskollege hat über Sie gesagt: „Wenn es um das ‚C‘ geht, wird er zur Dampfwalze.“ Können Sie sich vorstellen, wie er darauf kam?
Volker Kauder: Das war mein Freund Georg Brunnhuber. Er wurde wie ich in jungen Jahren CDU-Kreisvorsitzender. Wir haben in der Politik und auch privat gemeinsam viel gemacht. Er hat mich beobachtet, wie ich schon früher oft über das „C“ gesprochen habe. Was ihn zu dieser Äußerung veranlasste, war aber wohl eine persönliche Begebenheit: Durch ein zeitliches Missverständnis kamen wir eines Tages mit unseren Frauen an einem Sonntag viel zu spät zur Kirche. Der Segen war gerade erteilt. Georg meinte, dass das ausreiche. Ich war der Ansicht, man könne den lieben Gott doch nicht auf den Arm nehmen. Ich muss das mit so viel Überzeugung vorgetragen haben, dass Schorsch schließlich ein Einsehen hatte. So gingen wir eineinhalb Stunden später noch einmal zum Gottesdienst.
Sie raten dazu, dass „wir als Christen mehr über unsere Religion und weniger über den Islam reden“ sollten. Warum und mit welchem Ziel?
Volker Kauder: Wir leben in einer Gesellschaft, in der der Staat über der Religion steht. Unser demokratischer Rechtsstaat macht die Gesetze, an die sich auch die Religionsgemeinschaften und die Anhänger der Religionen halten müssen. Das ist in einem demokratischen Staat selbstverständlich. Abgesehen davon genießen die Religionsgemeinschaften und ihre Angehörigen bei uns große Freiheiten. Jeder kann im Rahmen der Gesetze seinen Glauben frei leben und auch für seine Religion werben.
Das gilt für die Christen, für die Juden, für die Muslime. Natürlich leben wir in unserem Land in einer christlich-jüdischen Tradition. Ich bin dafür, dass wir dieses Erbe auch pflegen. Und nun komme ich zu meinem Punkt: Wir Christen müssen in einer zunehmend säkularen Welt, aber auch in einer Welt, in der es eben auch andere Religionen gibt, selbstbewusster über unseren Glauben sprechen. Wir müssen zeigen, was das Einzigartige an der christlichen Botschaft ist, warum es sich lohnt, christlich zu leben, was das persönlich aus mir macht, Christus nachzufolgen.
Insgesamt habe ich den Eindruck, dass das „C“ in unserer Gesellschaft blass geworden ist. Wir ruhen uns zu sehr auf der Tradition aus. Noch einmal: Wir müssen mehr über die christliche Botschaft reden.
Möglicherweise ist der 30. Juni ja ein Beispiel dafür. Auch mit Stimmen aus der Unionsfraktion hat der Deutsche Bundestag die sogenannte „Ehe für alle“ beschlossen. Wird diese doch eher im Hoppla-Hopp zustande gekommene Entscheidung zum gesellschaftlichen Frieden beitragen?
Volker Kauder: Schon den Ausdruck „Ehe für alle“ finde ich abwegig. Es wurde im Bundestag keine „Ehe für alle“ beschlossen – die Mehrheit hat dafür gestimmt, dass die Ehe nun auch für gleichgeschlechtliche Partnerschaften ermöglicht werden soll. Schon wegen dieses Begriffs wird die Entscheidung nicht die Diskussionen um die Zukunft der Ehe beenden. Warten Sie es ab: Es wird in einigen Jahren gefragt werden, ob eine „Ehe für alle“ nicht noch weiter geöffnet werden müsste. Vielleicht gibt es bald eine Debatte über eine Ehe zu dritt oder eine Ehe zu viert oder darüber, ob ein Mann mehrere Frauen haben darf. Für mich war dieser letzte reguläre Sitzungstag in dieser Wahlperiode kein schöner Tag. Ich sehe es schon als gewisse kulturelle Erschütterung an, dass nun die seit Jahrhunderten geltende Gewissheit nicht mehr gilt, wonach die Ehe eine Verbindung von Mann und Frau ist.
Welchen Stellenwert hat die Entscheidung für Christen innerhalb der CDU?
Volker Kauder: In vielen moralisch-ethischen Grundsatzfragen gibt es unter Christen Gemeinsamkeiten, aber auch unterschiedliche Auffassungen. Die katholische und die evangelische Kirche sind oft unterschiedlicher Meinung. Das spiegelt sich in der Union wider. Das „C“ bedeutet für uns, Politik auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes zu machen.
Haben Sie die Sorge, dass sich mancher konservative Christ in der Union nicht mehr so recht aufgehoben fühlen könnte?
Volker Kauder: Ich bin mir bewusst, dass es durchaus evangelische und katholische Christen gibt, die meinen, sie wären mit ihren Überzeugungen vielleicht besser bei der AfD aufgehoben. Da kann ich nur sagen: Schauen Sie sich doch bitte nur eine Aussage eines der beiden AfD-Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl näher an. Herr Gauland sagt, er sei nicht gläubig, betrachte sich aber als Kulturchristen, weil das Christentum halt zu unserer Kultur gehöre. Was ist das für ein Umgang mit dem Glauben! Das reduziert Jesus Christus auf eine Tradition, wie man in Bayern zum Beispiel zu einem bestimmten Anlass eine Lederhose trägt. Wer so über die christliche Religion spricht, ist einfach kein Vertreter von christlichen Grundwerten. Jeder Christ sollte sich zudem fragen, ob er sich mit einer Partei anfreunden kann, in der rechtsradikale Sprüche geduldet werden, in der einige das Gedenken an den Holocaust und die Gräuel des Nationalsozialismus relativieren, welche alle Werte des Christentums auf unbeschreibliche Art und Weise mit Füßen getreten haben.
Sie rechnen mit einer Verfassungsklage in Karlsruhe. Was wäre Ihre Erwartung an den Ausgang des Verfahrens? Wolfgang Bosbach hält die Klage für wenig aussichtsreich, weil die Richter nicht den Mut hätten, ein Parlamentsvotum zu kippen.
Volker Kauder: Spekulationen bringen nichts. Der bayerische Ministerpräsident hat angekündigt, dass die Staatsregierung eine Klage prüft. Dies sollte man jetzt einmal abwarten.
Mich bewegt aber eine andere Frage, die kein gutes Licht auf die Amtsführung unseres Bundesjustizministeriums wirft. Das Bundesjustizministerium hat 2015 auf eine Kleine Anfrage hin dem Deutschen Bundestag mitgeteilt, dass aufgrund der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Ehe die Verbindung von Mann und Frau sei und eine Öffnung der Ehe ohne Änderung des Grundgesetzes nicht möglich wäre. In Interviews vor der Entscheidung des Deutschen Bundestags teilt der Bundesjustizminister dann aber plötzlich mit, dass nach seiner Auffassung eine Änderung des Grundgesetzes nicht notwendig sei. Am Tag der Bundestagsentscheidung sagt er im ZDF-Morgenmagazin schließlich: Es wäre natürlich schöner, wenn man eine Grundgesetzänderung hätte vereinbaren können. Nach diesen widersprüchlichen Aussagen bleibe ich dabei: Das Bundesjustizministerium und sein Minister müssen sehr aufpassen, nicht weiter den Eindruck zu vermitteln, dass verfassungsrechtliche Beurteilungen dieses Hauses von politischer Opportunität abhängig seien. So kann man mit dem Grundgesetz nicht umgehen.
Sie mahnen ein größeres Selbstbewusstsein von Christen an. Gleichzeitig lassen Sie nichts unversucht, auf die schwierige Lage der Christen in vielen Ländern hinzuweisen. Wie viel christliche Gestaltungskraft ist noch vorhanden in einer Welt, die im Westen von fortschreitender Säkularisierung, in anderen Ländern zum Teil aber von zunehmender Verfolgung geprägt ist?
Volker Kauder: Christen stehen in vielen Teilen der Welt massiv unter Druck. In China und Nordkorea beispielsweise, aber auch in unserer unmittelbaren Nähe im Orient. Dabei zeigen Christen gerade in einer besonderen Verfolgungssituation eine unglaubliche, mich tief berührende Kraft. Ich denke etwa an die Kopten in Ägypten, die trotz der blutigen Anschläge – auch in jüngster Zeit – ihre Gottesdienste besuchen und mir erklären, sie seien von Gott als Märtyrerkirche ausersehen worden.
Welche Eindrücke bringen Sie noch von Ihren Reisen mit?
Volker Kauder: Christen tun überall auf der Welt Gutes. Selbst wenn ihnen Rechte genommen werden, helfen sie anderen, unterhalten Schulen, Krankenstationen, Waisenhäuser. Das zeigt die Kraft des Christentums. Dieser Kraft müssen wir uns auch in Deutschland bewusster werden. Wir Christen, die durch die Aufklärung gegangen sind, akzeptieren auch andere Religionen. Wir sind tolerant, weil Jesus uns dies vorgelebt hat. Wir wollen mit allen Religionen gut zusammenleben. Wir können dies aber auch von den Angehörigen anderer Religionen verlangen. Dort, wo das nicht geschieht, müssen wir dies anmahnen und einfordern. Es bleibt aber eine Tatsache, dass Christen vielfach dort bedrängt sind, wo Muslime eine Mehrheit haben oder der Islam die Staatsreligion ist.
Sie sagen, Religionsfreiheit sei „das zentrale Menschenrecht überhaupt“. Können Sie uns das erklären?
Volker Kauder: Die Frage nach dem Sinn des Lebens und die Frage, ob nach diesem irdischen Leben noch etwas kommt, beschäftigen die Menschen wie nichts anderes. Selbst diejenigen, die nicht glauben, legen viel Energie in die Begründung, warum es Gott nicht gibt und warum sie nicht glauben. Die Beschäftigung mit diesen Fragen ist Wesensmerkmal des Menschen. Und noch etwas: Für mich ist das zentrale Menschenrecht die Freiheit. So steht es im Galater-Brief. „Zur Freiheit seid ihr berufen“, heißt es dort. Meine Begegnungen in der Welt haben mir gezeigt, dass es nirgendwo richtige Freiheit gibt, nicht die Meinungsfreiheit, nicht die Pressefreiheit, wo keine Religionsfreiheit herrscht. Auch deshalb hat die Religionsfreiheit einen solchen Stellenwert für mich.
Vor sieben Jahren brachte die Union die Lage der weltweiten Religionsfreiheit auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestags. Inzwischen gab es auch aus dem Auswärtigen Amt einen Bericht der Bundesregierung, den Sie aber kritisiert haben.
Volker Kauder: Trotz des Bekenntnisses im Koalitionsvertrag zum Kampf für Religionsfreiheit war es nicht einfach, das Auswärtige Amt zu diesem Bericht zu bewegen. Die Grünen haben in dem Fall mitgeholfen. Allerdings ist dieser Bericht viel zu allgemein gehalten. Die Lage der Religionsfreiheit kann aber nur länderspezifisch beurteilt werden. Dies wollte das Auswärtige Amt offenbar nicht, um keine Probleme mit einzelnen Ländern zu bekommen. Das muss sich in der kommenden Wahlperiode ändern. Wir müssen Defizite in einzelnen Staaten deutlicher beim Namen nennen.
Sie fordern darüber hinaus einen Sonderbeauftragten der Bundesregierung für Religionsfreiheit. Mit welchem Ziel?
Volker Kauder: Ein Sonderbeauftragter für Religionsfreiheit kann viel stärker auf die tägliche politische Diskussion einwirken. Ein erster kleiner Durchbruch ist aber auf europäischer Ebene gelungen: Ján Figel’ ist von Jean-Claude Juncker zum Sondergesandten für Religionsfreiheit der EU-Kommission berufen worden. Herr Figel’ muss aber eine bessere Ausstattung bekommen.
Wie verlaufen die Diskussionen über die Religionsfreiheit auf internationaler Ebene? Ist es richtig, dass dort alle für die Religionsfreiheit sind, aber wenn es dann beispielsweise bei Muslimen um den Religionswechsel geht, Vorbehalte vorhanden sind?
Volker Kauder: Wir sind hier in den vergangenen Jahren sicher auch durch die Initiative der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und der Konrad-Adenauer-Stiftung einen großen Schritt weitergekommen. Wir haben zwei große Parlamentarier-Konferenzen veranstaltet, eine in New York am Sitz der Vereinten Nationen, eine in Berlin. Die Teilnehmer kamen aus der ganzen Welt und repräsentierten alle Weltreligionen, aber auch ganz unterschiedliche Parteien. Ja, es hat sich ein Netzwerk „Religionsfreiheit“ gegründet, das seinesgleichen sucht. Alle sind sich hier einig, die Religionsfreiheit zu verteidigen. Aber es gibt durchaus unterschiedliche Auffassungen. Bei dem zentralen Thema des Religionswechsels haben Muslime streckenweise eine andere Position. Dennoch war auf den Konferenzen feststellbar, dass diejenigen, die gesagt haben, ein Religionswechsel muss durch den Staat unter Strafe gestellt werden, in einer Minderheitenposition waren.
Im Namen Gottes wird immer mehr auf der Welt gemordet …
Volker Kauder: Religion – heute zunehmend der Islam – wird machtpolitisch missbraucht, auch um einigen Ethnien Vorteile zu verschaffen. Das wird leider nicht aufhören. Daher muss sich in der Weltgemeinschaft die Auffassung durchsetzen, dass sich Religionen nicht über den Staat stellen können und erst recht nicht über den Einzelnen, sondern dass der Einzelne über der Religion steht. Im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen haben islamische Länder immer wieder verlangt, ausschließlich die Religion zu schützen. Und wir haben stets gesagt, dass es bei der Religion um die Freiheit des Einzelnen geht. Die Religionsfreiheit ist ein höchst persönliches Menschenrecht und nicht zuallererst das Recht der Religionsgemeinschaften, die dann oft ihre Macht über die Menschen ausspielen wollen.
Sie haben gesagt, „wir müssen alles daran setzen, dass dieses Europa ein Europa des christlichen Glaubens bleibt“. Sind Sie, nachdem in Straßburg eines großen Christdemokraten und Europäers, des verstorbenen Bundeskanzlers Helmut Kohl, gedacht worden ist, hoffnungsvoller oder pessimistischer gestimmt, dass „ein Europa des christlichen Glaubens“ nicht doch nur noch ein Wunschbild ist?
Volker Kauder: Ich wünsche mir ein Europa, das aus der christlich-jüdischen Tradition lebt. Diese Wurzel müssen wir uns bewahren. Bei dem Trauerakt im Europäischen Parlament und dem bewegenden Requiem im Dom zu Speyer ist diese Wurzel wieder sichtbar geworden. Auch darum war dieser Tag so beeindruckend.
Dieser Tag hat auch gezeigt, was ein Mensch wie Helmut Kohl, der aus dem christlichen Glauben heraus seine Kraft gezogen hat, schaffen und bewältigen kann. Er ist ein Vorbild auch für die Generation der heutigen Politiker. Und noch ein Gedanke: Ich bin überzeugt, dass wir die große Verantwortung haben, unseren Kindern zumindest diesen Glauben zu vermitteln, sie damit bekannt zu machen. Sie können dann selbst entscheiden, ob sie diesen Glauben annehmen und leben wollen. Wir müssen es aber immer wieder versuchen. Der christliche Glaube macht die Welt besser.
Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 3. Juli 2017.
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Volker Kauder, geboren 1949 in Hoffenheim, Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag.