Asset-Herausgeber

Jesco Denzel / Steffen Kugler

Interview: "Polarisierung ist kein Schicksal"

von Joachim Gauck
von Bernd Löhmann

Joachim Gauck über emotionsgeladene Antipolitik, forcierte Fortschrittsmodelle und die kämpferische Tugend der Toleranz

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Herr Bundespräsident, wie bewertet ein – nach eigenen Worten – „Liebhaber der Freiheit“ verordnete Kontakt- und Reisebeschränkungen in der Pandemie?

Joachim Gauck: Wenn ich noch ein junger Mensch wäre, stünde der Wunsch nach Ungebundenheit und Freiheit von Zwang im Zentrum meiner Freiheitsdefinition. Aber älter geworden, lautet sie: Die Freiheit der Erwachsenen heißt Verantwortung. In diesem Satz spiegelt sich ein Denken wider, das anerkennt, dass es nicht nur eine Freiheit von etwas, sondern auch zu etwas geben muss. Das Schöne daran ist, dass sich Menschen nicht nur als Befreite fühlen können, sondern sie auch in ihrem konstruktiven Gestaltungsvermögen angesprochen sind. Insofern kann ich auch mit begrenzter Freiheit leben, sofern sie intensiv debattiert und begründet worden ist und einem positiven Zweck dient. Es klingt paradox, aber in Verantwortung gelebte Freiheit bedeutet in dieser außergewöhnlichen Situation, sich selbst einzuschränken.

 

„Corona-Leugner“ und „Impfgegner“ gebärden sich auf Demonstrationen wie Freiheitskämpfer. Inwieweit werden damit Toleranzgrenzen angetastet?

Joachim Gauck: Vor dem Gesetz haben alle die gleichen Rechte, und das gilt, obwohl es schwerfällt, selbst für böswillige oder dumme Menschen. Alle dürfen sich friedlich versammeln und für ihre Meinung demonstrieren. Das gehört dazu, aber ebenso eindeutig dürfen wir ihre Ansprüche kritisch hinterfragen und denen, die mit kruden historischen Vergleichen oder Verschwörungstheorien Angst und Hass schüren wollen, energisch widersprechen. Wenn ich in diesen Tagen etwa Demonstranten höre, die „Wir sind das Volk“ rufen, dann stimmt etwas nicht. Das war die Delegitimierungsformel der Demokratiebewegung in der DDR gegen eine Regierung, die – im Gegensatz zu heute – eben nicht aus freien und gleichen Wahlen hervorgegangen ist.

 

Bevor ein falscher Zungenschlag entsteht: Sie sagen nicht etwa, dass die Leute, die auf „Corona-Demos“ unterwegs sind, alle „dumm“ seien?

Joachim Gauck: Nein, das sage ich keineswegs, sondern nur, dass unter ihnen oftmals Wortführer sind, die mit phantastischen verschwörungstheoretischen Ansätzen an die Öffentlichkeit gehen und glauben, Wissenschaft ignorieren zu können. Unter den Demonstranten sind auch sehr respektable Bürger aus der gesellschaftlichen Mitte, manchmal sogar von links, die durchaus legitime Kritik an den Maßnahmen haben können. Der Dirigismus geht uns zu weit, sagen sie. Aber sie sollten sich überlegen, ob sie gut an der Seite von Leuten aufgehoben sind, die mit dem demokratischen System sowieso ihre Probleme haben, zum Teil extremistisch sind und so tun, als ob sie Freiheitskämpfer wären. Aber die Freiheit ist in diesem Land nicht in Gefahr, und die Regierung wandelt nicht auf autoritären Pfaden. Dies zu unterstellen, ist böswillige Propaganda.

 

Das „Klima ist rauer geworden“ – das schrieben Sie in Ihrem Buch über Toleranz schon vor Ausbruch der Pandemie. Inwieweit befürchten Sie, dass das lang andauernde Pandemiegeschehen die Gesellschaftsatmosphäre weiter verhärtet?

Joachim Gauck: Ich schrieb dies aus der Sorge heraus, dass wir in eine Situation geraten könnten wie in den USA oder Polen, wo die Gesellschaften – bisher stärker als bei uns – polarisiert sind. Wenn Sie jetzt fragen, ob die gegenwärtige Debatte Spaltungstendenzen befördern könnte, dann stimme ich dem zu. Über die Corona-Restriktionen entstehen Grundsatzstreitigkeiten, etwa über das Verhältnis von Freiheit und Schutz des Lebens, und dabei kommt auch der Verdacht autoritären Regierungshandelns auf. Tatsächlich werden Grundrechte absichtsvoll eingeschränkt. Das ist in etwa vergleichbar mit dem, was die alte Bundesrepublik im Zuge der Debatte um die Notstandsgesetze erlebte, als sich die jüngere Generation teils in Widerspruch zum politischen Establishment begab. Insofern sind solche Protestentwicklungen nicht neu. Aber anders als in den 1960er-Jahren gibt es inzwischen eine lange Geschichte des liberalen Regierungs- und Verwaltungshandelns. Damit sich Spaltungen nicht vertiefen, muss die Gesellschaft das Gefühl haben, der Regierung und ihren Maßnahmen vertrauen zu können. Deswegen ist es ja so wichtig, dass sich die Politiker und Experten um Transparenz und Erklärungen bemühen.

 

Verdächtigungen können, wie Donald Trump beweist, Gesellschaften prägen. Auch nachdem die US-Bürgerinnen und -Bürger einen neuen Präsidenten gewählt haben, bleibt der Fokus der politischen Beobachter auf der tiefen Spaltung der amerikanischen Gesellschaft. Ist die Polarisierung so stark, dass selbst der mächtigste Mann der Welt dagegen chancenlos bleibt?

Joachim Gauck: Polarisierung ist sicher kein Schicksal. Aber Joe Biden wird es schwer haben. Er steht, wie er es formuliert hat, vor der Aufgabe, das Land zu versöhnen. Einerseits muss er Menschen, die sich in den Lügengebäuden Donald Trumps eingerichtet haben, mit einer Vertrauen schaffenden Botschaft herauslocken. Gleichzeitig hat er es mit Anhängern eines forciert linken Fortschrittsdenkens zu tun, etwa einem Teil der universitären Eliten. Noch ist ungewiss, welche Rolle beispielsweise die neue Vizepräsidentin spielen wird. Wird sie eine Repräsentantin linker Strömungen oder Pressure-Groups, die gruppenzentrierte Fortschrittsmodelle vorantreiben? Oder wird es Joe Biden gelingen, mit ihr eine liberale „sozialdemokratische“ Politik wie etwa in Deutschland oder Skandinavien zu entwickeln? Auch ist ungewiss, ob es beiden gelingen kann, die tiefe Spaltung in der US-Gesellschaft zu überwinden sowie die Angriffe auf die liberale Demokratie und ihre Institutionen abzuwehren.

 

Inwieweit sind die Polarisierungstendenzen in den USA und in Deutschland vergleichbar?

Joachim Gauck: Viele strukturelle Gegebenheiten sind bei uns zwar anders. Andererseits gibt es auch hier – besonders an Universitäten oder im künstlerischen Bereich – ein gruppenzentriertes Fortschrittsdenken mit seinen sehr neuen und speziellen Themen. Diese werden aber vom Gros der Bevölkerung kaum wahrgenommen. Oftmals wird auch die Sprache, mit der dieser gesellschaftspolitische Wandel forciert wird, als eine der Ursachen der Entfremdung von einfachen Wählern, etwa der Arbeiterschaft, interpretiert. Für Frankreich haben Didier Eribon oder Pascal Bruckner darauf verwiesen, wie durch ein solches Fortschrittsdenken der Rückhalt ganzer Bevölkerungsteile verloren gehen konnte.

Meine Kritik an diesen Bewegungen ist eine liberale; daneben gibt es eine dezidiert linke Argumentation, die kritisiert, dass das gruppenzentrierte Fortschrittsdenken der Kulturlinken die ureigenen Interessen linker Politik vernachlässigt und sich kaum um die Interessen der Arbeiterschaft kümmert, was den Bedeutungsverlust linker Parteien zum Teil erklärt.

 

In Ihrem Buch sagen Sie, dass auch in Deutschland relevante Bevölkerungsteile übersehen werden.

Joachim Gauck: Was mich gestört hat, ist die neue Aggressivität und Giftigkeit, zumal in den Netzdiskursen. Politisch interessant ist aber: Was hat eine relevante Anzahl von Menschen bewegt, an Bewegungen teilzunehmen oder Parteien zu wählen, die außerhalb des traditionellen Parteienspektrums agieren? Diese Menschen fühlten sich parlamentarisch nicht oder nicht ausreichend vertreten – deutlich erkennbar in der Zuwanderungsthematik und auch in der Europapolitik. Weil sie den Eindruck hatten, nicht berücksichtigt zu werden, haben sich Menschen aus dem konservativen Lager mit Gruppen verbunden, die eindeutig demokratiefeindliche, teilweise sogar rechtsextremistische Positionen vertreten.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums erleben wir zum Beispiel mit „Fridays for Future“ ebenfalls eine Bewegung, die davon überzeugt ist, im parlamentarischen System nicht ausreichend wahrgenommen zu werden. Und ihre Anhänger sind teilweise bereit, emotionsgestützt in letzte Glaubenskriege zu ziehen – wobei Greta Thunberg wie eine Heilige Johanna verehrt wird. Da geht es um letzte Dinge, und man fragt sich, wie diese lobenswerte Aktivierung enden wird – in einem großen moralischen Aufbruch, der in aktive Politik mündet (das würde ich mir wünschen), oder wird dieser Aufbruch erschlaffen, wenn die letzten Ziele unerreicht bleiben – oder wird er die Fronten in der Gesellschaft verhärten?

 

Wenn Sie die Klima- und Umweltpolitik ansprechen, gibt es vielleicht nicht Mehrheiten, aber große Teile der Bevölkerung, die sich zumindest teilweise übersehen fühlen. Mit Traktorenkorsos haben zuletzt Landwirte auf sich aufmerksam gemacht.

Joachim Gauck: Vielleicht sollten wir stärker mithilfe der Wissenschaft entscheiden, welchen Protest wir politisch ernster nehmen als den anderen. Es ist sicher so, dass einigen Bevölkerungsgruppen ein großes Umdenken zugemutet wird oder sie real – gerade in der Zeit von Globalisierung und Digitalisierung – große Umbrüche hinzunehmen haben. Hier kommt es darauf an, dass die Politik Härten abfedert, wie etwa bei der Abschaffung der Kohleförderung, und alternative Möglichkeiten von Beschäftigung schafft.

 

Eine Grundthese Ihres Buches lautet wohl, dass wirkliche Veränderungen veränderungsbereite Mehrheiten voraussetzen. Bedeutet das unter Umständen auch, dass Minderheiten, die unter Diskriminierungen zu leiden haben, sich in Geduld üben müssen?

Joachim Gauck: Diskriminierungen sind bei uns grundgesetzlich, aber auch durch viele andere Gesetze verboten. Damit haben wir schon mal sehr viel erreicht, denn das ist die Leitlinie. Insofern kann von einer grundsätzlichen strukturellen Diskriminierung in unserem Land nicht gesprochen werden. Aber dann ist zu prüfen, inwieweit diese rechtlich abgesicherten Ansprüche im praktischen Leben tatsächlich verankert sind. Es gibt Menschen, die wegen ihrer Hautfarbe oder ihres Namens mit Alltagsrassismus konfrontiert sind. Oder die schlechtere Bildungschancen haben, weil sie aus bildungsfernen Familien stammen. Oder die schlechter bezahlt oder nicht mit Führungsaufgaben betraut werden, weil sie Frauen sind.

Da wird es immer Personen oder Gruppen geben, die sagen: Wir fordern gleiche Chancen. Und wir fühlen uns nicht richtig repräsentiert. Und dann wird darüber gestritten: Ist es beispielsweise richtig, Quoten für Frauen vorzusehen? Die einen sagen: Das ist hilfreich, und wir hätten alle mehr davon, wenn mehr Frauen in wichtigen Stellen aktiv wären. Und andere halten dagegen: Sind Frauen etwa irgendwie beeinträchtigt, dass sie besonderer Fürsorge bedürfen? Ist es erstrebenswert, wenn nicht mehr Leistungen oder politische Positionen darüber entscheiden, wer ausgewählt wird, sondern gruppenbezogene Quoten? Hier hat sich die Politik für Lenkungsinstrumente entschieden. Das kann ich nachvollziehen.

Einerseits macht das Aufbegehren von Minderheiten die Mehrheit also erst sensibel für tatsächliche oder subjektiv empfundene Ungerechtigkeiten. Deswegen ist die Geschichte der Demokratie auch eine Geschichte der Zunahme von Minderheitenrechten. Andererseits kann sich die Mehrheit gegen bestimmte Forderungen von Minderheiten aussprechen – in einer westlich-demokratischen Gesellschaft wird beispielsweise die Scharia Vorstellung einer religiösen radikalen Minderheit auf den Widerstand der Mehrheit stoßen. Dann muss die Minderheit diese Entscheidung akzeptieren.

 

Wie lassen sich Minderheitenrechte idealerweise durchsetzen?

Joachim Gauck: Homosexuelle Menschen haben politische Kräfte gefunden, die ihre Rechte Schritt für Schritt erweitert haben. Das geschah in jahrelangen Debatten, auch in harten Auseinandersetzungen und durch die Gründung von Interessenvertretungen. Mit Argumenten und ihrem praktischen Leben hat man die demokratische Mitte erreicht, und es ist eine maßgebliche Akzeptanz in der Bevölkerung und eine Mehrheit im Parlament gewonnen worden.

Das ist ja das Interessante: Solange wir nicht in einem abgeschlossenen System leben, verändern wir uns, auch und gerade in der Auseinandersetzung mit Minderheiten, selbst wenn es uns kulturell manchmal Schwierigkeiten macht.

 

Dabei kritisieren Sie eine „Intoleranz des Guten“ und nehmen „gendergerechte Sprache“ ins Visier: „Eine Zumutung und eine Verunstaltung“, argumentieren Sie. Warum entwickeln dann Antidiskriminierungsstellen trotzdem landauf, landab entsprechende Leitfäden?

Joachim Gauck: Man möchte sich nicht nachsagen lassen, dass man unsensibel ist, man möchte fortschrittlich sein. Mein Problem bei diesem Thema ist kein geringes, denn ich mag Menschen, die sich gegen Ungerechtigkeit und Diskriminierung einsetzen. Trotzdem gehen mir die Aktivitäten in diesem Bereich zuweilen auf den Wecker, und zwar, weil ich finde, dass der Bevölkerungsmehrheit unnachsichtige Vorgaben gemacht werden, die unter Umständen so früh kommen oder so ungeschickt und teilweise grotesk sind, dass sie ein gut gemeintes Ziel eher behindern als befördern – oder auch nur noch Kopfschütteln auslösen. Es geht nicht nur darum, über Ziele zu debattieren, sondern manchmal auch über das Maß und die Mittel.

 

Sie wenden sich gegen Vertreter der Identitätspolitik, die den Respekt vor der anderen Kultur und Lebensweise absolut setzen. Können Sie das erläutern?

Joachim Gauck: Unter anderem bin ich mit Mark Lilla oder Francis Fukuyama der Ansicht, dass ein Rückschritt darin liegt, partikulare Gruppeninteressen ins Zentrum zu setzen. Dieser neue Politikansatz „sägt“ nicht nur am Fundament der liberalen Demokratien, sondern sogar an der Idee universeller Menschenrechte.

Ich kann von der Idee der Gleichsetzung unterschiedlicher kultureller Ansätze immer dann nichts halten, wenn sie das humane Wertebewusstsein und das Bewusstsein von der Universalität der Menschenrechte schmälert – etwa mit Sicht auf die Freiheit des Einzelnen, die Rolle der Frau, generell auf das Recht, Rechte zu haben. Fehlt es daran, ist eine Kultur für mich partiell kritikwürdig. Ich bin davon überzeugt, dass die Wertebasis, die sich auf der Grundlage der Aufklärung entwickelt hat, ein verteidigenswertes Gut darstellt. Dies ist bereits oder kann in Zukunft den Unterdrückten aller Zeiten und Zonen zugutekommen.

 

Ein Beispiel bitte …

Joachim Gauck: Nehmen wir den politischen Islam. Liberale Muslime fühlen sich von jenen amerikanischen oder europäischen Intellektuellen im Stich gelassen, die aus lauter Furcht vor einem Kulturkrieg und vor der Anschuldigung, wir seien islamophob oder ausländerfeindlich, notwendige Kritik am politischen Islam vermeiden. Wenn sie beispielsweise Nachsicht gegenüber jenen übt, die Religionsfreiheit missbrauchen, um Freiheitsrechte anderer einzuschränken oder gegenüber Andersgläubigen sogar Terror anwenden. Das ist falsche Toleranz.

 

Wie viel Abgrenzung gestehen Sie zu?

Joachim Gauck: Von der Idee eines Miteinanders sollten wir nicht Abschied nehmen: Martin Luther King oder die Anti-Apartheid-Bewegung in Südafrika hatten nichts dagegen, dass alte weiße Männer und Frauen ihren Kampf unterstützten. In den USA haben Schwarze und Weiße gemeinsam in den 1960er-Jahren die „Civil Rights Acts“ durchgesetzt, die jegliche Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht oder nationaler Herkunft verboten haben. Neue Identitätspolitiker sagen aber, Weiße hätten in diesem Kampf gar nichts zu suchen, könnten auch daran gar keinen Anteil haben, weil sie nicht dazugehören. Ja: Niemand kann in die Haut eines anderen schlüpfen. Aber glücklicherweise verfügt der Mensch über Empathie. Und Solidarität macht nicht halt vor Menschen, die eine andere Hautfarbe haben.

 

Ihr Buch ist oft als Impuls für „mehr Toleranz nach rechts“ gedeutet worden. Inwieweit entsprach das Ihrer Absicht?

Joachim Gauck: Mir geht es um einen breiteren Toleranzbegriff. Nach soziologischen Untersuchungen in Europa und den USA weisen über dreißig Prozent der Bevölkerung eine „autoritäre Disposition“ auf, womit die Fachleute Menschen mit konservativen oder stark strukturkonservativen Einstellungen beschreiben. Das wirft die Frage auf: Ist das, was sich dort als Protestbewegung abzeichnet, schon faschistisch oder präfaschistisch? Einige Denker, Publizisten und Politiker sehen das so, aber ich kann das nur zum Teil nachvollziehen. Hier haben wir es mit einer Repräsentanzlücke zu tun. Es gibt Menschen, die ihr Unbehagen gegenüber einer beschleunigten Moderne politisch nicht genügend widergespiegelt sehen. Diese Fremdheit müssen wir erkennen und begreifen, dass nicht jeder, der sich fremd fühlt, schon ein Feind der Demokratie ist.

Wenn ich das Buch, sagen wir, 1970 publiziert hätte, hätte ich geschrieben: Nicht jeder, der an der Universität einer linksradikalen Gruppe beitritt, ist schon ein Unterstützer linker Terroristen. Es gibt jenseits dessen eine linke Bewegung, die wir noch akzeptieren müssen.

Politisch akzeptiere ich die AfD nicht und halte sie für verzichtbar. Aber ich muss erkennen, dass es Bürger gibt, die sich nicht ausreichend vertreten fühlen. Wohin sich die AfD entwickelt, ist noch nicht endgültig entschieden; meine Sorge ist, dass sie eher ins Rechtsextremistische abdriftet. Das sieht man besonders im Osten Deutschlands. Da darf man nicht taten- und ideenlos zuschauen. Es wird darauf ankommen, dass politisches Denken und besonders konservative Strategien Angebote für diejenigen entwickeln, die durch den forcierten Wandel verunsichert sind und befürchten, fremd in der eigenen Heimat zu werden. Und klar ist auch: Den Extremisten und Feinden unserer Demokratie müssen wir uns mit allen Mitteln unseres Rechtsstaats entgegenstellen.

 

Joachim Gauck, geboren 1940 in Rostock, evangelischer Theologe, 1989 Mitinitiator des kirchlichen und öffentlichen Widerstands gegen die SED-Diktatur, 1990 Einzug als Abgeordneter von Bündnis 90 in die zum ersten Mal frei gewählte Volkskammer, Oktober 1990 bis März 2000 Sonderbeziehungsweise Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, von 2012 bis 2017 Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Sein in Zusammenarbeit mit Helga Hirsch 2019 publiziertes Buch Toleranz: einfach schwer ist kürzlich als Taschenbuch erschienen.

 

Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 3. Dezember 2020.

 

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