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Interview: „Sisyphos war ein glück­licher Mensch“

Thorsten Frei über Streit und Staatseffizienz in Demokratien

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Herr Minister Frei, wie wichtig ist Streit für die Demokratie?

Sehr wichtig. Demokratie braucht Streit. Das Ringen um die beste Lösung gehört zum Wesen unseres politischen Systems.
 

Und doch: Zu viel Streit schadet der Demokratie – jedenfalls innerhalb einer Regierung und insbesondere, wenn er öffentlich ausgetragen wird. Die Ampelkoalition hat sich und die Öffentlichkeit daran erschöpft. Was haben Sie daraus gelernt? Welche Konsequenzen ziehen Sie aus den – nicht nur harmonischen – ersten 100 Tagen der schwarz-roten Koalition?

Natürlich müssen sich die Abläufe in einem Regierungsapparat dieser Größenordnung immer erst einspielen. Aber bitte bedenken Sie, dass diese Bundesregierung wortwörtlich vom ersten Tag an in die Vollen gegangen ist. Die Zahl der Vorhaben, die wir in der Kürze der Zeit auf den Weg gebracht haben, ist enorm. Dass es bei dieser großen Reformanstrengung auch einmal zu Reibungen kommen kann, liegt in der Natur der Sache.
 

Drei Parteien, zwei Fraktionen, 16 Ministerien, 16 Bundesländer – und das Kanzleramt mittendrin. Die Zahl Ihrer Stakeholder ist damit nur grob umrissen. Vor diesem Hintergrund erscheint Konfliktbewältigung als Sisyphos-Aufgabe. Wünschen Sie sich manchmal mehr „Basta“?

Sisyphos war ja bekanntlich ein glücklicher Mensch. Ich finde: Das „Basta“-Bild sollte man nicht überstrapazieren. Nicht jede Debatte ist ein erbitterter Streit. Angesichts der Dimensionen, über die wir hier sprechen und zu entscheiden haben, halte ich das intensive Verhandeln für zwingend notwendig. Und da sich diese Koalition aus drei eigenständigen und selbstbewussten Parteien zusammensetzt, wäre die Basta-Methode der falsche Ansatz.
 

In einigen westlichen Demokratien ist die Kettensäge zum Symbol für eine radikale Wiederherstellung staatlicher Effizienz geworden. Wie beurteilen Sie solche Bestrebungen?

Vor radikalen Ideen sollten wir uns hüten. Das hat auch in der Vergangenheit zu nichts Gutem geführt. Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein würde uns guttun: Deutschland ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, die ihre herausgehobene Position trotz all der Umbrüche seit vielen Jahren erfolgreich verteidigt. Wir haben Standards erreicht, um die uns die meisten Länder der Welt beneiden. Da gibt es keinen Grund für revolutionäres Gedankengut. Wir sollten unsere Institutionen reformieren und verbessern, nicht zerstören.
 

Würden Sie zustimmen, dass eine Reihe westlicher Demokratien – darunter auch Deutschland – aktuell ein „Performance-Problem“ hat, Schwierigkeiten in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft effizient zu bewältigen?

Leider ist das so. Ohne Zweifel gibt es viele Bereiche, in denen Reformen notwendig sind. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir mit mehreren Krisen gleichzeitig umgehen müssen. Das beginnt mit dem fürchterlichen Krieg in der Ukraine und reicht bis zu unserer Wirtschaftsstruktur, die zurzeit unter Druck steht. Und nicht zu vergessen sind die Folgen des Klimawandels, die uns dazu zwingen, die Energieproduktion und -versorgung neu auszurichten.

Tobias Koch

Autoritäre Staaten wie China holen wirtschaftlich, technologisch, militärisch – mindestens – auf. Sind komplexe und zeitintensive demokratische Verfahren ein struktureller Nachteil für die Wettbewerbsfähigkeit? Wenn ja, was wiegt diesen Nachteil auf?

Demokratische Prozesse mögen langsamer sein, aber als strukturellen Nachteil sehe ich unsere Verfahren keineswegs. Im Gegenteil: In liberalen und offenen Gesellschaften können neue Ideen viel unbeschwerter umgesetzt und getestet werden. Das Silicon Valley ist das beste Beispiel. Die liberale Demokratie und die Soziale Marktwirtschaft bleiben ganz sicher Grundlagen für unser Wohlstandsversprechen. Allerdings hängt es von den politischen Entscheidungsträgern ab, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass sich die Menschen zu Kreativität und Leistung motiviert fühlen.

Das Alltagsleben darf nicht zu kompliziert werden. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht selbst mit gut gemeinten Verordnungen und Gesetzen zu sehr blockieren oder gar selbst strangulieren. Denn die systemische Rivalität zwischen autoritären und liberal-demokratischen Systemen ist mittlerweile offensichtlich. Diese Bundesregierung ist daher mit dem festen Vorsatz angetreten, die Wettbewerbsfähigkeit und die Standortbedingungen in Deutschland nach Kräften wieder zu stärken. Denn eines sollte uns allen klar sein: Ohne Wachstum ist alles nichts. Gute Löhne, gute Renten und selbst die innere und äußere Sicherheit – das alles lässt sich nur mit Wirtschaftswachstum erreichen.
 

Sie haben gesagt: Das Gelingen Ihrer Arbeit bemisst sich daran, wie erfolgreich die Regierung als Ganzes zusammenarbeitet. Was sind Ihre Methoden, um dieses Zusammenspiel zu erreichen?

Eine Regierung kommt nur als Team zum Ziel. Das sollten alle Akteure verinnerlichen. Naturgemäß ist das keine einfache Sache bei Parteien, die regelmäßig Wahlkampf gegeneinander führen. Doch trotz dieser schwierigen Gemengelage ist es uns bereits gelungen, eine gute Atmosphäre zu erzeugen und schnell gute Ergebnisse vorzulegen. Eine enge inhaltliche Abstimmung und ein offener Gedankenaustausch sind dabei unerlässlich. Schwierige Themen sprechen wir möglichst frühzeitig an, und auch der breite Informationsfluss in die Fraktionen und in die Parteien muss sichergestellt sein.
 

Nach welchen Kriterien wählen Sie zwischen vermittelnder Moderation und klarer Führung?

Im Wettbewerb um die besten Ideen geht es zuallererst um überzeugende Argumente.
 

Wann ist es sinnvoll, Konflikte offen auszutragen? Und wann ist es geboten, sie zu begrenzen?

Es gibt die Wahlkämpfe, um Konflikte in aller Öffentlichkeit auszutragen und den eigenen Standpunkt herauszustreichen. Mit dem Koalitionsvertrag haben wir uns auf eine gemeinsame Schnittmenge verständigt, die wir jetzt umsetzen. Natürlich hält das Ringen um den besten Weg an, aber offene Feldschlachten sind da wenig hilfreich.
 

Was unterscheidet einen guten von einem faulen Kompromiss?

Richtschnur des eigenen Handelns muss die Frage sein, was gut für unser Land ist. Aus diesem Grund trägt der Koalitionsvertrag auch den Titel „Aus Verantwortung für Deutschland“. Wir gehen hier mit Leidenschaft ans Werk, um unser Land nach vorn zu bringen.
 

Inwieweit erschwert die schwierige Haushaltslage – trotz des milliardenschweren Sondervermögens – gute Kompromisse?

Mit Blick auf die nachwachsende Generation stehen wir in der Pflicht, den Haushalt zu sanieren. Deshalb würde ich nicht davon sprechen, dass gute Kompromisse erschwert werden. Im Gegenteil: Wir wollen eine gute Balance finden zwischen den Anforderungen, die sich heute stellen, und den Aufgaben, die wir unseren Kindern und Kindeskindern übergeben. Es ist unser Anspruch, der nächsten Generation ein gut bestelltes Haus zu übergeben.
 

Der „Herbst der Reformen“ ist eingeläutet. Was bringt der Winter auf die politische Agenda?

Wir treiben unsere Reformagenda weiter voran. Der Bundeskanzler hat bereits im September im Deutschen Bundestag gesagt, dass sich ein Winter, ein Frühling, ein Sommer, ein nächster Herbst mit Reformen anschließen werden. Wir wollen das Land voranbringen. Das steht im Mittelpunkt dieser Legislaturperiode. Das heißt, wir wollen Wachstum schaffen, Sicherheit stärken und Gerechtigkeit erneuern. Unsere Vorhabenliste ist noch lang.
 

Als Kanzleramtsminister sind Sie für fast alles zuständig, nur nicht für Weihnachtsbotschaften. Dennoch: Wie würden Ihre Friedenswünsche für die Deutschen lauten?

Ich wünsche den Menschen in unserem Land ein besinnliches Weihnachtsfest und ein gesundes und erfolgreiches Jahr 2026. Wir haben allerbeste Chancen, die vor uns liegenden Herausforderungen zu meistern. Deshalb wünsche ich in besonderem Maße auch Zuversicht und Tatkraft, um die vor uns liegenden Aufgaben anzugehen.


Die Fragen stellte Bernd Löhmann am 26. September 2025.