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Interview: "Wer Krankenhäuser bombardiert, gehört bestraft"

von Albrecht von Boeselager
von Bernd Löhmann

Albrecht von Boeselager, Großkanzler des Malteserordens, über die Möglichkeiten und Grenzen humanitärer Hilfe in Syrien

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Seit Ausbruch des Krieges leistet „Malteser International“ von der Türkei aus Hilfe in Syrien. Können Sie ein Lagebild der dortigen humanitären Situation skizzieren?

Albrecht von Boeselager: Insgesamt ist die humanitäre Lage in Syrien katastrophal, selbst wenn es regionale Unterschiede gibt. Der zivile Aufstand hat sich zu einem komplexen Bürgerkrieg mit einer unüberschaubaren Zahl kämpfender Gruppen entwickelt. Unter permanenter Verletzung des Völkerrechts durch alle Konfliktparteien eskaliert die Brutalität. In vielen Gegenden ist die Situation derart unübersichtlich und die Missachtung humanitärer Standards so eklatant, dass keinerlei Hilfe möglich ist. Dabei sind schätzungsweise dreizehn Millionen Menschen von humanitärer Hilfe abhängig.

Vage Zahlen gehen von 250.000 bis 470.000 Toten und 1,2 Millionen Verletzten aus. Die Hauptlast des Krieges trägt die Zivilbevölkerung: Bis zum Ersten Weltkrieg waren neunzig Prozent der Opfer von Kriegen Soldaten und zehn Prozent Zivilisten – heute ist es fast immer umgekehrt. Von einer Vorkriegsbevölkerung von rund 22 Millionen Menschen hat ein Viertel Syrien verlassen. 6,3 Millionen Binnenflüchtlinge, sogenannte „internally displaced persons“, sind im eigenen Land heimatlos.

Vor dem Krieg gehörte Syrien mit einem Bruttoinlandsprodukt von etwa 73 Milliarden US­Dollar (2012) zu den wohlhabenden Ländern der Region. Seitdem wurden 226 Milliarden Dollar kumulatives Bruttoinlandsprodukt zerstört. Im Alltag der Menschen steigen die Lebenshaltungskosten extrem, während es keinerlei Erwerbsmöglichkeiten gibt.

Entsprechend stürzt die Lebenserwartung ab, die Kindersterblichkeit explodiert. Nur wenige haben Zugang zur Gesundheitsversorgung – auch, weil die Gesundheitszentren gezielt angegriffen werden. In Aleppo ist das medizinische Personal entweder geflohen oder wurde getötet. Als Entführungsopfer stand es beim „Islamischen Staat“ hoch im Kurs, weil man es zur Versorgung eigener Verwundeter brauchte.

Wie funktioniert humanitäre Hilfe in einem Land, das von einem brutalen Bürgerkrieg zerrissen ist?

Albrecht von Boeselager: Allgemeine Aussagen sind schwierig, weil sich die Situation regional unterscheidet. In den Gebieten, die nicht von der Regierung beherrscht werden und wo staatliche Strukturen fehlen – also im Norden und Nordwesten des Landes –, findet Hilfe häufig sehr kleinteilig über persönliche Kontakte statt. Darüber hinaus versuchen wir, mit lokalen Partnern zusammenzuarbeiten – etwa mit christlichen oder anderen religiösen Organisationen. Dank dieser Kooperationen können wir inzwischen die medizinische Versorgung für mehr als 350.000 Menschen sichern.

Wie gefahrenträchtig ist der Einsatz?

Albrecht von Boeselager: Der Malteserorden ist in der Krisenregion bisher weder politisch noch physisch unmittelbar angegriffen worden. Doch sind sechzehn Helfer unserer syrischen Partnerorganisationen ums Leben gekommen.

Von uns wird eine ständige Evaluierung verlangt: Wie ist die Sicherheitslage? Ist der Hilfseinsatz verantwortbar? Gibt es eine Chance, effektiv zu helfen? Diese Fragen lassen sich nicht überall positiv beantworten – wegen der gezielten Angriffe auf humanitäre Einrichtungen und Helfer, weil oft nicht zwischen Kombattanten und Zivilisten unterschieden wird oder weil der Zugang zu Menschen in Not verwehrt ist.

In einem Kriegsgebiet arbeiten wir mit dem Mittel des Dialogs. Dabei schaffen Übereinkünfte mit den verschiedensten Akteuren die Grundlage, um überhaupt tätig werden zu können. Unsere Verantwortlichen und ihre Partner leisten dazu überaus anspruchsvolle Verhandlungsarbeiten. Um einmal ein Schlaglicht auf das Umfeld zu werfen: Syrien steht nach dem Bericht der Weltbank im internationalen Korruptionsindex auf Platz 178 von 180.

Findet eine Abstimmung mit den UN-Hilfswerken wie dem Welternährungsprogramm oder dem Flüchtlingshilfswerk statt?

Albrecht von Boeselager: Das kann ich bejahen – allerdings erneut mit der Einschränkung, dass die Hilfe aufgrund des sehr komplexen Lagebilds regional sehr unterschiedlich funktioniert. Immerhin wurde mit der sogenannten humanitären Verbindungsgruppe im Jahr 2013 ein Koordinierungssystem für die von der Türkei aus operierenden Hilfsorganisationen etabliert, das die verschiedenen Aktionsfelder wie Gesundheit, Schule und so weiter aufeinander abstimmt.

Die grenzübergreifenden Hilfen aus der Türkei werden von den Vereinten Nationen und einer großen Zahl internationaler und türkischer Nichtregierungsorganisationen geleistet. Diese sind durch die UN­Sicherheitsrat­Resolution 2165 legitimiert. Malteser International arbeitet eng mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zusammen; insbesondere gibt es enge Kontakte zur WHO­Vertreterin in Damaskus. Die Vereinten Nationen üben eine enorm schwere Aufgabe aus, um die sie niemand beneiden kann – vor allem auch deshalb, weil die Hilfe von den Kriegsparteien politisiert wird. Immer wieder droht beispielsweise die syrische Regierung damit, die Vertreter der Vereinten Nationen auszuweisen.

Der Malteserorden ist ein souveränes, nichtstaatliches Völkerrechtssubjekt. Hat diese Verfasstheit einen Einfluss darauf, dass Sie in einem Bürgerkriegsland wie Syrien tätig werden können?

Albrecht von Boeselager: Unser internationaler Status erleichtert die Arbeit in Konfliktregionen. Der Orden verfügt über diplomatische Beziehungen zu 108 Staaten, darüber hinaus zur Europäischen Union und zu den Vereinten Nationen.

Es gehört zu unserer Glaubwürdigkeit, politisch vollkommen neutral und unabhängig agieren zu können und nicht mit einem bestimmten Land in Verbindung gebracht zu werden. So konnten wir beispielsweise in Myanmar oder Kongo tätig werden, wo sonst niemand helfen konnte. Darüber hinaus arbeiten wir mit einer offenen Agenda: Jeder weiß, was wir tun und erreichen wollen. Das ist ein unentbehrlicher und meist wirksamer Schutz für unsere Helfer vor Ort. Menschen in Konfliktregionen haben einen wachen Sinn dafür, ob jemand dort ist, um zu helfen oder um möglicherweise auch Partei zu ergreifen.

Der Malteserorden ist eine katholische Ordensgemeinschaft, die 1099 während des ersten Kreuzzugs in Jerusalem gegründet worden ist. Löst das nicht in einem vorwiegend muslimischen Umfeld ein gewisses Misstrauen aus?

Albrecht von Boeselager: Der Orden ist einst im Heiligen Land gegründet worden, um verletzte Pilger zu pflegen und sich der Kranken und Armen anzunehmen. Die karitative Aufgabe stand historisch vor der späteren Entwicklung zu einem Ritterorden. Mit seiner Gründungscharta aus dem 11. Jahrhundert bekannte sich der Orden als weltweit erste Organisation dazu, allen Bedürftigen zu helfen – unabhängig von Herkunft, Religion oder Geschlecht. Entsprechend haben in unseren Hospitälern immer schon auch Juden und Muslime mitgearbeitet.

Und trotzdem zeigen Sie das Kreuz, das andere ja schon aus politischen Rücksichten abgenommen haben.

Albrecht von Boeselager: Sofern es sich nicht um fundamentalistische Länder handelt, ist das Tragen einen Kreuzes in den Augen der muslimischen Bevölkerung meist mehr ein Vorteil als ein Nachteil, weil die Menschen religiös sind und religiöse Motivationen verstehen, während ihnen säkulare Organisationen sehr viel verdächtiger vorkommen.

Dennoch scheinen Sie die Situation von Christen in der Region besonders im Blick zu haben …

Albrecht von Boeselager: Mein Eindruck ist, dass wir uns in Europa das Ausmaß der Tragödie, die in Syrien, im Irak und in der gesamten Region stattfindet, nicht genügend klarmachen. Da ist neben der Zerstörung Syriens die Katastrophe der Vertreibung von Christen, Jesiden und anderen Minderheiten – mit dem ganzen Leid, das damit verbunden ist. Dann ist da aber auch die Zerstörung einer jahrhundertealten, wenn nicht jahrtausendealten Kultur des Zusammenlebens, die – weiß Gott – nicht konfliktfrei war, aber immerhin existierte. Die Menschen der verschiedenen Religionen kannten sich untereinander. Doch unter den Restriktionen, die jetzt stattfinden, gehen diese Berührungspunkte verloren – und damit eine wichtige Basis des Dialogs.

In der schwer umkämpften Provinz Idlib, die noch unter der Kontrolle von Gegnern des Assad-Regimes steht, soll die humanitäre Situation besonders schlimm sein. Welche Kenntnisse haben Sie über die dortige Lage?

Albrecht von Boeselager: Der Grad der Zerstörung der zivilen und öffentlichen Infrastruktur ist in Idlib unvorstellbar, insbesondere durch die ständigen Bombardements. Rivalisierende Rebellengruppen sind in diesen Gebieten unterwegs. Innerhalb der sich verändernden Frontlinien sind viele Menschen dauernd auf der Flucht. Es ist bewundernswert, wie die syrische Gastfreundschaft und starke familiäre Bindungen noch Auffangnetze bilden. Letztlich aber stellt diese Hilfe für die örtliche Bevölkerung eine große Belastung dar. Der Zugang für internationales Personal ist aufgrund der Sicherheitslage und wegen des restriktiven Grenzregimes der Türkei sehr limitiert. Die Umsetzung unserer Hilfsprojekte lastet auf syrischen Helfern im Gebiet, und wir versuchen, diese soweit wie möglich zu unterstützen. 1,7 Millionen Menschen sind von Hilfsmitteln abhängig. Ungefähr 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge schlagen sich ohne ausreichende Versorgung und Unterkunft notdürftig durch. 250.000 Menschen leben in Feldlagern – oft ohne Wasser und Sanitärinstallationen – unter miserabelsten Bedingungen. Man spricht von „wilden Lagern“, weil sie ohne jegliche Planung auf unbefestigtem Schlammgrund errichtet worden sind. In den Zelten ist es im Sommer extrem heiß und im Winter extrem kalt, es regnet viel und es schneit sogar.

Sorgt die aktuelle Vereinbarung über eine entmilitarisierte Zone für mehr Sicherheit – vielleicht auch für Ihre Arbeit?

Albrecht von Boeselager: Den Menschen hat diese Vereinbarung zumindest vorübergehend weitere militärische Angriffe erspart. Weil bisher keine Übereinkunft von Dauer war, ist es aber wohl nicht mehr als eine Schonfrist. Möglicherweise waren nicht humanitäre, sondern militärische Aspekte entscheidend. Im Übrigen haben die in der Region kämpfenden Parteien nicht an dieser Vereinbarung teilgehabt und sprechen offen aus, dass sie sich nicht an sie halten wollen. Weiterhin ist unklar, wie es die türkische Regierung schaffen will, Kombattanten von Zivilisten zu unterscheiden und für eine gewisse Entwaffnung zu sorgen.

Angesichts Ihrer Lagebeurteilung scheint – anders, als es die libanesische Regierung beschreibt – kaum Aussicht zu bestehen, syrische Flüchtlinge zu- rückzuschicken.

Albrecht von Boeselager: Ebenso wie der UN­Flüchtlingskommissar bewerten wir die Situation so, dass die Gegebenheiten – ganz gleich in welchem Landesteil – eine Rückkehr von Flüchtlingen in Sicherheit und Würde derzeit nicht zulassen. Die meisten Fragen im Hinblick auf die Stabilisierung und den Wiederaufbau sind offen. Viel hängt davon ab, ob es eine Teilhabe verschiedener Bevölkerungsgruppen an diesem Prozess geben wird. Andererseits muss man die libanesische Regierung verstehen. Für sie geht es um eine Überlebensfrage.

Auf welche Szenarien stellen Sie sich mit Blick auf die Fortführung Ihres Engagements in Syrien ein?

Albrecht von Boeselager: Wir gehen davon aus, dass konkrete humanitäre Ersthilfe notwendig bleibt. Darüber hinaus haben wir Kontakte etwa zu syrischen Krankenhäusern aufgenommen, um – falls sich die Lage beruhigt und es die politischen Gegebenheiten erlauben – bei einem Wiederaufbau insbesondere der Gesundheitsstrukturen unterstützen zu können. Zurzeit gehen unsere Aktivitäten allein von der Türkei aus; sobald es möglich ist, wollen wir auch vom Libanon aus helfen – dem Land, in dem wir am stärksten engagiert sind.

Aus welchen Mitteln finanziert sich Ihr Engagement?

Albrecht von Boeselager: Der überwiegende Teil der Maßnahmen wird durch institutionelle Geber finanziert. Der größte Geber ist zurzeit die Bundesregierung, wofür wir besonders dankbar sind. Diese Mittel werden durch private Spenden und Stiftungsmittel so gut wie möglich ergänzt. Doch übersteigt der Bedarf die vorhandenen Mittel bei Weitem. Und je länger die Krise dauert, desto eklatanter wird die Finanzierungslücke, zumal die lokalen Ressourcen inzwischen total erschöpft sind. Insofern gibt es auch jenseits der Lage in Syrien Gründe, warum die Reichweite aller Hilfsorganisationen, die dort tätig sind, begrenzt ist.

Die Hauptlast der humanitären Gesamtfinanzierung tragen bisher wenige Staaten. Angesichts der wachsenden Anzahl von Konflikten wäre zu überlegen, ob auf Dauer nicht ein verpflichtendes Finanzierungssystem durch die UN eingeführt werden müsste.

Andererseits ersetzt Geld kein politisches Handeln.

Albrecht von Boeselager: Das ist richtig: Zwar ist beispielsweise die Europäische Union einer der größten Geldgeber, ihre Ziele in der Syrienpolitik bleiben bislang aber unklar. Es wäre wünschenswert, dass sie zu einer kohärenteren politischen Strategie findet. Darin liegt aus unserer Sicht eine Vorbedingung, um die Aussichten für einen erfolgreichen und gerechten Friedensprozess unter Aufsicht der Vereinten Nationen zu verbessern.

Darüber hinaus halten wir es für notwendig, dass die Staatengemeinschaft mit mehr Nachdruck für den bedingungslosen Schutz von Zivilisten und die humanitären Völkerrechtsprinzipien eintritt. Menschenrechtsverletzungen müssen sanktioniert werden: Wer Krankenhäuser bombardiert oder humanitäre Helfer angreift, gehört bestraft.

Das Gespräch führten Bernd Löhmann und Michelle Biallowons, Redaktionsmitarbeiterin, am 10. Oktober 2018.

Albrecht Freiherr von Boeselager, geboren 1949 in Altenahr, Jurist, 1989 bis 2014 Großhospitalier des Souveränen Malteserordens, seit 2014 amtierender Großkanzler des Ordens.

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