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von Christine Henry-Huthmacher

Über veränderte Kinderbilder

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Das Bild vom Kind wurde über Jahrhunderte an die gesellschaftlichen Entwicklungen angepasst und spiegelt die Erziehungsvorstellungen der jeweiligen Zeit wider. So war für die Babyboomer-Generation – Menschen, die in den 1950er- und 1960er-Jahren geboren wurden – das brave und gehorsame Kind sowohl das bestimmende Kinderbild, das es anzustreben galt, als auch das vorherrschende Leitbild der Kindererziehung. Ordnung, Disziplin und Gehorsam waren die Maximen, die das Aufwachsen nur in engen Grenzen zuließen. Das Kinderbild war bestimmt durch ein Sich-Einfügen und Unterordnen in die Welt der Erwachsenen. Dieses Verständnis von Kind und Kindheit hat sich ebenso wie der Erziehungsstil in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Das Leitbild des braven Kindes ist seit Langem vom Leitbild des selbstständigen Kindes abgelöst worden. Damit änderte sich auch der Erziehungsstil vom Befehlshaushalt zum Verhandlungshaushalt. Generell möchten Eltern keine angepassten Kinder mehr, die sich unterordnen. Im Gegensatz zu den 1960erJahren sind Kinder heute als eigenständige Subjekte mit individuellen Wünschen und Bedürfnissen anzuerkennen. Starre Persönlichkeiten, wie sie als Leitbild in den 1960er-Jahren galten, sind dem beschleunigten Wandel nicht mehr gewachsen.

Kinderbilder sind Menschenbilder, die von kulturellen Modellen geprägt sind. Wie das Kinderbild der Babyboomer-Generation im Vergleich zum aktuellen Kinderbild des selbstständigen Kindes verdeutlicht, bewegt es sich zwischen den beiden Grunddimensionen von Autonomie und Verbundenheit, die auch Grundbedürfnisse und kulturelle Werte darstellen. Während heutige Kinderbilder das selbstständige Denken, Handeln und Urteilen des Kindes in den Vordergrund stellen, stand die Verbundenheit, sich als Teil eines sozialen Miteinanders zu verstehen, in den 1960er-Jahren weit stärker im Vordergrund. Kinder wurden zur Gemeinschaft, zu einem sozial kompetenten Menschen hin erzogen. Zwar ist die soziale Kompetenz nach wie vor relevant, doch ist das heutige Erziehungsideal ein anderes. „Die spätmoderne Erziehungspraxis ist ein Singularitätsprogramm des Kindes. Jedes Kind, so die Überzeugung, ist anders und besonders – und so soll es auch sein“ (Reckwitz 2017, S. 331).

Der Wandel der Konstruktion der sozialen Figur „Kind“ vom Objekt elterlicher Gewalt zum eigenständigen Subjekt wird „(b)esonders deutlich […] in der 1990 erfolgten Neufassung des ‚Achten Buches Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII; KJHG)‘, wo der Term ‚elterliche Gewalt‘ durch ‚elterliche Sorge‘ ersetzt wurde“ (Schneider 2015, S. 9). Damit rückte das Wohlergehen des Kindes in den Mittelpunkt der erziehungs- und familienpolitischen Debatten.

 

Kindzentrierung und psychologische Autonomie

 

Das aktuelle Bild vom Kind, das in der deutschen Öffentlichkeit beziehungsweise im öffentlichen Leben vorherrscht, ist eine Spiegelung der Sozialisationsphilosophie der Mittelschicht. Diese Philosophie orientiert sich an einer unbedingten Kindzentriertheit in der Familie und der Umwelt, die auf das einzelne Kind ausgerichtet ist. Kinder haben Rechte, die in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen festgehalten sind und die sich in vielfältiger Weise in Orientierungsplänen und Curricula für Kindergärten und Schulen ebenso wiederfinden wie auch in der Diskussion über die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz. Die Kindzentrierung in den Familien bedeutet, dass Kinder mit ihren Bedürfnissen, Ansprüchen und Wünschen ernst genommen und wie Partner behandelt werden sollen. Das Kind steht im Mittelpunkt der Familie. Grundlage der Kindzentrierung sind drei Säulen: Individualität, Selbstbestimmung und Selbstreflexion (Keller 2015, S. 15). Das Kind wird vom ersten Lebenstag an als individuelles, einzigartiges Lebewesen behandelt. Es hat das Recht auf unbedingte und ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern, insbesondere der Mutter.

Bereits das Baby wird als gleichberechtigter Interaktionspartner angesehen, dessen Signale und Zeichen in einem Dialog auf Augenhöhe einbezogen und entsprechend interpretiert werden. Das Kleinkind soll frühzeitig Entscheidungen selbst treffen, zum Beispiel, ob es mit anderen Kindern spielen will oder lieber allein sein möchte. Es soll möglichst frühzeitig lernen, mit sich selbst klarzukommen und nicht von anderen abhängig zu sein. Dabei sind die Eltern, insbesondere die Mutter, ständige Ansprechpartner, die unaufhörlich Fragen stellen und die Wünsche, Intentionen und Präferenzen des Kindes zu interpretieren versuchen. Die Interpretationen der Befindlichkeit der inneren Welt des Kindes werden als bedeutsam für die Entwicklung einer sicheren Bindung betrachtet. Viel Lob, positive Emotionen und permanente positive Rückmeldungen sind wesentliche Elemente der Erziehung. Paradoxerweise werden dadurch neue Abhängigkeiten geschaffen. Kinder, die gewohnt sind, die Aufmerksamkeit der Bezugspersonen mit Lob für alle ihre Äußerungen einzufordern, sind auf ständig positive Rückmeldungen für ihr Selbstwertgefühl angewiesen.

Das vorherrschende Bild vom Kind basiert auf dem Ansatz der psychologischen Autonomie, der besagt, sich frühzeitig seiner individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten bewusst zu werden und zu selbstständigem Denken, Urteilen und Handeln in der Lage zu sein. Sozialverhalten bedeutet dabei das Aushandeln der Interessen gleichberechtigter Partner (Keller 2015, S. 15 ff.).

 

Das didaktische Kinderbild

 

Dieses Kinderbild ist in seiner Umsetzung für die Entwicklung, Erziehung und Bildung jedoch an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Dabei ist Zeit eine wichtige Voraussetzung, um Kindern ungeteilte Aufmerksamkeit und Rückmeldungen zukommen zu lassen. Um sich die Zeit und die damit verbundenen Förderungen leisten zu können, müssen materielle Voraussetzungen gegeben sein. Es ist daher wenig erstaunlich, dass dieses kulturelle Modell der psychologischen Autonomie auf Familien mit wenigen Kindern fußt, deren Eltern eine hohe formale Bildung aufweisen und über die notwendigen finanziellen Grundlagen verfügen.

Die Didaktik orientiert sich in ihrem Kinderbild an dem gegenwärtig vorherrschenden Kinderbild der psychologischen Autonomie. Das Schulkind arbeitet selbstständig, ist grundsätzlich lernfähig, neugierig und motiviert. Entsprechen Schulkinder diesem Bild nicht, wird dies mit institutionellen Umständen, sozialer Herkunft oder gesellschaftlichen Ursachen erklärt. Kinder sollen von ihren Potenzialen her wahrgenommen werden. Damit hat ein Wandel von der natürlichen Begabung hin zu den Potenzialen stattgefunden. Jedes Kind hat Potenziale, die in schulischen und formalisierten, möglichst individuell zugeschnittenen Lernprozessen zur Entfaltung kommen sollen (Oelkers 2015, S. 20 f.). „Der schulische Unterricht soll sich nicht an den Defiziten orientieren, sondern an den Potentialen des Kindes, die mit Lob unterstützt werden sollen. Die Theorie der Potentiale hat keinen Raum für Erfahrungen außerhalb der Zielerwartungen. […] Reale Kinder sind dann oft einfach Abweichungen zu den Erwartungen mit einem entsprechenden Überraschungspotential für Eltern und Lehrer, an das man sich nicht gewöhnen soll“ (Oelkers 2015, S. 21).

 

Kollision der Erziehungslogiken

 

In den westlichen Gesellschaften gibt es unterschiedliche Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Traditionen und Kulturen. Sie haben somit auch andere Bilder vom Kind und andere Vorstellungen von Entwicklung, Erziehung und Bildung. Ein großer Teil der in Deutschland eingewanderten Familien weist ein niedriges Niveau formaler Bildung auf und lebt mit mehreren Kindern in größeren Familienverbänden. Familie wird verstanden als ein hierarchisches System von Rollen und Verpflichtungen, das die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander festlegt.

Diese Beziehungen sind als verpflichtend und verbindlich anzusehen und gelten lebenslang. Im Gegensatz zu dem vorherrschenden Kinderbild der psychologischen Autonomie ist dieses Kinderbild geprägt vom Sich-Einfügen in einen hierarchischen Sozialverband, in dem das Kind seinen Platz einnehmen und seinen Beitrag leisten muss. Dazu sind Anpassung und Respekt erforderlich. Während im Kinderbild der psychologischen Autonomie das Kind im Mittelpunkt steht, spielen die Älteren hier die führende Rolle. Nicht die Bedürfnisse und Rechte der Kinder sind maßgeblich für das Bild vom Kind, sondern seine Pflichten. Dabei ist die Übernahme sozialer Verantwortung ein wichtiges Lernziel der Kindheit. Dafür ist eine andere Form von Autonomie erforderlich, nämlich die Handlungsautonomie (Keller 2015, S. 16). Eltern mit Migrationshintergrund, die ihre Kinder in diesem traditionellen Kulturverständnis erziehen, stehen einem liberalen Erziehungsstil der individuellen Potenzialentfaltung in Kindertagesstätte und Schule in der Regel mit Unverständnis gegenüber und befürchten einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder sowie einen Kontrollverlust als Eltern über sie. In Kindertagesstätte und Schule treffen unterschiedliche Erziehungslogiken und Wertesysteme aufeinander. Die liberalen Erziehungs- und Lernvorstellungen der Schule kollidieren mit den Vorstellungen von Elternhäusern, in denen Respekt und Loyalität eingefordert werden. Von Lehrern erwarten die Eltern Durchsetzungsvermögen, Autorität und Strenge gegenüber ihren Kindern. Diese stehen wiederum zwischen zwei gegensätzlichen Erwartungen, denen sie gerecht werden sollen, und suchen dann oft ihren eigenen Weg, um dem Clash der Kulturen zu entgehen.

Die sozialen Medien – ob Facebook, Instagram oder YouTube – ermöglichen generalisierte Kinderbilder, die auf ästhetische Weise Erwartungen widerspiegeln und Normen festlegen. Dieser Prozess ist eigentlich nicht neu. Er findet sich in der Kinderliteratur und in der Kindermode wieder. Allerdings unterscheiden sich die sozialen Medien in wesentlichen Punkten davon. Im Gegensatz zur Kinderliteratur, die von Erwachsenen für Kinder geschrieben wird, schaffen Kinder individuell ihr eigenes Bild durch Selbstrepräsentation im Internet. Dort findet ein Wettbewerb um Wertschätzung unter verschärften Bedingungen statt. „Nur Sichtbarkeit verspricht hier soziale Anerkennung, während Unsichtbarkeit den digitalen Tod bedeutet“ (Reckwitz 2017, S. 247).

Das Bild, das im Internet entworfen wird, orientiert sich nicht nur an den Bedürfnissen des eigenen Selbst, sondern auch am sozialen Prestige, da die Darstellung und Selbstverwirklichung vor einem sozialen Publikum weltweit unter bestimmten Bewertungskriterien erfolgt (Reckwitz 2017, S. 305). Das Selbstwertgefühl der Kinder, die heute ganz selbstverständlich mit den Medien aufwachsen, hängt somit auch von der sozialen Bestätigung ab, die sie im Internet erfahren. Dabei entstehen allerdings auch neue Formen der Interaktion, die das Durchbrechen von Taktschranken erlauben und eine direktere Kommunikation, vor allem in den Chats, ermöglichen, die unter normalen Bedingungen einer Interaktion von Person zu Person nicht möglich wäre (Oelkers 2015, S. 20).

Diese öffentliche Form des Bildes vom Kind ist ein normativ ästhetisches Konstrukt, das keine zu weit gehenden Abweichungen erlaubt, überall verfügbar ist, weltweit verbreitet wird und einen hohen Anpassungsdruck erzeugt. Angesichts der großen Bedeutung der sozialen Medien für die Lebenswelt und das Selbstwertgefühl der Kinder ist es für sie kaum möglich, sich ihnen zu entziehen, ohne sich damit sozial auszugrenzen.

Kinder sind in den sozialen Medien eigene Akteure ihres Selbst. Sie entwerfen in Abgrenzung zu anderen Kindern individuelle Bilder von sich, um Anerkennung zu erhalten. Die sozialen Medien verstärken die spätmoderne Erziehungspraxis, die ein Singularisierungsprogramm des Kindes darstellt. So dürfte sich das Kinderbild künftig weiter individualisieren – ein Kaleidoskop der Knirpse.

 

Christine Henry-Huthmacher, bis Juli 2021 zuständig für Frauen- und Familienpolitik, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

Literatur

Keller, Heidi: „Multikulturelle Kinderbilder in Deutschland“, in: Henry-Huthmacher, Christine/ Hoffmann, Elisabeth (Hrsg.): Das selbstständige Kind, Sankt Augustin / Berlin 2015, S. 15–18.
Oelkers, Jürgen: „Das öffentliche Kinderbild in den modernen Medien“, in: Henry-Huthmacher, Christine / Hoffmann, Elisabeth (Hrsg.), a. a. O., S. 19–22.
Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017.
Schneider, Norbert F.: „Die Romantisierung des Kindes und der Wandel der Lebensphase Kindheit“, in: Henry-Huthmacher, Christine / Hoffmann, Elisabeth (Hrsg)., a. a. O., S. 8–14.

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