Als die russische Regierung Ende Juli 2018 einen Plan zur Rückführung der syrischen Flüchtlinge in ihr Heimatland vorlegte, war die Botschaft eindeutig: Der Krieg in Syrien sei zugunsten des Regimes entschieden und große Teile des Landes seien befriedet, wobei die internationale Gemeinschaft anerkennen müsse, dass sich der syrische Präsident Baschar alAssad als einziger legitimer Akteur habe behaupten können. Doch anders, als von Moskau propagiert, bleibt Syrien ein Land im Kriegszustand, in dem sich überdies künftige Konflikte bereits abzeichnen.
Der Kriegsverlauf des Jahres 2018 hat bewiesen, dass das Assad-Regime mit seinen Verbündeten Russland und Iran bestrebt ist, Syrien vollständig unter seine Kontrolle zu bringen, und sich darin weder von diplomatischen Initiativen noch von westlichen Drohgebärden oder Luftschlägen abbringen lässt. Im Frühjahr und Sommer gelang es dem Regime, innerhalb weniger Monate durch eine perfide Kriegsführung die letzten Rückzugsgebiete der Opposition in der unmittelbaren Umgebung der Hauptstadt Damaskus, in Homs und im Süden Syriens zurückzuerobern. Während sich Assad behauptet hat, ist der organisierte Widerstand gegen ihn weitgehend gebrochen. Die politische Opposition ist dezimiert und die verbliebenen Rebellengruppen auf die Provinz Idlib im Nordwesten Syriens konzentriert, der mittelfristig die Rückeroberung droht. Mit Ausnahme der türkischen Einflusszone im Norden sowie der kurdischen Gebiete im Nordosten des Landes dominiert die Allianz aus Damaskus, Moskau und Teheran die Bevölkerungs- und Wirtschaftszentren Syriens sowie die strategisch wichtigen Orte an der libanesischen, israelischen, jordanischen und irakischen Grenze.
In der Wiedereroberung sind jedoch neue Konfliktherde angelegt. Mit dem möglichen Abflauen der militärischen Auseinandersetzung streben nun sowohl Moskau als auch Teheran danach, ihre Interessen im Land zu sichern. Um im Rahmen der Auseinandersetzung mit Israel und den USA an strategischer Tiefe im Nahen Osten hinzuzugewinnen, ist der Iran daran interessiert, dass Syrien ein schwaches und damit kontrollierbares Staatsgebilde bleibt. In diesem will Teheran langfristig seinen Einfluss aufrechterhalten und siedelt zu diesem Zweck – sich am Aufbau der Hisbollah im Libanon orientierend – beispielsweise loyale schiitische „Stellvertreter“ an strategischen Orten im Land an. Demgegenüber zielt Russland auf eine Stärkung der staatlichen Institutionen Syriens ab und betrachtet die iranischen Bemühungen, parallele Machtstrukturen zu kreieren, mit Argwohn. Moskaus vorrangiges Interesse liegt darin, durch die Zusammenarbeit mit einem starken syrischen Staat die russischen Militärbasen an der Mittelmeerküste zu sichern und das Wiederaufkeimen extremistischer Bewegungen in Syrien zu unterbinden. Das taktische Bündnis zwischen Russland und dem Iran zur Unterstützung des AssadRegimes könnte demnach über diesen divergierenden strategischen Interessen zerbrechen.
Daneben birgt die anhaltende Schwäche der regulären syrischen Sicherheitskräfte Konfliktpotenzial auf lokaler Ebene. So waren etwa schon kurz nach Beginn des Aufstands die von Misswirtschaft, Korruption und Desertation geschwächten syrischen Streitkräfte auf iranische Berater und schiitische Milizen, allen voran die libanesische Hisbollah, angewiesen, um die oppositionellen Kräfte eindämmen und die militärische Niederlage des Regimes abwenden zu können. Zum Jahreswechsel 2012/13 stand das AssadRegime kurz davor, den Bodenkrieg gegen die Opposition zu verlieren. Zwischen 2011 und Mitte 2013 schrumpften die syrischen Streitkräfte um die Hälfte: von etwa 220.000 auf 110.000 Mann.
Aushöhlung des Staates
Anders, als es die Rückeroberungen des Assad-Regimes suggerieren, kann die Zentralgewalt in Damaskus keine flächendeckende Kontrolle aufrechterhalten. Tatsächlich liegt das Gewaltmonopol in vielen Teilen Syriens bei vom Iran kontrollierten, ausländischen Milizen und lokalen paramilitärischen, regimenahen syrischen Verbänden, welche die militärischen Kampagnen der letzten Jahre am Boden vorangetrieben haben. Sie treten oftmals als marodierende, kriminelle Banden auf, die das Gesetz in die eigene Hand nehmen und gegenüber der Lokalbevölkerung ihre eigenen Interessen erbarmungslos durchsetzen. Vor allem in Ost-Aleppo, Deir ez-Zor und im Süden Syriens sind rechtsfreie Räume entstanden, in denen der syrische Staat ausgehöhlt ist.
Die ausufernde Kriegsökonomie trägt bedeutend zur Instabilität bei. Regimenahe Milizen und reguläre Sicherheitskräfte treten nicht nur als militärische, sondern auch als wirtschaftliche Akteure auf. Unbehelligt von jeder staatlichen Regulierung, erheben Milizen in ihren Einflusszonen willkürlich Steuern und Abgaben, beispielsweise durch Kontrollpunkte an Straßen oder durch Schutzgelderpressung. Offiziere der Sicherheitsorgane befreien gegen hohe Schmiergeldzahlungen von der Pflicht zum Kriegsdienst. Selbst politische Häftlinge können sich mit Bestechungsgeldern freikaufen oder ihre gerichtlichen Verfahren beschleunigen. Bei der Wiedereinnahme oppositioneller Gebiete schrecken offizielle Sicherheitskräfte und Milizen ebenfalls nicht vor der Plünderung staatlichen Eigentums zurück. Der Krieg in Syrien hat eine Klasse an Kriegsprofiteuren geschaffen, die Interesse an einer Fortführung des Konflikts hat.
Zerrüttung der syrischen Gesellschaft
Assad strebt eine Zersetzung und Neuordnung der Gesellschaft des Landes an, um sich erneut in der Bevölkerung behaupten zu können. Die Rückeroberungen brachten häufig die Vertreibung unerwünschter Gesellschaftsgruppen mit sich. Urbane Zentren, wie beispielsweise Ost-Aleppo, wurden durch großflächige Zerstörung der von der Opposition gehaltenen Stadtviertel und die Verdrängung von deren Einwohnern wiedereingenommen. Assad hat kein Interesse an der Rückkehr der als illoyal eingestuften Vertriebenen.
Jamil alHassan, Chef des berüchtigten Nachrichtendienstes der syrischen Luftwaffe und enger Berater Assads, gab etwa im August 2018 bekannt, dass er ein „Syrien mit zehn Millionen dem Regime loyal verbundenen Einwohnern“ einem „Syrien mit dreißig Millionen Vandalen“ vorziehen würde und dass sein Geheimdienst umfassende Strafverfolgungsmaßnahmen für illoyale Syrier vorbereiten würde. In Regionen wie Südsyrien, über die Assad die Kontrolle durch sogenannte Aussöhnungsabkommen mit der Opposition wiedergewonnen hat, missachtet das Regime getroffene Vereinbarungen und verfolgt entgegen allen Versprechungen willkürlich ehemalige Rebellen und zivilgesellschaftliche Akteure.
Diese Zerrüttung der syrischen Gesellschaft stellt eine enorme Hypothek für den möglichen Wiederaufbau des Landes dar. Assads territoriale Wiederbehauptung findet überwiegend ohne einen nachhaltigen Aussöhnungsprozess mit der Lokalbevölkerung statt; stattdessen ist Terror das Mittel der Wahl zur Durchsetzung von Kontrolle. Die anhaltende Marginalisierung von Teilen der syrischen Gesellschaft schafft jedoch einen idealen Nährboden für Extremismus und Widerstand. Syrien ist zum jetzigen Zeitpunkt ein rechtsfreier Raum, in dem das Regime erbarmungslos gegen die eigene Bevölkerung vorgeht und vor allem Rückkehrer verfolgt. Assads jüngste Ankündigung einer Amnestie für geflüchtete Kriegsdienstverweigerer und Deserteure verdeutlicht den anhaltenden Krisenmodus: Aufgrund der Auflage, dass der Straferlass nur nach Ableisten des obligatorischen, zweijährigen Militärdienstes gewährt wird, zielt das Vorhaben keinesfalls darauf ab, Flüchtlinge in guter Absicht nach Syrien zurückzuholen. Vielmehr hofft Assad, wehrtaugliche Syrer zu gewinnen, um seine ausgebluteten Truppen für das nächste Kapitel des syrischen Konfliktes zu rüsten.
Sebastian Gerlach, geboren 1991 in Heilbronn, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Auslandsbüro Syrien/Irak der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Beirut (Libanon).
Hannes Pichler, geboren 1991 in Bozen (Südtirol), Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Auslandsbüro Syrien/Irak der Konrad- Adenauer-Stiftung mit Sitz in Beirut (Libanon).