Asset-Herausgeber

Islamische Impulse zu aktuellen Fragen des Menschenbildes

Asset-Herausgeber

In seiner Rede über die Würde des Menschen bemerkt Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494), der zu den bedeutendsten italienischen Philosophen der Renaissance zählt: „In den Schriften der Araber habe ich gelesen, der Sarazene Abdala habe auf die Frage, was sozusagen auf der Bühne der Welt als das Bewundernswerteste erscheine, geantwortet, nichts erscheine der Bewunderung würdiger als der Mensch.“1 Worin besteht aber diese Würdigung, dass der Mensch ein so bewundernswertes Wesen darstelle? Heute darf man mit Fug und Recht daran zweifeln, erscheint doch das Ausmaß des menschlichen Zerstörungswahns grenzenlos, wovon selbst die Erde klimatisch bedroht ist. Demnach wäre eher dem antiken Dramatiker Sophokles zuzustimmen, der früh erkannte, dass es nichts „Ungeheuerlicheres“ geben kann als den Menschen selbst.2 Ohne sich auf eine Extremposition zu fixieren, scheint die Stellung des Menschen im Kosmos trotz des „Schein[s] des Himmelslichts“3 in ihm, das er nicht selten „tierischer als jedes Tier“4 gebraucht, wie es Johann Wolfgang von Goethe im Faust andeutet, nicht mehr die unhinterfragte Bedeutung zu besitzen, die der Mensch als Krone der Schöpfung einmal hatte. Befindet sich der Mensch also nur in einem Übergangsstadium, aus dem er sich mit eigenen Macht- und Gewaltphantasien verabschieden wird? Die hier relevante Frage nach der Künstlichen Intelligenz spielt eine tragende Rolle, die trans- und posthumanistisch diskutiert wird. Doch die sogenannte Künstliche Intelligenz ist selbst ein Denkmodell menschlicher Intelligenz, die ihre Zukunft als eine materialistische Zukunft entwirft, bei der der Mensch selbst bedroht ist, ohne dabei zu erkennen, dass er als evolutiv­biologisch generiertes Lebewesen weder kopier- noch ersetzbar sein kann. Welches Menschenbild ist aber gegenwärtig tragend?

Pico, inspiriert vom islamischen Geist, vertritt entschieden die Meinung, dass der Mensch „ein Werk von unbestimmter Gestalt“ sei, und genau hierin, das heißt in seiner freien und offenen Selbstbestimmung, seine eigentliche Sonderstellung liege. In diesem Sinne ist im Koran die Bestimmung des Menschen nicht eindeutig auf eine Botschaft, eine Idee fixiert. Zum einen wird er als ein Wesen begriffen, das „schwach erschaffen“ (Koran 4,28)5 wurde, getragen durch eine Seele, die durchaus zum Bösen neigt, und zum anderen heißt es im Koran: „Und wahrlich, geehrt haben Wir die Kinder Adams“ (Koran 17,70). Zum Menschsein im islamischen Sinne gehört nämlich der zentrale Gedanke, dass der Mensch auf Erden in einer besonderen Weise in Anspruch genommen wird. Im Koran wird dem Menschen aufgetragen, als „Statthalter Gottes“ auf Erden zu fungieren (Koran 2,20). Damit tragen die Menschen die ausgezeichnete Verantwortung, die Schöpfung Gottes würdig zu wahren und zum Guten zu gestalten, Leben und Lebendiges zu schützen, zwischen Menschen Frieden zu stiften. Menschsein heißt somit, im Anspruch Gottes zu leben. Zu dieser Narration gehört auch, dass die Engel über diesen Entschluss Gottes staunen: „‚Willst Du auf ihr einsetzen einen, der auf ihr stiftet Unheil und Blut vergießt? Da doch wir Dein Lob preisen und Dich heiligen!‘ Und Er sprach: ‚Ich weiß sehr wohl, was ihr nicht wisst.‘“ (Koran 2,30). Menschsein heißt demnach, auf Gott zu vertrauen, auf dessen Vertrauen der Mensch existiert.

Doch was und wer sind wir, wir Menschen? Die Frage nach dem Menschen kehrt sich im Islam um, sodass der Mensch als ein Wesen der Frage aufgefasst wird. Menschsein heißt, immer auch in der Disposition zu stehen, immer wieder und immer erneut zu fragen, was es heißt, ein Mensch zu sein. Demzufolge ist Menschsein nach dieser islamischen Lesart keine Gegebenheit, sondern eine Tat. Wer wir sind, ist also mit der Frage verbunden, wer und was wir sein wollen und sollen. So mahnt der einflussreichste muslimische Theologe Muḥammad al­-Ġazālī (1055 oder 1056–1111) in seiner Schrift Das Elixier der Glückseligkeit, wenn er schreibt: „Wenn du dich nicht kennst, wie vermagst du dann andere zu kennen? Sagst du jedoch: ‚Ich kenne mich!‘, so irrst du, denn eine solche Erkenntnis dient nicht als Schlüssel der Erkenntnis der Wahrheit. Denn Tiere kennen sich ebenso sehr wie du dich. Außer dies Haupt, dies Gesicht, diese Hand, diesen Fuß, dies Fleisch und diese äußere Haut kennst du nichts; von deinem Inneren weißt du so viel: Wenn du hungrig bist, isst du, wenn du zornig bist, greifst du jemanden an, und wenn du Begierde spürst, trachtest du nach Begattung. Alle Tiere sind dir darin gleich. Daher sollst du nach der Wahrheit deines Selbst streben, was du bist, woher du gekommen bist, wohin du gehst, was ist der Zweck, dass du in diese Stätte gekommen bist, weswegen du hervorgebracht worden bist, was ist deine Glückseligkeit und worin liegt sie, was ist dein Elend und worin liegt dein Elend.“6 Offenheit und Unabschließbarkeit gehören also konstitutiv zum Menschen – als ein Wesen, das nicht zu Ende erzählt werden kann, aber selbst ein erzählendes, geschichtliches, sozio­kulturelles, biologisch-geistiges und mithin denkendes Wesen ist.

 

Erschaffen aus einer Seele

 

Hinzu kommt, dass sich der Mensch im religiösen Kontext als ein Wesen begreift, das aus einer Bindung zu Gott existiert. Dieser Bund mit Gott ist von überzeitlicher, präexistenter Natur, indem der Ewige den Menschen fragte: „Bin Ich nicht euer Herr?“, und die Menschen bejahten: „Ja, wir bezeugen es“ (Koran 7,172).7 Die Zeitungebundenheit dieses Bundes hat für das islamische Menschenbild eine prägende Bedeutung, die darin besteht, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner Hautfarbe, seines Geschlechts, seiner sexuellen Orientierung, seiner Nationalität, seines sozialen Standes oder seines (Un­)Glaubens von Gott angenommen wird, der alle Geschlechter aus einer Seele erschaffen hat. In seiner Abschiedspredigt bekräftigt der Prophet Muḥammad diese Gleichheit aller Menschen, wenn er sagt: „Die gesamte Menschheit stammt von Adam und Eva ab. Ein Araber hat weder einen Vorrang vor einem Nicht-Araber, noch hat ein Nicht-Araber einen Vorrang vor einem Araber; Weiß hat keinen Vorrang vor Schwarz, noch hat Schwarz irgendeinen Vorrang vor Weiß.“ Dies nimmt seine programmatische Bestimmung darin ein, dass diese uneingeschränkte Angenommenheit als Liebe verstanden wird. So ist aus dem Koran über den Menschen zu hören, „die Er liebt und die Ihn lieben“ (Koran 5,54). Insofern gilt der Koran als eine dezidierte Liebeserklärung Gottes an die Menschen, worin sich Gott als „Gott der Menschen“ (Koran 114,3) bezeichnet, der dem Menschen „von Seinem Geist“ (Koran 32,9) eingehaucht habe. Daher stellt der muslimische Dichterphilosoph Muḥammad Iqbāl (1877–1938) treffend fest: „Der Hauptzweck des Koran ist es, im Menschen das höhere Bewußtsein seiner vielfältigen Beziehungen zu Gott und zum Universum zu erwecken.“8 Als Geschöpf Gottes versteht sich der Mensch aus der bleibenden Bezogenheit des Menschen auf Gott, aus und in der Sehnsucht, nach Gott zu leben. Er ist, wie es auch die biblischen Traditionen annehmen, „aus trockenem Lehm, gestaltbarem Schlamm“ (Koran 15,26) entsprungen, aber der Mensch bleibt nicht bloß Lehm und Schlamm, sondern nimmt schöne Gestalt (vgl. Koran 64,3) und Vernunft an. Daher stellt der Mensch kein Zufallsprodukt der Natur dar, sondern er ist aus der Liebe und Entschlusskraft Gottes entsprungen.

Hier artikuliert sich eine unerschütterliche menschliche Würde, die keine Relativierung duldet. Menschen können weder als Mittel zu einem Zweck benutzt werden, noch lässt sich Menschsein quantifizieren. Menschsein wird vielmehr als eine außerordentliche Qualität begriffen, indem im Antlitz eines Menschen die gesamte Menschheit sichtbar wird, sodass einen Menschen zu töten gleichviel bedeutet, die Menschen allesamt getötet zu haben, und einen Menschen zu retten, der Errettung aller Menschen gleicht (vgl. Koran 5,32). Die Bewahrung des Lebens ist unantastbares Gut, insofern Leben als Leihgabe Gottes verstanden wird. Daher erscheint weder eine aktive Gewaltausübung noch eine Position, die eine aktive Sterbehilfe als Verfügen über das eigene Ende unter dem Vorbehalt menschlicher Autonomie leisten will, aus islamischer Sicht plausibel. Umso mehr kommt jedoch der „Sterbebegleitung“, das heißt jeder Form mitmenschlicher Hilfe, die man einem Sterbenden zuteilwerden lässt, um seinen Abschied vom Leben zu erleichtern, große Bedeutung zu. Daher ist die Sterbebegleitung und die Palliativmedizin eine äußerst bedeutsame, religiös-spirituelle und menschliche Praxis, die den Sinn des gläubigen Lebens im Angesicht des Todes mit Geist erfüllt. In der Zuwendung zum Menschen wird in der Seelsorge – spirituell formuliert – das Antlitz des barmherzigen Gottes im Angesicht des Menschen erfahrbar. Sie kann aber nicht – wie es zurzeit in Deutschland den Regelfall darstellt – den Familien, dem privaten Bereich überlassen werden. Palliativmedizin und Palliative Care müssten flächendeckend professionell praktiziert werden.

 

Leben als Atmen mit Gott

 

Charakteristisch ist für dieses Menschenbild, dass der Mensch sich selbst nicht genug ist. Zum Leben benötigt er als soziales Wesen nicht nur Mitmenschen, sondern grundlegend Gott: „O ihr Menschen“, heißt es im Koran, „ihr seid Bedürftige Gottes!“ (Koran 35,15). Diese innerlich empfundene Gottbedürftigkeit bedeutet vor allem Demut, dass sich der Mensch in allem irren kann, auch und insbesondere in religiösen Fragen; das heißt, religiöses Leben besteht nicht in dem Habitus, die Wahrheit zu verkünden, im Namen der Wahrheit zu richten, sondern darin, in Demut nach der Wahrheit zu streben, denn Gott allein ist die Wahrheit (vgl. unter anderem Koran 22,6).

Leben als Atmen mit Gott zu begreifen, entlastet den Menschen, nimmt ihm die Schwere und vor allem die Masken ab, mit denen er sich sonst verstellt. Vor Gott stehen wir ohne Verstellung, ohne Gehabe, ohne Masken. Der Glaube an Gott demaskiert. Die Frage ist, ob wir demaskiert sein können. Vor Gott fällt alles ab, was uns sonst kleidet, uns Namen, Stellung und Amt verleiht. Denn vor Gott tragen wir in unserer Vielfalt und Mehrstimmigkeit immer nur den einen Namen: ein Mensch zu sein. Das islamische Menschenbild eröffnet somit einen Sinn jenseits von Produktivität, indem dem scheinbar Sinnlosen ein Sinn verliehen wird: dem Leid, dem Scheitern, dem Altern, den Verletzten, den Ausgegrenzten und dem Tod. Diese Gottbezogenheit eröffnet die Möglichkeit, in Distanz zu sich selbst zu kommen, die eigenen Machtinteressen und Selbsterhöhungen zu hinterfragen, sodass wir mit dem dankbar sind, was wir sind, ohne uns daran zu orientieren, was wir noch mehr haben können.

Menschsein ist demnach kein Anspruch, sondern eine Haltung. Die Haltung besteht darin, Kinderrechte zu beachten, nicht wegzuschauen, wenn Kinder misshandelt oder sexuell missbraucht werden, und es nicht hinzunehmen, wenn Kinder für kriegerische Zwecke instrumentalisiert werden; dafür Verantwortung zu übernehmen, dass kein Kind an irgendeiner Grenze stehen bleiben und verhungern darf! Haltung zu zeigen heißt, dass die Gleichberechtigung der Frauen kompromisslos gelten soll! Haltung bedeutet, zu „brennen“, wenn eine Synagoge verbrannt wird, und verfolgt zu sein, wenn Christinnen oder Christen verfolgt werden. Diese menschliche Haltung besteht dann im Kern darin, auf die eigene humane Intelligenz zu vertrauen, diese zu kultivieren, um den unabdingbaren Veränderungen und Dynamiken der Zeit nicht zu trotzen, ihnen aber auch nicht zu verfallen, sondern diese mit klaren universellen Werten mitzugestalten.

 

Ahmad Milad Karimi, geboren 1979 in Kabul, Stellvertretender Leiter des Zentrums für Islamische Theologie und Professor für Kalām, Islamische Philosophie und Mystik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, 2015 mit dem Rumi-Preis für „Islamische Studien“ ausgezeichnet, 2019 mit dem Voltaire-Preis für „Toleranz, Völkerverständigung und Respekt vor Differenz“ der Universität Potsdam und dem Deutschen Dialogpreis in der Kategorie „Wissenschaft und Bildung“ des Bundes der Deutschen Dialoginstitutionen.

 

1 Pico della Mirandola: Oratio de hominis dignitate (Rede über die Würde des Menschen), Lateinisch/Deutsch. Auf der Textgrundlage der „Editio princeps“, hrsg. u. übers. von Gerd von der Gönna, Stuttgart 1997, S. 5.
2 Vgl. Sophokles: Antigone, 2. Akt, S. 238.
3 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil, Stuttgart 2014, S. 10.
4 Ebd.
5 Die Koranzitate folgen der Übersetzung: Der Koran. Vollständig und neu übersetzt von Ahmad Milad Karimi. Mit einer Einführung hrsg. von Bernhard Uhde, 1. Auflage, Freiburg i. Br. 2009.
6 A. Ḥ. Al-­Ġazālī: Kīmiyā­i saʿādat. Vol. 1, hrsg. von Ḥ. Ḫadiwǧam, Teheran 1380 (H. š.), S. 13 f. (eigene Übersetzung).
7 Vgl. auch: Der reine Gottesglaube. Das Wort des Einheitsbekenntnisses. Aḥmad al­-Ġazzālīs Schrift "At­Taǧrid fī kalimat at­tawḥīd". Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Richard Gramlich, Wiesbaden 1983, S. 23.
​​​​​​​8 Muḥammad Iqbāl: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam. Aus dem Englischen von Axel Monte und Thomas Stemmer, Berlin 2003, S. 32.

comment-portlet