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Österreich vor der Nationalratswahl

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Die Parlamentswahlen in Österreich – eine Woche nach den deutschen Bundestagswahlen – sind ein offenes Rennen. Sie sind das allerdings entgegen allen vorherigen Umfragen erst in den letzten Monaten geworden. Haben sich doch die Wähler im Frühjahr dieses Jahres bei mehreren Stimmabgaben anders entschieden, als sie das zuvor Meinungsforschern kundgetan hatten. Ein rot-schwarzes Kopf-an-Kopf-Rennen unter den jetzigen Regierungskoalitionären Sozialdemokratische Partei (SPÖ) und Österreichische Volkspartei (ÖVP) steht im Raum.

Das war schon lange nicht mehr der Fall. Bei den letzten Parlamentswahlen 2008 rutschten SPÖ wie ÖVP unter die Dreißig-Prozent-Marke, die Volkspartei landete gar bei 25 Prozent. Nutznießer waren damals die FPÖ mit 17,5 Prozent und das Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ), eine Abspaltung von der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), mit 10,7 Prozent. Die Grünen bildeten mit 10,4 Prozent das Schlusslicht.

Die laufende Legislaturperiode brachte einige Verschiebungen. Noch im Sommer vorigen Jahres galt die SPÖ als klarer Favorit, wenngleich auf niedrigem Niveau. Die Grünen bekamen etwas Aufwind und träumten von einer Koalition mit der SPÖ auf Bundesebene, wie diese bereits seit der Landtagsund Gemeinderatswahl im Oktober 2010 in Wien besteht. Die ÖVP war sogar noch hinter die FPÖ auf den dritten Platz zurückgefallen. Daher hoffte der Vorsitzende der FPÖ, Heinz-Christian Strache, auf ein Duell mit Bundeskanzler Werner Faymann. Freilich nur so lange, bis ein achtzigjähriger Milliardär – der als Mechanikergeselle 1954 Österreich verlassen und in Kanada einen der weltgrößten Autozulieferbetriebe (Magna) aufgebaut hatte – wieder heimkehrte und die politische Landschaft aufzuwirbeln begann. Frank Stronach gründete eine politische Bewegung, artikulierte den Frust mit der aktuellen Politik und mobilisierte eine Welle von Überläufern (an Wählern und auch an Mandataren).

Dachte man zunächst, dass Stronach in erster Linie der Volkspartei zusetzen würde, so zeigte sich alsbald, dass er Zulauf von ganz anderen Seiten erhielt: beispielsweise von enttäuschten Wählern der SPÖ, vor allem solchen, die früher ins Lager der Freiheitlichen gewechselt wären, denen aber die Strache-FPÖ zu wortbrutal geworden war, darüber hinaus von Wählern des in Auflösung begriffenen, noch auf Jörg Haider zurückgehenden BZÖ sowie nicht zuletzt auch von Nichtwählern.

 

Stammwähler mutieren zu Wechselwählern

In diesem Wählertransfer spiegelt sich eine Entwicklung wider, die seit Langem den beiden großen Parteien SPÖ und ÖVP schwer zu schaffen macht. Der Status, „Großpartei“ zu sein, steht infrage, was sie freilich nicht gerne hören. Der einstige ÖVP-Obmann Josef Taus hat die Frage auf eine einfache Formel gebracht: Großpartei ist man nur, solange man Verfassungsgesetze, die einer Zweidrittelmehrheit bedürfen, verhindern kann. Von diesen 33,4 Prozent sind SPÖ und ÖVP derzeit weit entfernt.

Zählte man 1983 bloß zehn Prozent Wechselwähler und acht Prozent Spätentscheider, so war deren Anteil bei den Nationalratswahlen 2008 auf 28 beziehungsweise 33 Prozent explodiert. Gleichzeitig damit verbunden war das Schrumpfen des Stammwählerpotenzials – und ein Ende dieses Trends ist nicht absehbar. Viele Wähler sind von der Performance der Politik enttäuscht, sind nicht mehr bereit, sich einseitig und langfristig an eine Partei zu binden. Das Parteibuch als Schlüssel für einen Arbeitsplatz- und Wohnungserwerb hat seinen Wert längst verloren. Vor allem aber haben die Regierungsparteien viel von ihrem Anspruch, gestalterische Kraft zu sein, verloren. Zudem haben sie versäumt, die Bürger in den Meinungs- und Willensbildungsprozess aktiv einzubinden.

Mit dem Ende des „realen Sozialismus“ 1989/90 setzte ein ideologischer Transformationsprozess ein. Die Sozialdemokraten verbannten ihre geistigen Nährväter, Karl Marx & Co., in die Abstellkammer, gerierten sich oft schon als die besseren Kapitalisten. Fast parallel dazu begannen sich auch Volksparteien wie die ÖVP von christlich-sozialen politischen Dogmen zu verabschieden, gingen auf Distanz zum „hohen C“. Statt unverwechselbar einzigartig, war man bestenfalls anhand von einigen Farbtupfen unterscheidbar.

 

Im Wechselbad politischer Stimmungslagen

Der Wandlungsprozess der Parteienlandschaft spiegelt sich in Zahlen wider. Bei den Nationalratswahlen 1983 erzielte die SPÖ noch 47,6, die ÖVP 43,2 und die FPÖ gerade fünf Prozent der Stimmen. Mitte 2012 gaben die Umfragen 28 Prozent der SPÖ, 24 Prozent der FPÖ, 22 Prozent der ÖVP und vierzehn Prozent den Grünen. Die staatstragende Volkspartei ÖVP war auf die Hälfte ihrer einstigen Größe reduziert worden und befand sich in einem Stimmungstief. Durchaus verständlich, wenn man sich das Wechselbad der Gefühle vor Augen hält, das die Partei von 2008 bis 2012 durchlebt hatte.

Innerhalb von nur einer Legislaturperiode traten zwei Parteiobmänner zurück, Wilhelm Molterer gleich nach der Wahlniederlage 2008 und zweieinhalb Jahre später sein Nachfolger Josef Pröll. 2009 gewann die ÖVP zwar die Europawahl, sackte aber 2010 in Wien auf das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte ab. 2011 wurde sie vom Bestechungsskandal des EU-Parlamentariers Ernst Strasser und des Kärntner Landesobmanns Josef Martinz erschüttert.

Der 2011 neu bestellte Parteiobmann Michael Spindelegger konnte zunächst nicht mehr tun, als wie ein Konkursverwalter zu agieren. Es dauerte bis zum Sommer 2012, ehe sich das Blatt zu wenden begann: Mit Stronach tritt, wie gesagt, eine unbekannte Größe aufs politische Parkett. Es sind vor allem SPÖ und FPÖ, die sich auf ihn stürzen. Die ÖVP reagiert dagegen gelassen, fasst langsam Tritt, zeigt mit klar gezogenen Trennlinien (wie einem Ehrenkodex für Mandatare), dass für sie politische Verantwortung nicht nur ein Schlagwort ist. Genau das aber lässt die FPÖ vermissen und leitet damit selbst ihre Kehrtwende ein. Hinzu kommt, dass die SPÖ inhaltlich blutleer geworden ist, keine Themenführerschaft zustande bringt, ihr Parteivorsitzender bestenfalls als Moderator agiert, mit Vorliebe sich am Diktat der Boulevardpresse orientiert. Überrollt wird die Partei schließlich von einem Finanzskandal in Salzburg, wo mit Gabi Burgstaller ein „roter Shooting-Star“ regiert, unter deren Fittichen mit Steuergeldern am Finanzmarkt gezockt wurde wie in einem Kasino.

 

Die sogenannte Trendwende

Binnen weniger Monate ändert sich das Stimmungsbild in der Öffentlichkeit. Ab Herbst 2012 verliert die FPÖ Wählergunst. Die ÖVP überholt die Freiheitlichen und das neue Team Stronach landet auf Anhieb bei rund zehn Prozent. Die Fakten schaffen die Wähler zu Beginn des großen Wahljahres 2013:

- Bei der Volksabstimmung über das nicht nur von der SPÖ präferierte Berufsheer erhält das ÖVP-Modell der Wehrpflicht mit einem Zivildienst als Alternative den klaren Vorzug.
- Im Kernland Niederösterreich belohnen die Wähler die politische Arbeit von Langzeit-Landeshauptmann Erwin Pröll. Es gelingt ihm, das von vielen für unmöglich gehaltene Ziel zu erreichen, nämlich den Erhalt der absoluten Mehrheit für die ÖVP.
- Im nach der Ära Haider skandalgeschüttelten Kärnten wird die SPÖ, die hier jahrzehntelang Sammelbecken nationaler Wähler war, ehe sie diese an Jörg Haider verlor, stärkste Partei – ohne allerdings ihre einstige Größe zu erreichen. Aber: Die ÖVP schlägt sich besser als erwartet.
- In Tirol – ähnlich wie Niederösterreich eine Art schwarze Trutzburg – bleibt entgegen allen Umfragen Günther Platter Landeshauptmann. Trotz eines übergroßen – vor allem bürgerlichen – Parteienangebots ist der Wunsch nach Stabilität an der Landesspitze ausschlaggebend.
- In Salzburg schließlich findet das herbei geschriebene Kopf-an-Kopf-Rennen nicht statt, es kommt vielmehr als Abrechnung für den verantwortungslosen Umgang mit den Steuergeldern zu einem historischen SPÖ-Debakel, und Wilfried Haslauer erobert nach neun Jahren den Landeshauptmann für die ÖVP zurück.

 

Speckgürtel als politische Problemzone

Summa summarum sieht es, betrachtet man die Urnengänge im Frühjahr, nach einer Trendwende aus. Die ÖVP schneidet, auch weil sie stärker mobilisieren kann, wesentlich besser ab als die SPÖ – und sie versteht es vor allem, sich als Gewinner zu verkaufen. Genau genommen verlor nämlich auch sie – eine Folge der wanderbereiten Wählerschaft – überall an Stimmen, wenngleich weniger als prophezeit und mehr als schaumgebremst im Vergleich zum Regierungspartner. Anlass zum Nachdenken geben allerdings die Ergebnisse in den Städten und den sie umschließenden „Speckgürteln“. Hier hat die Volkspartei dringenden Handlungsbedarf. Als konservative Sammelpartei gegründet, fußt die ÖVP seit 1945 im Wesentlichen auf drei Säulen: Arbeitnehmern, Bauern und Unternehmern. Nur, damals waren alle drei Berufsgruppen etwa gleich stark. Siebzig Jahre später hat sich die gesellschaftliche Struktur völlig gewandelt. Die Gewichtung der Kräfte in der Partei trägt diesem Umstand aber nicht wirklich Rechnung.

Als Gewinner der letzten Wahlgänge werden auch die Grünen gefeiert, die sich im städtischen Umfeld sowie dort, wo es Skandale aufzuarbeiten gab, sehr gut behaupten und stimmenmäßig zulegen konnten. Sie durften den Lohn für ihre Kontrollarbeit ernten und waren damit plötzlich als Regierungspartner in zwei Bundesländern, nämlich Tirol und Salzburg, gefragt. Allerdings nicht bei der SPÖ (mit der man lange Zeit flirtete), sondern bei der ÖVP, die damit ein neues politisches Signal setzte.

Die lange Zeit erfolgsverwöhnte FPÖ bekommt dagegen die Rechnung für eine überhebliche politische Selbstdarstellung, innerparteilichen Zwist, fehlendes Gespür im Umgang mit der Macht und die neue Konkurrenzsituation im Oppositionslager präsentiert; sie ging auf Talfahrt und könnte sich alsbald mit den Grünen um Rang drei oder vier streiten. Während Protestbewegungen wie etwa die „Piraten“ unter der Wahrnehmungsgrenze blieben, der FPÖ-Ableger BZÖ ums politische Überleben kämpft, schaffte es das neue Team Stronach auf Anhieb, jeden zehnten Wähler für sich zu gewinnen: ein Phänomen, das ein wenig an Beppe Grillos bessere Tage in Italien erinnert. Die erste Hälfte des laufenden Wahljahres hat Leben in die politische Landschaft gebracht. Während sich Bundeskanzler Faymann bereits selbst Mut zusprechen muss, wird Vizekanzler Spindelegger als ein ernsthafter Herausforderer genannt. Wenn er die nötige Verve zeigt, klare Positionen bei den entscheidenden Problemstellungen vertritt, traut man ihm zu, den Ballhausplatz für die ÖVP zurückzuerobern. Keine unlösbare Aufgabe, aber vorerst nur in Reichweite. In der 68-jährigen Geschichte der Zweiten Republik stand an der Spitze des Landes 31 Jahre lang (von 1945 bis 1970 und 2000 bis 2006) ein Politiker der ÖVP. Die restlichen 37 Jahre lang war dieses Amt im Besitzstand der SPÖ.

 

Kein „linkes“ Land

Bis in die späten 1980er-Jahre konnten sich SPÖ wie ÖVP über Wahlergebnisse von über vierzig Prozent freuen, ehe ein kontinuierlicher Abwärtstrend einsetzte. Zunächst erfasste dieser die ÖVP, die unter dem Stimmenfänger Jörg Haider litt, der jene bürgerlichen Wähler ansprach, die markige Ansagen hören wollten. Aber auch die SPÖ blieb alsbald von einem Absturz in der Wählergunst nicht verschont. Der Niedergang der Volkspartei bedeutete keineswegs, dass Österreich damit zu einem „linken“ Land wurde. Ganz im Gegenteil: Seit 1983 gibt es in der Alpenrepublik ohne Unterbrechung eine bürgerliche Mehrheit im Parlament. Und dennoch gab es mit Ausnahme der Jahre von 2000 bis 2006, als die ÖVP unter Führung des damaligen Obmanns Wolfgang Schüssel eine Koalition mit der FPÖ bildete und sich den Zorn der linken Meinungsmacherszene zuzog, nur Regierungen unter sozialdemokratischer Führung. Eine Umkehr der Führungsrolle wäre langsam angebracht.

Die Chance dafür ist gegeben, vorausgesetzt, der Trend, der bei den Regionalwahlen zutage trat, würde auch bei den Nationalratswahlen durchschlagen. Viel wird auch davon abhängen, wie man das sogenannte Urlaubsloch durchsteht und auf plötzlich wie das Ungeheuer von Loch Ness auftauchende Themen reagiert. Betrachtet man die aktuellen Parteipräferenzen, so liegen SPÖ und ÖVP nahe beieinander und jeweils bei etwas unter dreißig Prozent. Zusammen kommen sie auf gut über fünfzig Prozent. Die Grünen, die nach einer Regierungsbeteiligung lechzen (und diese bereits 2002 verspielten, als der linke Wiener Grünen-Flügel im letzten Augenblick gegen das Angebot von Schüssel opponierte), dürfen zwar mit Stimmenzuwachs rechnen, der aber nicht ausreicht, um mit der SPÖ oder der ÖVP die Mehrheit für eine Zweierkoalition zustande zu bringen.

Die fiktive Chance einer grünen Regierungsbeteiligung bestünde nur, sollten ÖVP und SPÖ zusammen keine Mandatsmehrheit schaffen. Dann müssten sie eine Dreierkoalition bilden. Dafür wären die Grünen ein Beinahe-Fixstarter. Sollten freilich ÖVP und SPÖ zu keinem Konsens bei den Regierungsverhandlungen kommen, dann wäre noch eine ganz andere Variante theoretisch denkbar: nämlich das Salzburger Modell auf Regierungsebene – also ein Zusammenschluss von ÖVP mit den Grünen und dem Team Stronach. Dass die FPÖ anstelle der Grünen ins Rennen geht, ist so gut wie ausgeschlossen. Ihr Problem derzeit ist, dass sie nicht nur zu sehr eine Anti-EU-, Antieuro- und Antiausländer-Stimmungsmache betreibt, sondern auch eine Wortwahl pflegt, die selbst Sympathisanten im schwarzen Lager auf Distanz gehen ließ. Wenn es daher rechnerisch möglich ist, und danach sieht es aus, dann wird es nicht zuletzt durch gutes Zureden der Sozialpartner im kommenden Herbst zu einer Neuauflage der bisherigen Regierungskonstellation kommen. Noch nicht entschieden ist, wer diese letztendlich anführen wird.

 

Herbert Vytiska, geboren 1944 in Wien, langjähriger Pressesprecher des ÖVP-Obmanns Alois Mock, Politikberater und Publizist, unter anderem Österreich-Korrespondent von www.euractiv.de.

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