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Krise in der Demokratie - Demokratiekrise?

von Klaus Stüwe

Ausnahmezustand und demokratischer Verfassungsstaat

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Rund um den Globus haben Regierungen im Zuge der rasanten Ausbreitung des neuen Coronavirus den Notstand ausgerufen. In Deutschland, wo der Schutz der Bevölkerung in erster Linie Aufgabe der Bundesländer ist, stellte Bayern am 16. März 2020 als erstes Bundesland aufgrund der Pandemie den Katastrophenfall fest.

Die in zahlreichen Ländern ergriffenen Maßnahmen führten zu erheblichen Freiheitseinschränkungen. Quarantäneanordnungen, Ausgangssperren, Versammlungsverbote, Grenzschließungen und Reiseverbote bestimmen das Leben der Menschen. Zwar wurden nach dem Abschwellen der ersten großen Infektionswelle inzwischen einige Lockerungen beschlossen; dennoch werden Kontaktbeschränkungen und andere Hygienemaßnahmen vermutlich noch lange Zeit aufrechterhalten werden.

In Autokratien sind Freiheitsbeschränkungen nichts Ungewöhnliches. In China und im Iran beispielsweise reihten sich die eingeführten Verbote, die flächendeckende Überwachung und die Abriegelung einzelner Regionen nahtlos in eine lange Geschichte repressiver Maßnahmen ein. Desinformationskampagnen und die Unterdrückung kritischer Äußerungen gibt es in Autokratien auch zu anderen Zeiten.

Aber wie steht es um die Demokratien? Die Achtung und der Schutz individueller Freiheitsrechte wie des Versammlungsrechts, der Reisefreiheit, des Rechts auf Eigentum, der Gewerbefreiheit oder des Rechts auf körperliche Unversehrtheit sind zentrale Elemente des demokratischen Verfassungsstaats. Wie weit dürfen Demokratien im Interesse der öffentlichen Gesundheit in die individuellen Grundrechte ihrer Bürger eingreifen, ohne dass es zu einem substanziellen Verlust der Rechtsstaatsqualität kommt?

Zugleich beobachten wir auch in Demokratien, dass im Zuge der Pandemiebekämpfung weitreichende Entscheidungen unter Effektivitätsgesichtspunkten außerhalb von Parlamenten getroffen werden. Regierungen, Behörden und Expertengremien werden zu handelnden Akteuren. Wie weit dürfen Demokratien bei dieser Entscheidungsverlagerung gehen, ohne dass es zu einem demokratischen Legitimationsdefizit kommt?

 

Notstandsmaßnahmen in Demokratien

 

Dass Notstandsmaßnahmen im Falle extremer Gefahren und Bedrohungslagen auch in Demokratien notwendig und gerechtfertigt sein können, steht außer Frage. Der Schutz seiner Bürger vor inneren und äußeren Gefahren, mithin die Gewährleistung von Sicherheit, ist eine der wesentlichen Aufgaben des Staates. Für den politischen Theoretiker Thomas Hobbes (1588–1679) war die Schaffung eines durchsetzungsfähigen Gewaltmonopols sogar der wichtigste Zweck des Gesellschaftsvertrages, der zur Staatsgründung führt. Im Rahmen dieses staatlichen Sicherheitsauftrags sind auch demokratische Staaten nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, notwendige Maßnahmen zu ergreifen, um Leib und Leben ihrer Bürger zu schützen. Dazu gehören nicht nur die Verteidigung gegen Angriffe von außen, sondern auch die Gefahrenabwehr, die Kriminalitätsbekämpfung, der Katastrophenschutz und der Schutz der öffentlichen Gesundheit im Innern.

Im Interesse dieses staatlichen Sicherheitsauftrags kann es geboten sein, dass der demokratische Staat individuelle Freiheitsrechte der Bürger vorübergehend einschränkt. Als spezielles Gebiet der Gefahrenabwehr, um „übertragbaren  Krankheiten beim  Menschen  vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern“,1 ermächtigen das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) und verschiedene Landesgesetze die zuständigen Behörden, die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit der Person, der Freizügigkeit, der Versammlungsfreiheit, des Brief- und Postgeheimnisses und der Unverletzlichkeit der Wohnung einzuschränken sowie ein berufliches Tätigkeitsverbot zu verhängen.

Eingriffe in individuelle Grundrechte, wie sie nicht nur in Deutschland, sondern in vielen anderen Demokratien im Zuge der Pandemiebekämpfung vorgenommen wurden, sind somit prinzipiell legitim. Allerdings unterliegen solche Eingriffe im demokratischen Verfassungsstaat engen Schranken.

Erstens sind Einschränkungen von Grundrechten nur so lange rechtmäßig, wie sie ausschließlich ihrem Zweck dienen, in diesem Fall, die öffentliche Gesundheit zu schützen.

Zweitens müssen Maßnahmen, die zu Grundrechtsbeschränkungen führen, in einem verfassungsmäßigen Verfahren zustande gekommen sein und auch nach rechtsstaatlichen Kriterien, insbesondere durch die Gerichte, überprüft werden können.

Drittens muss jede Notstandsmaßnahme einer demokratischen Regierung eine zeitliche Beschränkung haben: Jeder „Lockdown“ verlangt nach Perspektiven für den „Exit“.

Viertens schließlich ist das Gebot der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zu beachten. Der politische Theoretiker John Locke (1632–1704) hat aufgezeigt, dass der Sicherheitsauftrag des Staates eine dienende Funktion für die Freiheit übernimmt. Dies ist das Kennzeichen der liberalen Demokratie, durch das sich diese von autokratischen, illiberalen politischen Systemen unterscheidet. In Demokratien gilt eben nicht die Vorstellung des Staatsrechtlers Carl Schmitt (1888–1985), der im Ausnahmezustand der Herstellung von Sicherheit Vorrang gegenüber sämtlichen rechtsstaatlichen Normen einräumte.2 Im Gegenteil, in der Demokratie gilt: „Wer aus sicherheitspolitischen Erwägungen heraus konkrete Einschränkungen von Freiheitsrechten vorschlägt, hat in jedem Fall politisch die Argumentationslast dafür zu übernehmen, dass diese geeignet, erforderlich und angemessen sind.“3 Maßnahmen zur Bekämpfung einer Pandemie, wie sie im Zuge der Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus verhängt wurden, verlangen deshalb von den verantwortlichen Akteuren ein kluges Abwägen. Es geht darum, eine Balance zwischen dem Schutz individueller Grundrechte und dem öffentlichen Interesse an einer effektiven Infektionsbekämpfung zu finden.4

In Demokratien geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Die parlamentarische Demokratie sorgt durch die unmittelbar demokratische Legitimation der Legislative für die Zurechenbarkeit politischer Entscheidungen zu diesem Souverän. Daher müssen im demokratischen Staat alle „wesentlichen“ Entscheidungen vom  demokratisch legitimierten Parlament getroffen werden.

Dieses Postulat folgt nicht nur aus der Demokratietheorie, sondern entspricht in Deutschland auch der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Die sogenannte „Wesentlichkeitstheorie“ verpflichtet den parlamentarischen Gesetzgeber, „wesentliche, für die Grundrechtsverwirklichung maßgebliche Regelungen selbst zu treffen und nicht anderen Normgebern oder der Exekutive zu überlassen […]“.6

 

Legitimation und Effektivität

 

Im Zuge der Pandemiebekämpfung, insbesondere mit der Ausrufung des nationalen Notstands oder des Katastrophenfalls, kam es freilich in vielen Demokratien zu einer Verlagerung politischer Verantwortung weg von den Parlamenten hin zu anderen Akteuren und Institutionen. Am deutlichsten erkennbar war der Bedeutungsgewinn der Regierungen.

„In der Krise schlägt die Stunde der Exekutive.“7 Dieser Merksatz praktischer Politik bewahrheitete sich weltweit auch mit der Ausbreitung des neuen Coronavirus. Regierungen werden im Krisenfall häufig durch das Parlament oder durch spezielle Gesetze mit besonderen Vollmachten ausgestattet. Beispielsweise überträgt das Bayerische Katastrophenschutzgesetz die Leitung des Katastropheneinsatzes ausdrücklich der Regierung oder dem Staatsministerium des Innern.8

Auch staatliche Behörden gewannen in der Krise an Bedeutung. Dass Polizeien und Gesundheitsämter bei der Überwachung der öffentlichen Sicherheit beziehungsweise bei der Durchsetzung der Einhaltung hygienischer Vorschriften eine Rolle spielen, gilt auch in normalen Zeiten. Bemerkenswert aber war vor allem der Bedeutungsgewinn von mit besonderem Sachverstand ausgestatteten Spezialbehörden wie dem Robert Koch-Institut (RKI), das in Deutschland eine selbstständige Bundesoberbehörde für Infektionskrankheiten ist. Die Risikobewertungen und Handlungsempfehlungen des RKI wurden über viele Wochen hinweg zu einer wichtigen Entscheidungsgrundlage staatlicher Akteure.

Selbst private Sachverständige rückten an das Zentrum politischer Entscheidungen heran. Virologen und andere Wissenschaftler wurden in Expertengremien berufen und von staatlichen Organen zurate gezogen. In Nordrhein-Westfalen etwa berief Ministerpräsident Armin Laschet im April 2020 einen aus zwölf Personen zusammengesetzten sogenannten „Expertenrat Corona“.9

Solche Verantwortungsverlagerungen führen zu einem Spannungsverhältnis zwischen demokratischer Legitimation und Effektivität.10 Zwar kann es in Zeiten existenzieller Krisen in einer Demokratie geboten sein, Entscheidungen über Notstandsmaßnahmen aus Gründen der Effektivität temporär auf nichtparlamentarische Akteure zu verlagern. Wenn schnelles Handeln erforderlich ist, Parlamente nicht rechtzeitig oder nicht vollständig zusammentreten können, dann ist es nicht nur die Aufgabe, sondern sogar die Pflicht der handlungsfähigen staatlichen Organe, anstelle der Parlamente Entscheidungen zu treffen und umsetzen. Doch darf dabei nicht übersehen werden: Je größer die Handlungs- und Entscheidungsspielräume nichtparlamentarischer Akteure werden, desto niedriger ist das demokratische Legitimationsniveau.11 In einer funktionierenden Demokratie muss deshalb auch und gerade im Notstand alles darangesetzt werden, die Handlungsfähigkeit der Parlamente zu erhalten beziehungsweise baldmöglichst wiederherzustellen. Wenn Parlamente sich selbst entmachten, indem sie – wie in Ungarn geschehen12 – der Regierung ohne Zeitbeschränkung freie Hand für Dekrete lassen, ist die Demokratie in Gefahr.

 

Das rechte Maß finden

 

In einer Pandemie, die eine so gravierende Bedrohung für das Leben der Menschen darstellt, wie es bei der Ausbreitung des neuen Coronavirus der Fall ist, muss der demokratische Staat alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um seine Bürger zu schützen. Auch die Demokratie ist vor Katastrophen nicht gefeit und muss diese effektiv bekämpfen können. In der Krise kann deshalb bei einer Bewertung der erforderlichen Entscheidungen die Output-Legitimität des demokratischen Staates einen höheren Stellenwert bekommen als die Input-Legitimität: Im Ausnahmezustand sind sowohl Einschränkungen individueller Grundrechte als auch die temporäre Verlagerung von Verantwortung auf nichtparlamentarische Akteure gerechtfertigt. Der Vorwurf rechter Verschwörungstheoretiker und linker Aktivisten, die Demokratien schränkten wie Diktaturen unter dem Vorwand der Seuchenbekämpfung willkürlich Grundrechte und demokratische Beteiligungsrechte ein, ist deshalb falsch.

Unerlässlich sind allerdings eine gute Begründung, Transparenz sowie die ständige Überprüfung der einschneidenden Maßnahmen, denn nur dann ist deren öffentliche Akzeptanz gesichert. Im Ausnahmezustand und in Zeiten der Ungewissheit muss das Handeln der demokratischen Amtsträger noch stärker vom Vertrauen der Bürger getragen werden als in normalen Zeiten. In Deutschland ist dies offensichtlich gegeben. Bewertet man aktuelle Umfragen, dann war in Deutschland die Akzeptanz der von den Behörden angeordneten Maßnahmen groß: Die bundesweiten Kontakteinschränkungen wurden zwei Wochen nach ihrer Anordnung von 93 Prozent der Bürger grundsätzlich akzeptiert.13 Danach ging die Zustimmung zwar zurück, doch wurden die staatlichen Maßnahmen stets von einer Mehrheit mitgetragen.

Dass der Rechtsstaat in Deutschland entgegen kruden Verschwörungstheorien auch im Ausnahmezustand funktioniert, zeigten Gerichtsurteile, die einzelne von örtlichen Behörden ausgesprochene Versammlungsverbote aufhoben und Demonstrationen unter Auflagen gestatteten.14 Die Entscheidungen verwiesen darauf, dass Grundrechtsbeschränkungen verhältnismäßig sein und staatliche Akteure alle Spielräume nutzen müssen, um Grundrechte auch in der Krise zu schützen. Im Zweifel muss im demokratischen Rechtsstaat die Entscheidung stets zugunsten der Freiheit getroffen werden.

Zugleich haben solche Gerichtsentscheidungen eine erhebliche Signalwirkung: Auch und gerade in der Krise sind Widerspruch und Kritik unverzichtbar. Sie helfen Demokratien dabei, ihre Maßnahmen ständig zu überprüfen und das rechte Maß im Kampf gegen die Pandemie zu finden. So bewährt sich die Demokratie in der Krise.

 

Klaus Stüwe, geboren 1966 in Nürnberg, Vertrauensdozent der KonradAdenauer-Stiftung, Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Politikwissenschaft und Vizepräsident der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Leiter des Zentralinstituts für Ehe und Familie in der Gesellschaft (ZFG).

 

1 Deutsches Infektionsschutzgesetz (IfSG) § 1 Abs. 1.

2 Vgl. Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 1979 (Neudruck der 2. Aufl. von 1934), S. 19.

3 Heiner Bielefeldt: Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat (Essay, 1), Deutsches Institut für Menschenrechte, Berlin 2004, S. 18, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168ssoar-316098 [letzter Zugriff: 18.05.2020].

4 Vgl. Urban Wiesing / Georg Marckmann: „Vogelgrippe. Eine neue Pandemie – alte ethische Probleme“, in: Deutsches Ärzteblatt 2006, 27. Jg., Nr. 103, A 1888.

5 Vgl. Art. 20 Abs. 1 GG.

6 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 147, 253, Rdnr. 116.

7 Vgl. Klaus-Dieter Frankenberger: „Es ist die Stunde der Regierenden“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.03.2020, www.faz.net/aktuell/politik/inland/corona-krise-die-stunde-derregierenden-16688417.html [letzter Zugriff: 18.05.2020].

8 Bayerisches Katastrophenschutzgesetz (BayKSG) Art. 2 Abs. 3.

9 Ministerpräsident Armin Laschet beruft „Expertenrat Corona“, www.land.nrw/de/pressemitteilung/ ministerpraesident-armin-laschet-beruft-expertenrat-corona [letzter Zugriff: 18.05.2020].

10 Anika Klafik: Risiko und Recht: Risiken und Katastrophen im Spannungsfeld von Effektivität, demokratischer Legitimation und rechtsstaatlichen Grundsätzen am Beispiel von Pandemien, Tübingen 2017, S. 73.

11 Ebd., S. 85.

12 „Corona-Notstand: Freie Hand für Viktor Orban in Ungarn“, in: Frankfurter Rundschau, 30.03.2020, www.fr.de/panorama/corona-ungarn-viktor-orban-notstand-diktatur-zr-13633977.html [letzter Zugriff: 18.05.2020].

13 Zufriedenheit mit dem Corona-Krisenmanagement der Bundesregierung, ARD DeutschlandTREND April 2020, www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/arddeutschlandtrend/2020/april/ [letzter Zugriff: 18.05.2020].

14 Vgl. z. B. Bundesverfassungsgericht: Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung gegen Versammlungsverbot teilweise erfolgreich, Pressemitteilung Nr. 25/2020, 16.04.2020, www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-025.html; jsessionid=33912CC6006471FD7CF30363D659D579.2_cid392 [letzter Zugriff: 18.05.2020].

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