Demokratie ist ein kompliziertes, anspruchsvolles Unterfangen. Die Grundidee kollektiver Selbstbestimmung ist oft mehr Versprechen als Umsetzung. Sie tendiert dazu, übertriebene Erwartungen zu produzieren und zu enttäuschen. Auch deshalb ist die Skepsis gegenüber demokratischer Herrschaft so ubiquitär. Zugleich existieren grundlegende Missverständnisse hinsichtlich deren Charakteristika. Demokratie bedeutet indes nicht, dass Autorität aufgelöst wird und Unter-/Überordnungsverhältnisse verschwinden. Sie ist zudem weder notwendig selbst besonders material aufgeladen („Werte“) noch auf demokratieextern entwickelte Rationalitätsvorstellungen ausgerichtet. Im Gegenteil lässt sich die spezifische Funktionalität demokratischer Willensbildung recht gut so umschreiben, dass sie gerade dazu dient, unvermeidliche epistemische Unsicherheiten zu prozeduralisieren. Das Schlagwort „Mehrheit statt Wahrheit“ bringt das in zugespitzter, aber nicht unzutreffender Form auf den Punkt.
Wildwuchs staatsnaher Beratungsgremien
Offensichtlich bedeutet das nicht, dass demokratische Herrschaft sich äußeren, insbesondere wissenschaftlichen Einsichten und Debatten durchgehend verschließt. Vorhandenen kognitiven Beschränkungen ist zu begegnen, und das kann auch bedeuten, qualifizierten externen Rat zu suchen. Allerdings ist ebenso evident, dass solche Annäherungsprozesse beide Seiten verändern. Um zu verhindern, dass Demokratie expertokratisch überformt wird, bedarf es deshalb einer gewissen Zurückhaltung und Einhegung. Vor diesem Hintergrund ist die erkennbar quantitativ wie qualitativ zunehmende Einbeziehung spezieller Expertengremien (auch) kritisch zu betrachten. Mit dem Begriff der „Räterepublik“ soll auf dieses ebenso rechtsstaatlich wie demokratisch potenziell problematische Phänomen aufmerksam gemacht werden. Er verweist auf die paradoxe Situation einer Etatisierung durch (angebliche) Entstaatlichung beziehungsweise die prinzipiell gegenläufige, jedoch verzahnte Bewegung von Politisierung und Entpolitisierung, die durch den staatsinduzierten Einsatz unterschiedlichster, aber im Grundansatz doch vergleichbarer (Bei-)Räte entsteht.
Der zunehmende „Wildwuchs“ solcher mehr oder weniger staatsrespektive regierungsnaher Beratungsgremien kann das geordnete demokratische Institutionengefüge beeinträchtigen. Ihre genaue Zahl ist dabei schwer zu ermitteln; immerhin dürfte mittlerweile von einigen Dutzend solcher (Beratungs-)Gremien auszugehen sein. Sie reichen von traditionellen, auch der breiteren Öffentlichkeit bekannten und vergleichsweise einflussreichen Gremien wie dem „Sachverständigenrat für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung“ bis hin zu weithin unbekannten, mit Nischenthemen betrauten Gremien wie der „Spezialisierten Ethik-Kommission für besondere Verfahren“ gemäß §41c Arzneimittelgesetz, die ab 1. Juli 2025 ihre Tätigkeit aufnehmen soll. Sie haben unterschiedliche rechtliche Grundlagen, sind mehr oder weniger eng mit den jeweiligen staatlichen Institutionen verbunden, und natürlich besteht eine breite Varianz hinsichtlich nicht nur des jeweiligen Aufgabenspektrums, sondern auch der Äußerungsformen, des adressierten Publikums und der Besetzung der Gremien. Zudem treten diese explizit durch staatliche Stellen ins Leben gerufenen und von diesen beauftragten Beiräte/Kommissionen neben eine Myriade anderer staatsnaher, zumindest partiell aus öffentlichen Mitteln finanzierter Organisationen, die von den politischen Stiftungen über die Public-Policy-Einheiten kommerzieller Beratungsfirmen bis zu den wissenschaftlichen Akademien reichen. Zusätzliche Brisanz entsteht durch jüngst intensiver diskutierte, ebenfalls staatlich zumindest mitfinanzierte Akteure der sogenannten Zivilgesellschaft, die sich organisationstheoretisch als Quasinongovernmental organizations (Quangos) einordnen lassen.
Politisierung der Räte, Entpolitisierung der Politik
Es dürfte kaum zu bezweifeln sein, dass nicht nur die Zahl, sondern überdies die Relevanz und Prominenz der Beratungsgremien zunimmt. Neben die diversen dauerhaft installierten Beratungsgremien treten – ebenfalls in letzter Zeit verstärkt – anlassbezogen zusammengestellte Ad-hoc-Gremien mit mehr oder weniger klar explizit ausgesprochenem politischem Auftrag (etwa Schwangerschaftsabbruch, Krankenhausreform, Datenethikkommission, Kommission zu NIPT [Nichtinvasiver Pränataltest, Anm. d. Redaktion] und andere). Sie sind (bewusst) außerhalb der ministeriellen oder parlamentarischen Geschäftsgänge angesiedelt, sollen jedoch erkennbar diese Vorgänge beeinflussen.
Etwas anders funktionieren die teilweise eingerichteten, teilweise eingeforderten sogenannten Bürgerräte. Sie werden als originelles Experimentierfeld deliberativer Demokratie vorgestellt und entfernen sich damit von dem Legitimationsargument des besonderen Sachverstands. Umso größer ist allerdings ihr Potenzial, die herkömmlichen Strukturen als defizitär, problematisch und tendenziell überholt zu kennzeichnen. Charakteristisch ist dabei zugleich ein Outsourcingmodus, der paradoxerweise auf eine Etatisierung der gesellschaftlichen Sphäre hinausläuft – etwa dann, wenn solche Gremien nicht unmittelbar staatlich initiiert, sondern durch formell separate, inhaltlich staatsnahe Akteure wie die Bertelsmann Stiftung organisiert werden.
Auch bei den „Expertengremien“ wird durch die vordergründige Entpolitisierung letztlich das Politische nicht verdrängt, sondern nur camoufliert: Denn die Auswahl erfolgt natürlich hier wie andernorts auch anhand politischer Interessen und Grundannahmen. Erst recht ist die mediale wie politische Rezeption stark abhängig davon, ob und inwieweit Erwartungshaltungen bedient werden. Auch wenn formal die Rolle der Beratungsinstanzen auf die des – mal mehr, mal weniger im Hintergrund verbleibenden – Zuflüsterers begrenzt ist und ihre Unabhängigkeit betont wird, ist doch eine zunehmende bewusste Indienstnahme durch die Politik zu beobachten. Das bedeutet einerseits eine Politisierung der Räte, andererseits aber auch eine gewisse Entpolitisierung der Politik: Nicht nur dort, wo auf angeblich unabhängige wissenschaftliche Expertise verwiesen wird, sondern auch und gerade dort, wo Meinungsbildung vorweggenommen wird, folgt aus dem Verweis auf die Räte eine Begrenzung der (insbesondere parlamentarischen) Debatte. Verstärkend wirken sich Medialisierungseffekte aus, die teilweise von den Räten selbst ausgehen, oft aber auch einer Binnenlogik des Medienbetriebs entsprechen und zugleich (unterstellte) Publikumsinteressen bedienen. Das Einbeziehen „politikferner“ Personen/Organisationen soll erkennbar Vertrauen in die etablierte Politik stärken. Es kann aber auch die gegenteilige Wirkung auslösen, indem eine erkannte oder vermeintliche Politikhörigkeit letztlich beide Seiten unglaubwürdiger macht.
Politischer Wettbewerb ist ein Entdeckungsverfahren
Diese Entwicklungstendenz ist aus unterschiedlichen Aspekten heraus kritisch zu beurteilen. An dieser Stelle mögen vier zentrale Argumente genügen.
Erstens: Die übermäßige Bezugnahme auf „Expertenwissen“ widerspricht den bewusst subjektiven, primär prozeduralen und ephemeren Zielvorstellungen demokratischer Willensbildung. Demokratie stellt den Versuch dar, Herrschaft, die stets auch individuell abgelehnte, willkürliche und „ungerechte“ Aspekte umfasst, aushaltbar und unvermeidbare epistemische Defizite handhabbar zu gestalten. Sie basiert auf vergleichsweise bescheidenen Zielsetzungen: Sie geht von der Fehlbarkeit und Ersetzbarkeit politischer Entscheidungen selbst in vergleichbaren kurzen Zeiträumen aus und erweist ihre Funktionalität gerade in der – nicht an externen objektiven Richtigkeitsmaßstäben zu messenden – Selbstkorrektur. Zudem lebt sie von Zurechnungs- und Verantwortungselementen. Sie widerstreitet damit Versuchen, politische Entscheidungsbestandteile aus dem Zusammenhang zu reißen, Einzelaspekte vom Gesamtkontext zu lösen und unterschiedlichen, angeblich besser fachlich qualifizierten Einheiten zu überlassen. Es verkennt grundlegend die Logik demokratischer Verfahren, diese nicht systemkonform an ihrer internen Konsistenz – die durchaus mit inhaltlichen Widersprüchen einhergehen kann und nur die formale Anschlussfähigkeit umfasst – zu messen, sondern stattdessen externe, angeblich überpolitische und „objektive“ Maßstäbe heranzuziehen.
Die legitime Bedeutung multi- und transdisziplinärer Information und Beratung der Entscheidungsgremien wird überdehnt, wenn letztere ihre eigene Verantwortung zurücknehmen und sich hinter angeblich alternativlosen Expertenmeinungen verstecken. Das verkennt nicht nur die Funktionsweise des notwendig diversen und kontroversen Funktionssystems Wissenschaft, sondern verfehlt auch den Anspruch der Demokratie. Gerade ihr iterativer, auf Versuch-und-Irrtum-Schritte angelegter Charakter macht es erforderlich, unterschiedliche politische Konzepte im Streit der Meinungen aufeinandertreffen zu lassen. Wie der wirtschaftliche ist der politische Wettbewerb ein Entdeckungsverfahren.
Zweitens: Staat und Gesellschaft bleiben auch in Demokratien prinzipiell getrennte Bereiche – einerseits rechtsstaatlich eingehegt und damit tendenziell statisch, andererseits freiheitsbasiert, tendenziell offen, flexibel und innovativ. Diese grundsätzliche Trennung dient zumal der demokratischen Willensbildung, die aus der Gesellschaft heraus erfolgen soll und so – nicht nur, aber insbesondere vermittelt über die politischen Parteien – in die staatlichen Institutionen hineinwirkt. Dieses komplexe Gefüge gerät in Unwucht und droht aus der Bahn geworfen zu werden, wenn sich der Staat seine eigenen gesellschaftlichen Diskurspartner schafft und unterhält – sei es, weil er politisch genehme sogenannte Akteure der „Zivilgesellschaft“ über finanzielle Zuwendungen steuert und gefügig hält, sei es, weil er sich durch das Etablieren nur vordergründig staatsferner Diskussionsräume in Räten weitergehende Einflussoptionen sichert.
Drittens: Das Outsourcing kann eine Ausweich- und Aufweichungsstrategie gegenüber verfahrens- und organisationsrechtlichen Anforderungen darstellen. Es verformt den demokratischen Willensbildungsprozess, wenn die einschlägigen Regularien – einschließlich der vorgegebenen Reihenfolge der Beteiligungen – zur Seite geschoben und rechtlich nicht vorgesehene Akteure an relevanter Position (mit)berücksichtigt werden. Beispielhaft verdeutlicht wird dies durch das erstaunliche, in die Frühzeit der Pandemiepolitik zurückweisende Vorgehen des damaligen Bundesgesundheitsministers, der ein laufendes Gesetzgebungsverfahren zu Immunitäts- und Impfzertifikaten unterbrechen ließ, um eine Stellungnahme des Deutschen Ethikrates einzuholen. Denn auch wenn dies selbstredend nichts an der prinzipiellen Entscheidungshoheit des Parlaments ändert, erfolgt es doch in der Erwartung, sich eine zusätzliche Legitimationsquelle zu erschließen. Darüber hinaus finden die üblichen verwaltungsrechtlichen Bestimmungen, die der rechtsstaatlichen Begrenzung staatlicher, vor allem exekutiver Macht dienen, auf die Räte allenfalls eingeschränkt und modifiziert Anwendung. Das betrifft etwa die Frage der Transparenz/Informationsfreiheit. Die formalisierte Informalität, die mit der Übergabe relevanter entscheidungsvorbereitender Diskussions- und Reflexionsprozesse in den Arkanbereich der Räterepublik verstärkt wird, beeinträchtigt die rechtlich geordnete Formalität der demokratischen Institutionen.
Viertens: Die Expertifizierung droht Aversionen gegenüber dem demokratischen Pluralismus zu verstärken. Sie bekräftigt eine traditionelle Objektivitäts- und Wahrheitssehnsucht, die zur Demokratiefeindschaft avancieren kann. Bekanntlich gelten mit der Demokratie verbundene Unsicherheiten und Konflikthaftigkeiten hierzulande allzu oft als unerwünscht; besonderer Beliebtheit erfreuen sich deshalb Institutionen, von denen die Bürger eine „richtige“ Entscheidung erwarten. Diese historisch gewachsene Prädisposition wird durch die „Räterepublik“ unterstützt; umgekehrt begünstigt diese deren Fortexistenz. Dem bloßen „Parteiengezänk“ wird so – explizit oder implizit – die angeblich rationale und gesittete Debatte unter professionell erfahrenen Experten gegenübergestellt. Das läuft zwangsläufig auf eine Abwertung des normalen parlamentarisch-politischen Prozedere hinaus und bleibt auch sonst nicht folgenlos. Die oft eher hemdsärmelig erfolgende Integration semiexterner Beratungsgremien kreuzt und beeinträchtigt Funktionslogiken unterschiedlicher Subsysteme. Wenn dies geschieht, dann offensichtlich in der Annahme, dass am Ende damit eine quasi-demokratische Prämie auf den demokratisch legitimierten Machtbesitz verbunden ist.
Das Gesagte bedeutet allerdings kein pauschales Plädoyer für die Abschaffung sämtlicher Beratungsgremien. Wohl aber ist genauer darauf zu achten, dass sie nur vorsichtig eingesetzt werden, um die unmittelbar demokratisch legitimierten Institutionen und Institutionengefüge nicht zu beeinträchtigen und das diesen ohnehin nur begrenzt entgegengebrachte Vertrauen der Bürger nicht weiter zu reduzieren. Das verlangt eine kritische Bestandsaufnahme und eine kluge gremieninterne wie politische Begrenzungsstrategie, die aufgrund evidenter Interessenkonflikte rechtlich abgesichert und offen kommuniziert werden sollte.
Steffen Augsberg, geboren 1976 in Gießen, Rechtswissenschaftler, Professor für Öffentliches Recht, Justus-Liebig-Universität Gießen.