Asset-Herausgeber

Lebenswert und zukunftsfest

von Christian Schmidt

Eine neue Politik für ländliche Regionen

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Ländliche Regionen prägen das Bild unserer Heimat: Über die Hälfte der Bevölkerung lebt auf dem Land. Der überwiegende Anteil der mittelständischen Unternehmen ist dort angesiedelt. Natur- und Kulturlandschaften bieten einen Rückzugsraum für Erholungssuchende.

Die regionale Vielfalt unserer Lebensmittel wird auf dem Land erzeugt. Die Vielfalt und Vitalität der ländlichen Regionen ist damit nicht nur Basis unseres Wohlstands, sondern auch der gesellschaftlichen Stabilität unseres Landes. Diesen Schatz gilt es zu erhalten und zu fördern – mit einer neuen Politik für ländliche Regionen.

Dabei wissen wir, dass es den einen ländlichen Raum nicht gibt. Neben wirtschaftlich prosperierenden oder auch durch Zuzug wachsenden Regionen

existieren Gegenden, die durch Abwanderung und Alterung, fehlende Arbeitsplätze und Defizite bei der Grundversorgung gekennzeichnet sind. Würde die Entwicklung verstärkt, wüchse das Risiko, dass wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land gefährden. Wenn Läden und Schulen schließen, wenn Verwaltungen nicht mehr präsent sind und der Leerstand zunimmt, entsteht schnell ein Gefühl des Abgehängtseins, aus dem sich Politikverdrossenheit und Ressentiments entwickeln können. Ein weiteres Auseinanderdriften der Regionen muss daher verhindert werden. Menschen, die auf dem Land leben, brauchen vor Ort verlässliche Strukturen. Sie erwarten zu Recht eine umfassende wohnortnahe Versorgung und eine lebendige Ehrenamts- und Vereinsstruktur. Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in allen Regionen muss deshalb zu einem Aktivposten auf der politischen Agenda unseres Landes werden.

 

Zuständigkeiten bündeln – auch beim Bund

Mehr als in jedem anderen Politikfeld stehen bei den ländlichen Räumen an erster Stelle die Menschen vor Ort, die die Herausforderungen in ihrer Region kennen und Lösungen finden können. Das vorausgesetzt, muss der Bund auf diesem Feld seine Rolle neu definieren, um sich stärker für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland engagieren zu können und um mit Rahmenkonzepten und zielgerichteter Förderung neue Wege zu finden. Ziel ist es, da zu unterstützen und zu aktivieren, wo Länder und Kommunen an ihre Grenzen stoßen. Die Realität zeigt: Eine bessere Koordination und Steuerung ist in Deutschland auf allen Ebenen notwendig.

So hat sich das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) durch seine Aktivitäten als Verantwortlicher in der Bundesregierung für die ländlichen Räume etabliert. Für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ (GAK) stehen in diesem Jahr 765 Millionen Euro zur Verfügung. Auch die Mittel für das Bundesprogramm Ländliche Entwicklung (BULE) sind von zehn Millionen auf 55 Millionen Euro aufgestockt worden.

Gestärkt wurde das Ministerium zudem durch die Gründung einer neuen Abteilung, die für die Ländlichen Räume zuständig ist. Da der Bund in unserem föderalen System nicht allein aktiv werden kann, könnte künftig eine „Gemeinsame Koordinierungsstelle Ländlicher Raum“ weitere Impulse für die Erarbeitung eines abgestimmten „Zukunftsprogramms für unsere ländlichen Regionen“ geben. Grundvoraussetzung muss sein, dass das BMEL als Ministerium für Ländliche Räume noch umfassender als bisher die Koordination im Bund für die zentralen Fragen der ländlichen Regionen in Deutschland übernimmt und so Akteure und Ideen zusammenbringt sowie entsprechende Aktivitäten initiiert.

Ich gehe so weit, eine politische Präferenz für die ländlichen Räume zu fordern. Bei Standortentscheidungen, Infrastrukturmaßnahmen oder Aktivitäten zur Daseinsvorsorge sollten genau die Regionen gestärkt werden, die die größten strukturellen Herausforderungen für die Zukunft zu meistern haben.

 

Neue Ideen für das Land

Die Vielfalt urbaner und ländlicher Räume ist Ausdruck und Ergebnis der historischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und staatlichen Entwicklung. Diese gilt es zu bewahren, und es darf daher nicht darum gehen, Stadt und Land gegeneinander auszuspielen.

Im Falle staatlicher Investitionen in urbane Infrastruktur, beim Hochschulbau oder bei der Förderung zentraler Industriestandorte könnten als Ausgleich dafür in den ländlichen Räumen über einen neuen Fonds für die ländliche Entwicklung vergleichbare Finanzmittel vorgesehen werden, um finanzschwachen Kommunen auf dem Land eine Förderung anzubieten. Anhand solcher Überlegungen gilt es, die vorhandenen finanziellen Förderungskonzepte weiter zu entwickeln.

Für die hierzu erforderliche Datengrundlage wurde das Thünen-Institut beauftragt, einen Landatlas zu entwickeln. Damit können wir regionale Herausforderungen identifizieren und passgenaue Fördermöglichkeiten ableiten. Grundsätzliches Ziel der Daseinsvorsorge muss es sein, den Menschen Planbarkeit und Perspektiven zu bieten. Nur wer die Sicherheit hat, auch in Zukunft Zugang zu Bildung, ärztlicher Versorgung oder Einkaufsmöglichkeiten zu haben, wird sich für das Leben in ländlichen Regionen entscheiden.

Die Entwicklung moderner Daseinsvorsorge und Infrastruktur muss den jeweiligen Erfordernissen vor Ort angepasst werden. Es gilt, gemeinsam mit den regionalen Partnern neue föderalismuskonforme Lösungsmodelle zu entwickeln. Diese werden im ländlichen Umfeld von Metropolen anders aussehen als in dünn besiedelten Gebieten.

Gemeinsames Ziel aller Aktivitäten ist es, Lösungen zu finden, die wirtschaftlich tragfähig sind und von privaten Akteuren weitergeführt werden können. Erfolgreiche Modellvorhaben müssen bei Bedarf in eine Regelförderung überführt werden können.

 

Wirtschaftskraft der Regionen verbessern

Mittelstand, Handwerk und Kleinbetriebe haben in ländlichen Regionen eine besonders hohe Bedeutung für Arbeit, Einkommen, Ausbildung und regionale Wirtschaftskreisläufe. In Zeiten steigender Immobilienpreise bieten die ländlichen Räume Chancen für wachsende Unternehmen mit Flächenbedarf und für Existenzgründer. Deshalb wollen wir solche Unternehmer auf die Chancen des ländlichen Raums aufmerksam machen.

Durch die verstärkte Förderung von Ausbildung und Start-up-Unternehmen wollen wir junge Menschen in ländlichen Räumen halten oder dorthin zurückholen. Wir unterstützen die Unternehmen, die regionale Märkte bedienen ebenso wie solche, die mit Ideen, Dienstleistungen und Produkten unsere Zentren sowie die internationalen Märkte versorgen und so im ländlichen Raum neue Handels- und Vertriebssysteme aufbauen. Regionale Produkte sollen noch stärker etabliert werden. Das gilt gleichermaßen für das Brot und den Käse aus dem Dorfladen wie für High-Tech-Innovationen für den Maschinen- und Fahrzeugbau.

Dabei ist auch zu beachten, dass nicht alles nach der Prämisse des Wettbewerbsrechts entschieden werden kann. Hohe Qualität erfordert häufig hohe Standards und damit höhere Kosten, die nicht ausschließlich über den freien Markt ausgeglichen werden können. Hier muss der Staat die Menschen auch weiterhin unterstützen können.

In der digitalen Gesellschaft ermöglicht der Zugriff auf die Datenautobahn mehr Chancen auf dem Land. Die Bundesregierung investiert vier Milliarden Euro in ein flächendeckendes Breitbandnetz mit fünfzig Mbit/s. Gerade Unternehmen und Freiberufler in ländlichen Räumen brauchen schnelle und leistungsfähige Internetverbindungen, um Daten, Informationen oder Produkte zu den Kunden in Deutschland und der Welt schnellstmöglich transportieren zu können. Konkret bedeutet das: Glasfaser bis ans Haus und zu jedem Funkmast, damit auch die neuen Leistungspotenziale der nächsten Generation (5G) überall Standard werden.

Der Ausbau des Glasfasernetzes darf nicht einseitig durch Gewinnprognosen beeinflusst, sondern muss durch einen abgestimmten Zuschnitt der Ausschreibungen ausgeglichen werden. Deshalb ist es wichtig, für einen fairen Wettbewerb aller Investoren und Konzepte zu sorgen. Wer den 5G-Mobilfunkstandard in Frankfurt am Main aufbauen will, muss auch die Erschließung im Hunsrück realisieren. Gerade bei dieser Technologie zeigt sich, wie wichtig die Erprobung und der Einsatz von Neuerungen für den ländlichen Raum und seine Entwicklung sind.

 

Infrastruktur und Nahversorgung

Die medizinische Versorgung auf dem Land muss die gleiche Qualität haben wie in der Stadt. Um konsequenter als bisher medizinisches Fachpersonal für eine Tätigkeit auf dem Land zu gewinnen, muss über eine Landarztquote bei Studienplatzvergabe, die Etablierung von Lehrkrankenhäusern in ländlichen Regionen („eine Universität, zwei Standorte“) sowie den Aufbau eines Gemeindeschwestersystems nachgedacht werden. Ergänzend, aber nicht ersetzend sollen die Möglichkeiten der Digitalen Medizin ausgebaut werden. Gerade bei der Geburtsbegleitung und -nachsorge sind Hebammen unverzichtbar.

In besonders vom demografischen Wandel betroffenen Regionen kommt in den nächsten Jahren ein hoher Anpassungsbedarf auf die Kommunen zu. Über gestärkte Kommunalfinanzen und verbesserte Möglichkeiten der Stadt- und Dorfentwicklung sollen Leerstand bekämpft, die Stadt- und Ortskerne aufgewertet und Angebote der Grundversorgung gestärkt werden. Die breite Einführung des vielfach bewährten Konzepts „Jung kauft alt“ verbindet die Schaffung von Wohneigentum für Familien mit Leerstandnutzung. In kleinen Orten können Mehrfunktionenhäuser ein wichtiges Instrument dafür sein, dass die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs und Dienstleistungen gesichert ist. Sie können bereits heute über das BMEL und die jeweiligen Entwicklungsprogramme der Länder gefördert werden. Die Wettbewerbe „Unser Dorf hat Zukunft“, „Kerniges Dorf“ oder „REGIOkommune“ des BMEL schaffen zusätzliche Anreize für die ländliche Entwicklung. Sie fördern Engagement, Kreativität und Eigeninitiative der Bürgerinnen und Bürger vor Ort.

Ein besonders bedeutendes Ziel liegt darin, Bildungs- und Betreuungsmöglichkeiten vor Ort zu erhalten oder neu zu schaffen. Zum Erhalt von Grundschulen unterstützen wir Kooperationen und innovative Lösungen, die einen hochwertigen Schulunterricht auch dort ermöglichen, wo klassische Schulstandorte nicht mehr tragfähig sind. Wichtig sind auch erreichbare Gymnasien, Berufs- und Fachschulen sowie Weiterbildungseinrichtungen, um den Fachkräftenachwuchs in ländlichen Regionen sicherzustellen.

Hierfür muss der ÖPNV besser organisiert werden. Auch hier gilt es, die gemeinde- und landkreisübergreifende interkommunale Zusammenarbeit zu stärken. Der Busverkehr ist das Rückgrat des ÖPNV im ländlichen Raum. Er sollte durch bedarfsgerechte Fahrzeuggrößen sowie vielfach erprobte flexible Transportmöglichkeiten (Bürgerbusse oder Sammel- und Ruftaxis) ergänzt werden. Auch der Führerschein ab sechzehn Jahren stellt einen gangbaren Weg zu mehr Mobilität dar.

 

Verwaltung bürgernah sichern

Starke ländliche Räume brauchen starke Kommunen mit flexiblen Finanzmitteln. Eine moderne und präsente Verwaltung, bürgernahe Strukturen und mehr Eigenverantwortung vor Ort ergänzen einander.

Besondere Bedeutung kommt der Bündelung der lokalen Verantwortung zu. Durch Zusammenarbeit über Gemeinde-, Kreis- und Landesgrenzen hinweg lassen sich Initiativen und Projekte auf den Weg bringen, die für Kommunen im Alleingang nicht oder nur schwer umsetzbar sind. Bürgerbüros und mobile Bürgerservices können auch in dünner besiedelten Gemeinden Angebote in den Orten anbieten. Die Digitalisierung der Verwaltung kann neue Perspektiven für die Bürgerinnen und Bürger eröffnen. Das darf aber nicht bedeuten, dass Verwaltung nicht mehr sichtbar ist. Wir brauchen auch in Zukunft eine Präsenz vor Ort, klare Zuständigkeiten und echte Ansprechpartner, die die Situation vor Ort kennen. Zur besseren Bund-Länder-Koordinierung kann auch hier eine „Gemeinsame Koordinierungsstelle Ländlicher Raum“ wertvolle Arbeit leisten.

Das Ehrenamt ist die Seele des ländlichen Raums. Wer das ehrenamtliche Engagement stärkt, stärkt auch das Land. Daher müssen vom Ehrenamt getragene gesellschaftliche Initiativen mit Vorbildcharakter in ländlichen Räumen gefördert werden. Ein Beispiel ist das Programm „500 Landinitiativen“, mit dem Menschen unterstützt werden, die sich ehrenamtlich für die Integration von Flüchtlingen engagieren.

Viele ländliche Regionen stehen vor großen Herausforderungen. Gleichzeitig sind sie aber auch Orte voll Innovation, Ideen und Lebensqualität. Zur Bewältigung der Herausforderungen auf dem Land setze ich auf den Dialog mit allen Beteiligten. Wir bringen Aktive und Engagierte aus Bürgerschaft, Unternehmen, Kommunen, Verbänden und Politik zusammen.

Mein Ziel lautet: gemeinsam und im Austausch mit den Akteuren vor Ort die Herausforderungen für die Zukunft zu benennen sowie Lösungen für lebendige und zukunftsfähige ländliche Regionen zu entwickeln und bekannt zu machen. Hierfür brauchen wir eine neue Politik für ländliche Regionen und eine starke Allianz aus Partnern, die intensiv für Daseinsvorsorge, Wirtschaft, Arbeit, eine gute Siedlungsentwicklung und Landnutzung sowie zivilgesellschaftliches Engagement in der Fläche arbeitet. So werden ländliche Regionen lebenswert und entwickeln sich zukunftsfest.

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Christian Schmidt, Geboren 1957 in Obernzenn, Landkreis Neustadt an der Aisch, Rechtsanwalt, seit 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages, seit 2014 Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft.

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