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Politik vom Grundsätzlichen her denken

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Die zurzeit viel diskutierte „Zeitenwende“ fand, wie Michael Mandelbaum in seinem Buch The Rise and Fall of Peace on Earth (Oxford 2019) herausgearbeitet hat, eigentlich bereits im Jahr 2014 statt. Damals annektierte das von Wladimir Putin geführte Russland die Krim und errichtete in der Ostukraine die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Von dort aus wurde am 17. Juli 2014 eine Passagiermaschine mit 298 Menschen an Bord auf dem Flug MH17 von Amsterdam nach Kuala Lumpur abgeschossen.

Russische Streitkräfte halfen 2015/16 dem syrischen Gewaltherrscher Baschar al-Assad, Aleppo in Schutt und Asche zu legen. Anderthalb Jahre später, im Herbst 2017, war Bundestagswahl. Die CDU zog in den Wahlkampf mit dem idyllischen Slogan „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“. Damals verlor die Union 8,6 Prozent, fast so viel wie die 8,8 Prozent bei der Bundestagswahl 2021.

Auch im Bundestagswahlkampf 2021 schien es der Union primär darum zu gehen, ungemütliche Botschaften zu vermeiden. Dabei lagen die Quellen künftiger Probleme offen zutage, namentlich die extreme Energieabhängigkeit von einem aggressiv revisionistischen Russland, der desolate Zustand der Bundeswehr, die Rückstände bei der Digitalisierung, Defizite beim Katastrophenschutz und vieles andere mehr.

Anfang März 2022 beschrieb Constanze Stelzenmüller pointiert den sandigen Untergrund, auf dem das neue deutsche Biedermeier errichtet wurde: Deutschland habe „seine Sicherheit an die USA ausgelagert, seinen Energiebedarf an Russland und sein exportbedingtes Wirtschaftswachstum an China“. Jetzt heißt es teils entschuldigend, teils patzig, im Nachhinein sei man immer klüger: „Wir alle“ hätten uns doch Illusionen gemacht. Außerdem habe es für bestimmte Positionen keine gesellschaftliche Mehrheit in Deutschland gegeben. Und überdies habe der Koalitionspartner SPD nicht mitgespielt. Bei näherem Hinsehen erweisen sich diese Defensivargumente als falsch oder hohl.

Es gab, erstens, genügend Zeitgenossen – besonders im Osten Europas –, die schon im Vorhinein klüger waren; doch „wir alle“ wollten nicht auf diese lästigen Stimmen hören. Zweitens ist es nicht die Aufgabe politischer Parteien, gesellschaftlichen Mehrheiten hinterherzulaufen; vielmehr haben sie die Pflicht, zu versuchen, gesellschaftliche Mehrheiten für die eigenen Überzeugungen (soweit vorhanden) zu gewinnen. Und drittens: Der entschuldigende Hinweis auf den Koalitionspartner ist nichts anderes als das Eingeständnis, dass man selbst nicht den Mut zum Streit hatte und auch kein Stehvermögen bei stärkerem Gegenwind. Das ist kein Plädoyer für Polarisierung; politische Kontroversen sind nie Zweck an sich. Es geht um die Sache, für die man steht.

 

„Geistig-moralische Erneuerung“

 

Der Rückblick auf den Machtwechsel von der Regierung Schmidt zur Regierung Kohl vor bald vierzig Jahren, im Herbst 1982, bietet instruktives Anschauungsmaterial dafür, wie erfolgreich eine Politik sein kann, die vom Grundsätzlichen her konzipiert ist; die in langen historischen Linien denkt und daher Probleme anpackt, die noch nicht spürbar sind, aber jenseits des Horizonts lauern; die bereit ist, um der eigenen Überzeugungen willen harte Auseinandersetzungen mit der politischen Konkurrenz in Kauf zu nehmen.

Diese Politik bleibt mit dem Namen Helmut Kohl verbunden, obwohl sie natürlich nicht von ihm allein erdacht und realisiert wurde. Sie speiste sich nicht zuletzt, wie Angela Merkel im Herbst 2021 treffend hervorhob, aus Kohls tiefem Verständnis für große geschichtliche Zusammenhänge. Wer sich zu detailverliebt auf Bäume konzentriert, sieht irgendwann den Wald nicht mehr. Immer noch kann man die Lacher auf seine Seite ziehen, wenn man Helmut Schmidts abgegriffenes Bonmot zitiert: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Falsch: Wer keine Visionen hat, ist dazu verurteilt, auf Sicht zu fahren.

Kohl begründete den Machtwechsel 1982 mit der Notwendigkeit einer „geistig-moralischen Erneuerung“. Diese oft missverstandene Formel sollte signalisieren, dass es um einen Politikwechsel auf Feldern von prinzipieller Bedeutung ging: Konsolidierung des Bundeshaushalts mit dem Ziel, die Belastung nachwachsender Generationen zu verringern; Reform des Steuersystems und des Sozialstaats nach dem Motto „Leistung muss sich wieder lohnen“; Akzentuierung des vom Grundgesetz normierten Wiedervereinigungsgebots bei Fortsetzung des „geregelten Miteinanders“ zwischen Bundesrepublik und DDR; Überwindung der „Eurosklerose“ im Tandem mit Frankreich; Wiederbelebung der transatlantischen Beziehungen – gegen eine Politik der Äquidistanz zwischen Washington und Moskau, wie sie von großen Teilen der SPD (den „Putin-Verstehern“ von heute) und praktisch allen Grünen vertreten wurde.

Der Macht- und Politikwechsel von 1982 hatte eine Vorgeschichte, die als Beispiel für die Kraft wertbeständiger Überzeugungen gelten kann. In den 1970er-Jahren blies der Zeitgeist, den die Chiffre „1968“ nur unzulänglich erfasst, der Union ins Gesicht. Intellektuell galt sie als nicht salonfähig. Ihr haftete das Etikett des bräsigen Kanzlerwahlvereins an – einer ideenlosen Truppe, die sich nicht um Fragen der Deutungsmacht scherte, weil es ihr angeblich nur um Regierungsposten ging. Nachdem die CDU begriffen hatte, dass der Machtverlust von 1969 kein Betriebsunfall gewesen war, machte sie sich unter ihrem Parteivorsitzenden Helmut Kohl ab 1973 auf den Weg der programmatischen Regeneration. Dieser Prozess gipfelte im Ludwigshafener Grundsatzprogramm von 1978. Bereits im Jahr 1976 hatte sich Kohl an der legendären, von der Katholischen Akademie Hamburg ausgerichteten „Grundwerte-Debatte“ beteiligt. In einer Rede zum 30. Jahrestag des Machtwechsels von 1982 ordnete Kardinal Karl Lehmann diese Debatte überzeugend in den größeren Kontext von Kohls Erneuerungsstrategie ein.

Auf langfristigen Wandel war auch die Positionierung der Union zur sozialliberalen Ost- und Deutschlandpolitik gerichtet: einerseits „Ja“ zum entspannungspolitischen Dialog mit den kommunistischen Regimes in Moskau, Warschau und Ost-Berlin – andererseits „Nein“ zur sowjetischen Vorherrschaft über Mittel- und Osteuropa, die den Kontinent mitten durch Deutschland hindurch teilte. Gegen allen Defätismus, der sich als „Realismus“ ausgab, blieb die Union ihrer Überzeugung treu, dass die Teilung Deutschlands und Europas vor der Geschichte keinen Bestand haben werde und daher mit langem Atem, mit strategischer Geduld überwunden werden könne.

 

Politische Kontrapunktik

 

Die erste große Bewährungsprobe für die Standfestigkeit der Union kam gleich nach dem Regierungswechsel. Gegen massive innenpolitische Widerstände setzte Kohl 1983 den unter seinem Vorgänger Schmidt gefassten NATO-Doppelbeschluss von 1979 durch und festigte so das erodierte Vertrauen in die Verlässlichkeit der Bundesrepublik Deutschland als Bündnispartner. Wenige Jahre später erwies sich dieses Vertrauen als ein Schlüssel zur Überwindung westlicher Vorbehalte gegen den Wiedervereinigungsprozess 1989/90. Die Warnungen vor einer „neuen Eiszeit“ in den Ost-West-Beziehungen, gar vor einem dritten Weltkrieg, lösten sich in Luft auf.

Freilich musste Kohl auch einen Preis dafür zahlen, dass er selbst härtestem Streit nicht auswich: Fast während seiner gesamten Amtszeit erzielte er hohe Zustimmungswerte bei den Unionsanhängern, während er bei den Anhängern des politischen Gegners auf starke Ablehnung stieß. Gegen erhebliche Widerstände hielt er nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 an einem Energiemix fest, der die Kernkraft einschloss. Gegen eine deutliche Umfragemehrheit setzte er in den 1990er-Jahren den Euro durch. Sein Argument, die europäische Einigung sei eine Frage von Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert, wurde als maßlose Übertreibung eines Mannes belächelt, der zu viel historische Literatur verschlang. Die Wirklichkeit hat die Spötter inzwischen eines Besseren belehrt.

„Politik schreitet kontrapunktisch voran.“ Diese erhellende musikalische Metapher verdanken wir Hans Maier. Er bezog sie auf die wegweisende Entscheidung Konrad Adenauers von 1949, nicht dem Drängen auf eine Große Koalition nachzugeben, sondern eine Kleine Koalition mit der FDP und der DP einzugehen. Das war ein Wagnis, denn es bedeutete Konflikt mit einer starken Opposition in zentralen Fragen wie Soziale Marktwirtschaft und Westbindung. Aus heutiger Sicht war es aber auch der Beginn einer äußerst erfolgreichen Tradition, die mit der Großen Koalition 1966 bis 1969 kurz unterbrochen wurde. Erst seit 2005 gilt diese Konstellation nicht mehr als unerwünschter Ausnahmefall.

Als Kartelle der beiden Hauptkonkurrenten sind Große Koalitionen demokratiepolitisch ungesund; sie tendieren nämlich dazu, die natürlichen Zyklen der wechselseitigen Ablösung von Regierung und Opposition aufzuheben. Die Droge Harmonie schwächt auf Dauer die geistig-moralische Spannkraft beider Partner. Kohl war ein entschiedener Gegner sowohl des Freund-Feind-Denkens in der Politik als auch von Großen Koalitionen. Er stand 1982 und auch später nur für ein Bündnis mit der FDP zur Verfügung.

Die vornehmste Aufgabe jeder Opposition – der Kern ihrer staatspolitischen Verantwortung – besteht darin, Alternative zur Regierung zu sein. Staatspolitische Verantwortung kann für sie auch einmal bedeuten, in Fragen von grundlegendem nationalem Interesse Regierungspolitik mitzutragen. Ende der 1970er-Jahre war das die Unterstützung der Union für den sicherheitspolitischen Kurs von Helmut Schmidt, der in der SPD keine Mehrheit fand. Heute geht es um die verteidigungspolitischen Konsequenzen der „Zeitenwende“. Die patriotische Loyalität der CDU/CSU-Opposition darf sich jedoch nicht zur Fortsetzung der Großen Koalition mit anderen Mitteln auswachsen; ein wenig sah es danach aus, als die Union ohne Not darauf verzichtete, bei der Bundespräsidentenwahl im Februar 2022 einen eigenen Kandidaten aufzustellen.

Was sind die Lehren aus 1982? Erstens: Wer Macht anstrebt, sollte zumindest eine eiserne Ration eigener Überzeugungen haben. Zweitens: Wer Macht erlangt hat, muss bereit sein, für seine Überzeugungen gegen Widerstände und Umfragemehrheiten einzustehen. Und drittens: Es gibt nie nur eine Option.

 

Michael Mertes, geboren 1953 in Bonn, Jurist, Autor und literarischer Übersetzer, Staatssekretär a. D., 1987 bis 1998 in verschiedenen Funktionen im Bundeskanzleramt tätig, unter anderem als Leiter des Redenschreiberreferats, der Planungsgruppe sowie der Planungs- und Kulturabteilung.

 

Literaturempfehlung

Mertes, Michael: Zyklen der Macht. Dynamik und Stagnation, Aufstieg und Niedergang in der Politik, Bouvier Verlag, Bonn 2021.

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