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Christen im Nahen Osten

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Über die Christen im Nahen Osten hört man gelegentlich, sie würden es vorziehen, von Diktatoren regiert zu werden. Stimmt das, und wenn ja, warum?

Abdelfattah Sisi war am 12. August 2012 vom damals neu gewählten ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi – einem Muslimbruder – zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte ernannt worden. Gleichzeitig war er stellvertretender Ministerpräsident und Verteidigungsminister. Am 3. Juli 2013 putschte das ägyptische Militär unter Sisi gegen die erste demokratisch gewählte Regierung des Landes und übernahm die Macht. Das Oberhaupt der Koptisch-orthodoxen Kirche, Tawadros II., und alle Bischöfe Ägyptens dankten dem Militär für den Sturz Mursis. Auf die Opfer des Putsches gingen sie nicht ein.

Möglicherweise als Reaktion darauf kam es zu gewalttätigen Übergriffen auf christliche Einrichtungen und Gläubige. Am 5. Juli 2013 wurde das Dorf Nagaa Hassan gebrandschatzt und geplündert, mehrere Christen ermordet. In Port Said wurde die Mar-Mina-Kirche von Bewaffneten beschossen. Man erinnerte sich an den Bombenanschlag auf die al-Qiddissin-Kirche in Alexandria am 31. Dezember 2010, der 24 Menschen das Leben kostete.

Wer aber steckt hinter den Gewalttaten? Untersuchungen ergaben, dass das Mubarak-Regime eine eigene Spezialeinheit aufgebaut hatte, die Anschläge auf christliche Einrichtungen und Gläubige vorbereitete, um sie islamistischen Gruppen anzulasten. Daran dachten die Christen in Ägypten nach dem Putsch vom 3. Juli 2013 nicht. Als Sisi im Juni 2014 zum neuen Präsidenten Ägyptens gewählt wurde, war die Freude unter den Christen in Ägypten grenzenlos. Der koptisch-orthodoxe Patriarch Tawadros II. ließ sich bei der Inthronisierung Sisis sogar mit diesem ablichten.

Die häufig gestellte Frage, ob die Nähe zu Sisi für die Christen vorteilhaft oder gefährlich ist, muss im Hinblick auf den Bevölkerungsanteil der Christen in Ägypten beantwortet werden. Koptisch-orthodoxe Kreise sehen den Anteil ihrer Glaubensgruppe bei 12 bis 15 Prozent. Das CIA-Factbook spricht von 10 Prozent Christen, davon 5 Prozent Kopten. Danach wäre von wenigstens 4,76 Millionen Kopten auszugehen – in jedem Fall eine Minderheit. Auch das politische Umfeld spielt eine Rolle. Bei den Parlamentswahlen 2011/12 errangen die Islamisten 301 von 427 Parlamentssitzen (70,5 Prozent), davon für die Muslimbruderschaft 193 und die Salafisten 108 Sitze. Säkulare Kreise und christliche Kirchen hatten einen Sieg der Muslimbruderschaft befürchtet. Der Wahlerfolg der Islamisten löste blankes Entsetzen aus. Die Präsidentschaftswahlen 2012 gewann der Kandidat der Muslimbruderschaft Mohammed Mursi mit 51,73 Prozent der Stimmen. Die Furcht vor einem Umbau Ägyptens in einen islamischen Staat mit Wiedereinführung der Dschizya („Kopfsteuer“) für Dhimmis („Schutzbefohlene“) war groß! Dazu kam es wohl nur deshalb nicht, weil die Islamisten – völlig unerfahren in Regierungsführung – das Land ins Chaos zu stürzen drohten. Im Einvernehmen mit einem großen Teil der Bevölkerung gab diese Situation dem Militär freie Hand, das Land zu „retten“.

Trügerisches Sicherheitsgefühl

Für die Christen erwies sich das Gefühl der Sicherheit als trügerisch. Einem Selbstmordattentat am 29. Dezember 2016 fielen in einer Nebenkirche der koptisch-orthodoxen Kathedrale in Kairo 29 Gläubige zum Opfer. Am 24. Februar 2017 haben 144 christliche Familien El Arish fluchtartig verlassen, denn der „Islamische Staat“ (IS) hatte am 30. Januar und 23. Februar, wie schon mehrfach zuvor, gezielt Christen ermordet. Bei Bombenanschlägen am Palmsonntag 2017 auf Kirchen in Alexandria und in Tanta gab es 46 Opfer, weitere Bombenanschläge am 25. Mai 2017 kosteten 28 koptischen Gläubigen, die in Bussen auf dem Weg zum Kloster des Heiligen Samuel des Bekenners in Maghagha waren, das Leben.

Die Mehrheit der Christen vertraut General Sisi weiterhin, denn nach solchen Anschlägen drückt er dem koptisch-orthodoxen Patriarchen persönlich sein Beileid aus. 2015 besuchte er als erster ägyptischer Präsident einen Weihnachtsgottesdienst. Das bewirkt Nähe und Sympathie. An konkreten Änderungen ist sonst nur das neue Kirchenbaugesetz zu nennen, das zumindest formal mehr Transparenz schafft und die Abläufe vereinfacht.

Der frühere, nationalistische Staatspräsident, Gamal ab del Nasser (1952 bis 1970), war einem sozialistischen Wirtschaftsmodell gefolgt, Verstaatlichungen inbegriffen. Ein großer Teil des christlichen Bürgertums kehrte dem Land damals den Rücken. Die Kirchen wurden dadurch ihrer Führungseliten beraubt. Anwar as Sadat (1970 bis 1981) und Muhammad Husni Mubarak (1981 bis 2011) haben mit den Islamisten Katz und Maus gespielt, um sie in Schach zu halten, gleichzeitig jedoch die Islamisierung des Landes zugelassen. In Artikel 2 der Verfassung von 1971 wurden die Prinzipien der islamischen Scharia als eine, 1980 als die Hauptquelle der Rechtsetzung verankert. Das Verhältnis zwischen Präsidenten und Kirchen war unterdessen ambivalent. General Sisi versucht nun, das Land unter Kontrolle zu halten. Angesichts der Herausforderungen, denen sich Ägypten gegenübersieht, hoffen die Christen, dass das gelingt.

Viele syrische Christen für das Assad-Regime

Viele syrische Christen wünschen sich ein Überleben des Assad-Regimes und eine Fortsetzung des Lebens, wie es vor 2011 gewesen ist. Das zeigt, wie weit sich die Christen mit den Verhältnissen in Syrien abgefunden hatten. Im Gegenzug für politisches Wohlverhalten gewährten die Assads ihnen Freiheiten und Spielräume, präsentierten den syrischen Staat als säkularen Staat und vermittelten den Eindruck, es gäbe keine Alternative zur herrschenden alawitischen Elite. Regime und Christen verbindet nach wie vor die Angst vor der Dominanz der Sunniten im Land.

Dem Regime kann keine Christenverfolgung angelastet werden. Es hat aber genauso wie die islamistischen Gruppen von Al Qaida bis zum IS dezidiert Christen ins Visier genommen. Unklar bleibt, ob das Regime oder islamistische Gruppen die Verantwortung für das Verschwinden des italienischen Jesuiten Paolo Dall’Oglio sowie die Entführung des syrisch-orthodoxen Bischofs Yohanna Ibrahim und des griechisch-orthodoxen Bischofs Boulos Yaziji tragen. Denn es hat zahllose gewalttätige Übergriffe sowohl des Regimes als auch der Islamisten auf christliche Einrichtungen und Gläubige gegeben: etwa im Zuge des Eroberungsfeldzugs des IS Ende Februar 2015 entlang des Flusses Khabur im Nordosten Syriens, bei dem 35 assyrische Dörfer eingenommen und 220 Familien verschleppt wurden. Rund 1.200 Familien gelang die Flucht. Oder bei der Eroberung der Stadt Qaryatain nahe Homs im Sommer 2015, die zur Verschleppung von rund 250 Christen nach Raqqa führte, darunter der syrisch-katholische Priester Jacques Mourad. Christen, die von dort zu fliehen versuchten, wurden ermordet, weil sie gegen den „Dhimmi-Vertrag“ verstoßen hätten, der die Regeln des Lebens der Christen unter dem IS festschreibt. Die überwiegende Mehrheit der Opfer geht aber auf Kriegseinwirkung zurück und ist so dem Assad-Regime anzulasten.

Es gibt Gebiete Syriens, die weitgehend vom Krieg verschont geblieben sind. Andernorts, in Aleppo oder Homs, kehren christliche Binnenflüchtlinge zurück. Viele haben das Land aber verlassen – aus Angst vor dem Krieg, vor den Islamisten oder dem Militärdienst. Von den bis zu 1,6 Millionen Christen, die vor dem Beginn des Konflikts in Syrien gelebt haben sollen, sind heute höchstens 700.000, vielleicht auch nur rund 300.000 geblieben.

Unabhängig davon, wann es eine Friedenslösung für Syrien geben wird, lässt sich heute bereits sagen, dass nichts mehr so sein wird wie vor 2011. Die Alawiten (11 Prozent) werden nicht mehr das Sagen haben. Die Sunniten (rund 75 Prozent) werden Anspruch auf die Macht erheben. Entscheidend für die Christen wird sein, ob moderate, orthodoxe oder gar islamistische Sunniten den Ton angeben werden.

„Kommt nicht zurück“

Bis zur Befreiung der Ninive-Ebene von den IS-Schergen im Herbst 2016 hatten die christlichen Flüchtlinge Hoffnung auf Rückkehr. Erste Berichte über das Ausmaß der Zerstörung führten zu Ernüchterung und Verzweiflung. Bis zu 85 Prozent der Gebäude und der Infrastruktur sind zerstört. Der syrisch-katholische Bischof Yohanna Petros Mouche meint, die ausgebrannten Gebäude seien ein deutlicher Hinweis vonseiten der Muslime: „Kommt nicht zurück!“

Mittlerweile glauben viele dennoch wieder an eine Rückkehr. Unterstützung für den Wiederaufbau wird organisiert. Man möchte hoffen, dass die Rückkehrwilligen zurückkehren und dort leben können wie vor dem Eroberungsfeldzug des IS im Sommer 2014 beziehungsweise vor der Invasion 2003. Voraussetzung dafür sind Sicherheitsgarantien. Doch wer soll sie geben? Die Ninive-Ebene gehört zu den Gebieten des Irak, die zwischen der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung strittig sind. Die Zentralregierung müsste den Schutz garantieren, tut es aber nicht. Und ob die Kurden dazu berechtigt sind, ist fraglich. Interessierte Kreise nennen die christlichen Milizen als Problemlösung. Sie sind den Herausforderungen jedoch kaum gewachsen.

Bedrohlich für die künftige christliche Präsenz sind vor allem die zahlreichen Konflikte, die sich in der Region abzeichnen und nach der Befreiung von Mossul zum Ausbruch kommen könnten. Spannungen gibt es im Umgang mit anderen religiös-ethnischen Minderheiten im Nordirak, namentlich den Schabak.

Im Konflikt zwischen Bagdad und Erbil um die sogenannten strittigen Gebiete geht es um mehrheitlich von sunnitischen Arabern oder sunnitischen Kurden besiedelte Gebiete, aber auch wirtschaftliche Interessen spielen eine Rolle, zum Beispiel Ölvorkommen. Mit davon betroffen ist die teilweise von Christen besiedelte Ninive-Ebene. Konfliktpotenzial hat auch der Wunsch der Kurden nach Unabhängigkeit. Und schließlich geht es um die Interessen des Iran und der Türkei. Der Iran verfolgt die Absicht, eine Landbrücke zwischen dem Iran und seinen Einflussgebieten in Syrien zu etablieren, was die Türkei zu verhindern versucht. Außerdem verfolgt sie das Ziel, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) aus dem Nordirak zu vertreiben, und behauptet, einen historischen Anspruch auf eine (Mit-)Kontrolle der Region Mossul zu haben.

Die Christen sind an diesen Konflikten zwar nicht beteiligt, wären aber auf jeden Fall betroffen. Dazu kommt, dass sie – anders als vor 2003 – für die Herrschenden im Irak keine wichtige innenpolitische Rolle mehr spielen.

Unbedeutend im Machtkalkül

Mag sein, dass es Christen im Nahen Osten vorziehen, von Diktatoren regiert zu werden. Wie die Geschichte zeigt, konnten sie aber nur dann geschützt unter ihnen leben, wenn diese auf sie angewiesen waren. Nasser, as-Sadat und Mubarak waren Diktatoren. Ihr Verhältnis zu den Christen war aber ambivalent, denn diese spielten keine Rolle in ihrem Machtkalkül. Unter Abdelfattah Sisi hat sich das geändert. Er braucht Unterstützer im Kampf gegen die Islamisten. Die Christen haben sich gerne angeboten und erwarten dafür Schutz und Sicherheit. Wie lange werden sie noch glauben, dass Sisi ihnen dies bieten kann? Der Pakt mit dem General könnte für die Christen auch ein böses Ende nehmen.

In Syrien haben die Assads – Hafez und Bashar al-Assad –, die der Minderheit der Alawiten (11 Prozent) angehören, ihre Macht auf die Unterstützung anderer Minderheiten, beispielsweise der Christen (10 Prozent), gestützt – vorteilhaft für beide Seiten. Soll es Frieden in Syrien geben, ist eine solche Konstellation aber kein Modell mehr.

Der frühere Machthaber im Irak, der Diktator Saddam Hussein – ein Sunnit – konnte seine Macht nicht alleine auf die arabischen Sunniten (17 Prozent) stützen und hat die Christen (8,5 bis 10 Prozent) zur Absicherung seines Machterhalts eingebunden. Von Vorteil für beide Seiten! Nun haben die Schiiten (58 bis 63 Prozent) das Sagen, die Christen aber werden aus machtpolitischen Erwägungen nicht mehr gebraucht.

Ist es für Christen von Vorteil, von Diktatoren regiert zu werden? Das hängt von den Umständen ab! Sieht man von Ägypten ab, werden sie in Zukunft ohne die Diktatoren überleben müssen.

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Otmar Oehring, geboren 1955 in Saulgau, Koordinator Internationaler Religionsdialog, Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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