Entscheidet TikTok Wahlen in Deutschland? Hiesige Empiriker verneinen die Frage bisweilen – meist mit Hinweis auf den geringen Anteil von Erst- und Jungwählern an der Gesamtwählerschaft. Dennoch wächst die Besorgnis über den Einfluss der großen Plattformen auf die junge Generation. Schließlich hat sie bei der Bundestagswahl 2025 überwiegend Parteien an den politischen Rändern gewählt. Am 23. Februar 2025 stimmten 25 Prozent der 18- bis 24-Jährigen für die Partei Die Linke, 21 Prozent der Stimmanteile in dieser Altersgruppe entfielen auf die AfD, die damit auf dem zweiten Rang landete, und sechs Prozent votierten für das erst 2024 gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW).
Lost in Reels und Rage?
Der Wettlauf der Parteien um SocialMedia-Präsenz
Abgesehen davon, dass das Wahlverhalten der jüngsten und jungen Wählerinnen und Wähler die Perspektive auf eine positive Entwicklung der Demokratie eintrübt, ist der politische Einfluss der Angehörigen der Generation Z, nämlich der 18- bis 24-jährigen Wähler, nicht zu unterschätzen. Rund 4,1 Millionen der insgesamt 60,5 Millionen Wahlberechtigten gehören ihr an; dies entspricht etwa sieben Prozent. Wenn diese sieben Prozent nicht überwiegend Parteien der Ränder gewählt hätten, wäre die Zwei-Drittel-Mehrheit der Mitte-Parteien im Bundestag möglicherweise nicht verloren gegangen. Bei der Bundestagswahl 2021 erzielten die Grünen bei den Jungwählerinnen und Jungwählern mit 23 Prozent das stärkste Ergebnis (2025: 10 Prozent), die FDP erreichte 21 Prozent (2025 5 Prozent).
Die Diskussionen um den Einfluss der sozialen Medien auf Wahlen sind nicht neu. Bereits 2016 bezeichnete Der Spiegel Facebook als „Meinungs- und potenzielle Manipulationsmaschine“. Jahre später ist TikTok ins Zentrum der Debatte gerückt, obwohl es mit geschätzten 1,6 Milliarden Nutzern weltweit – nach Facebook (drei Milliarden Nutzer) und Instagram (zwei Milliarden Nutzer) – „nur“ das drittgrößte soziale Netzwerk ist. Allerdings sind vor allem junge Menschen intensiv auf Internetplattformen unterwegs: In Deutschland nutzen 99,5 Prozent der 18- bis 25-Jährigen soziale Medien, 91,5 Prozent sogar täglich. TikTok zählt hierzulande monatlich etwa 22 bis 25 Millionen aktive Nutzer. Zwar liegt die Plattform damit national ebenfalls nur auf Rang drei, doch ist die Nutzungsintensität besonders hoch: TikTok-User in Deutschland verbringen durchschnittlich 35 Stunden im Monat auf der Plattform und öffnen sie auf Android-Geräten etwa zehnmal täglich. Lediglich WhatsApp wird achtzehnmal und damit häufiger geöffnet.
TikTok steht exemplarisch für die Kommunikationsbedürfnisse der Generation Z: Die Plattform unterhält, sie vertreibt Langeweile, sie informiert. Was politische Inhalte betrifft, die es in den sozialen Medien eher schwer haben, hat sich die Wahrnehmung etabliert, dass vor allem Parteien der politischen Ränder erfolgreich auf TikTok agierten und ihre fragwürdigen Botschaften dort treffsicher unter junge Menschen brächten. Als Reaktion auf die Kritik wurden im EU-Wahlkampf 2024 auffällige Accounts wie der des AfD-Politikers Maximilian Krah von TikTok eingeschränkt oder gelöscht.
Startvorteil für die Ränder
Ein Blick auf die Parteien-Accounts belegt dennoch eine entsprechende „Rangliste“: Die AfD (@afdfraktionimbundestag) besitzt 630.000 und 11,6 Millionen Likes, Die Linke (@die.linke) nahezu 410.000 Follower und 9,9 Millionen Likes. Die CDU (@insideCDU) schneidet mit rund 88.000 Followern und zwei Millionen Likes weit schwächer ab. Der Fraktionsaccount @cducsu verfügt über rund 30.000 Follower und 400.000 Likes. Die SPD (@deineSPD) erreicht ebenfalls 88.000 Follower und 2,3 Millionen Likes, ergänzt durch den Fraktionsaccount (@spdbt) mit 170.000 Followern und 3,2 Millionen Likes. Die Grünen (@diegruenen) kommen auf 80.000 Follower, ihr Fraktionsaccount (@gruenebundestag) verzeichnet rund 30.000 Follower (Stand: 26. August 2025).
Die Zahlen zeigen: Die Parteien der Mitte betreiben zwar eigene Kanäle und liegen in Relation zueinander etwa gleichauf, bleiben jedoch bei den klassischen TikTok-Kennzahlen, Followern und Likes deutlich hinter den Parteien der politischen Ränder zurück. Dass diese Kennzahlen umgerechnet in Prozent mit den Wahlentscheidungen der 18- bis 24-Jährigen bei der letzten Bundestagswahl korrelieren, ist wohl mehr als nur Zufall: Die Linke 25 Prozent, AfD 21 Prozent, CDU 13 Prozent, SPD 12 Prozent, Grüne 10 Prozent.
Dass die Parteien der politischen Ränder mehr Menschen auf TikTok ansprechen, liegt nur zum Teil an ihren zugespitzten Inhalten. Ihre Posts zielen darüber hinaus immer auf Interaktion – und Interaktion wird vom Algorithmus belohnt. Frühzeitig haben diese Parteien auf TikTok gesetzt und professionelle Infrastrukturen aufgebaut. Die AfD-Vorsitzende Alice Weidel ist dort seit August 2021 präsent. Ihre Fraktion veröffentlichte am 27. Januar 2022 den ersten Bundestags-Post.
Die CDU startete mit Einzelinitiativen wie der von Uwe Dorendorf in Niedersachsen auf TikTok, dessen Account seit März 2021 aktiv ist. Der erste Post von @CDUDeutschland datiert vom 26. Februar 2024. Die SPD startete ihre TikTok-Aktivitäten wenige Wochen zuvor im Januar 2024. Im Bundestagswahlkampf 2025 bespielten nahezu alle Parteien TikTok.
Olaf Scholz landete unter @TeamBundeskanzler ab April 2024 virale Hits. Seine Aktentasche wurde allerdings weniger zum Träger politischer Inhalte als zum reichweitenstarken Running Gag. Auch andere Accounts erzielten hohe Reichweiten, darunter @teammerz2025 mit über 22.000 Followern. Gepostet wurden professionell produzierte Inhalte, die eine erhebliche Unterstützung im Wahlkampf leisteten; der Account ist allerdings seit dem 23. Februar 2025 verwaist.
Die Resonanz auf die Social-Media-Kampagnen fiel unterschiedlich aus. Die AfD nutzte ihren zeitlichen Vorsprung – unter Beteiligung von Politikerinnen und Politikern auf allen politischen Ebenen und mit Unterstützung von Micro-Influencern, die gezielt parteinahe Inhalte verbreiteten. Dabei handelte es sich oft um kleinere Accounts mit wenigen Tausend bis Zehntausend Followern, die in spezifischen Online-Communities besonders glaubwürdig wirken und so als digitale Multiplikatoren fungieren. Sich selbst verstärkende Echokammern waren bereits vorhanden und erhöhten die Wirkung zusätzlich. Eine aktive und bereits „trainierte“ Community verschaffte der Partei mit Kommentaren, Likes und geteilten Inhalten erhebliche Reichweiten. Einfache Parolen wie „Sei schlau, wähl blau“ kursierten selbst auf Schulhöfen, was einer Verbreitung über das lineare Fernsehen oder Radio nicht gelungen wäre.
Digitale vorpolitische Räume
Dasselbe gilt für Heidi Reichinneks Aufruf „Auf die Barrikaden“, der eine mobilisierende Wirkung für den Wahlkampfendspurt ihrer Partei entfaltete. Mit 620.000 Followern wurde Reichinnek zu einem TikTok-„Schwergewicht“. Zum Vergleich: @Larsklingbeil hat 29.600, @roberthabeck hat 107.000, @markus.soeder hat 283.000 und @merzcdu hat 185.000 Follower. Übertroffen wird Reichinnek von @alice_weidel_afd mit 977.000 Followern (Stand: 26. August 2025).
Politiker der politischen Ränder sind damit auf Social Media zwar bisher deutlich erfolgreicher unterwegs als jene der Mitte; so hat etwa der AfD-Landespolitiker Ulrich Siegmund (@mutzurwahrheit90) über 563.000 Follower. Doch besteht kein Grund zu Defätismus, der vor allem in der Fähigkeit zur Zuspitzung einen nicht aufzuholenden Vorteil für die politischen Ränder ausmacht. Allgemein rangieren selbst die TikTok-„Schwergewichte“ aus der Politik bisher weit hinter anderen Accounts. So spielen die größten deutschen Accounts aus Sport, Unterhaltung oder Lifestyle in einer völlig anderen Liga: Dass der Fußballstar Toni Kroos es auf 12,2 Millionen Follower bringt, wird niemanden überraschen, aber dass einem Volleyballer, Tobias Krick, 5,6 Millionen und einer Leichtathletin, Alica Schmidt, 2,2 Millionen Menschen folgen, zeigt, dass Popularität einerseits und eine professionelle Präsentation andererseits erfolgreiche Accounts ausmachen. Insofern kommt es für die Parteien der Mitte nicht nur darauf an, ihr digitales Engagement zu steigern; es geht vor allem um die Tonalität, Ästhetik und das Formatverständnis ihrer digitalen Angebote.
Die Parteien der Ränder nutzen die Möglichkeiten der Plattform, um eine Gegenöffentlichkeit zu den etablierten Medienangeboten zu erzeugen. Außerdem bilden die Internetplattformen den digitalen Zugang zu einem neuartigen vorpolitischen Raum. Dabei erreichen parteipolitisch relevante Inhalte hohe Reichweiten, ohne dass sie über offizielle Parteikanäle ausgespielt werden. In diesem Zusammenhang werden Drittaccounts – „politische Vorfelder“ – immer wichtiger für die digitale Meinungsbildung. Oftmals stehen sie scheinbar in keiner Beziehung zu den Parteien und wirken vordergründig unpolitisch, transportieren aber parteinahe Inhalte. Dies gilt für TikTok-Formate wie „TradWives“ oder Fitness-Influencer und tätowierte Models, die in ihren Clips zu eingängiger Musik einfache politische Slogans posten. Diese Inhalte verfangen im Algorithmus, erzeugen hohe Reichweiten und schaffen den Konnex zu Nutzern weit über das eigene politische Milieu hinaus. Ebenso tauchen sie in Alltagsfeeds auf, werden unter anderem auf Schulhöfen geteilt und wirken – wie etwa die berüchtigten „Sylt-Videos“ mit ihren ausländerfeindlichen Refrains – offensichtlich auch in eine bürgerliche Klientel hinein.
Unionskritisches Klima auf Instagram
SPD und Grüne profitieren auf Instagram – der Plattform der „etwas Älteren“ – deutlich stärker als die CDU von prominenter Unterstützung mit Reichweite. So teilt das langjährige SPD-Mitglied Marie von den Benken (@regendelfin, 221.000 Follower) neben Bildern aus der Modewelt oder Neuigkeiten über Prominente regelmäßig auch politische Inhalte mit ihrer Community. Gianna Bacio (@giannabacio, 134.000 Follower), Sexualpädagogin und Podcasterin, trat im Wahlkampf öffentlichkeitswirksam den Grünen bei und rief ihre Follower zu mehr „gutem“ politischen Engagement auf.
Auf Instagram herrscht ein unionskritisches Klima – und zwar sowohl von linker als auch von rechter Seite. Ein gut funktionierendes christlich-demokratisches Vorfeld oder Drittaccounts mit Reichweite sind dort bislang nicht vorhanden oder erreichen kaum hohe Followerzahlen und Interaktionen. Die dort vorwiegend ablehnende Haltung gegenüber CDU-Positionen erschwert es der Partei, in diesem digitalen Raum Resonanz zu erzeugen. Ein extremes Beispiel war der Account @frauen.gegen.merz mit 116.000 Followern, dem @Frauenfürmerz mit 1.910 Followern gegenüberstand. Der einzige gut funktionierende CDU-nahe Drittaccount auf Instagram ist @merzrevolution mit 96.000 Followern.
Akteure von Rechts- und Linksaußen nutzen TikTok längst nicht nur als Bühne für provokante Memes, Parodieformate und zugespitzte Kurzinhalte, sondern auch als Plattform zur einseitigen Informationsverbreitung. Angebote der Parteien der Mitte und ihr Umfeld sollten stärker auf ihre „kulturelle Passung“ achten, denn TikTok belohnt „Authentizität“, Tempo und populistische Brechung. Instagram dagegen folgt aktuell einer anderen Ästhetik: Lifestyle, visuelle Hochglanzinszenierung und ein moralischer Subtext, der sich vorteilhaft mit progressiven Narrativen verbindet. Das Publikum auf Instagram ist älter, urbaner und oft akademisch geprägt – politisch meist tendenziell links der Mitte.
Mit intelligenten Inhalten „fluten“
Die Lebenswelt junger Menschen ist heute vom Smartphone geprägt. Information, Unterhaltung, Sozialkontakte – alles läuft über das Handy, jederzeit und überall. Und immer mit dabei ist auch TikTok. Die Plattform setzt Themen und Trends, die klassische Medien nur noch im Nachgang aufgreifen. Der Einfluss dieser oder künftiger Plattformen steigt kontinuierlich, sodass spürbare Auswirkungen auf Wahlen unterstellt werden können. Wer nicht den medialen Zugang zu den jüngeren Generationen verlieren will, muss sich diesen veränderten Bedingungen stellen.
Entscheidend ist das Verständnis dafür, wie Plattformen optimal bespielt werden und die eigene Followerschaft mobilisiert wird. Die Follower von Parteien der politischen Ränder sind bereits geübt darin, im richtigen Augenblick empört zu kommentieren oder einen Inhalt begeistert zu teilen. Über eine ähnlich „einsatzbereite“ Followerschaft verfügen die Parteien in der Mitte noch nicht.
TikTok funktioniert über Emotionalisierungen und Zuspitzungen. Dass sich Parteien der Mitte schwerer damit tun, spricht zunächst einmal für sie. Umso mehr sind sie gefordert, dieses Hemmnis kreativ zu überwinden. Auch wenn das Verständnis für plattformspezifische Kommunikation inzwischen gewachsen ist, bleibt die Aufgabe, die Sprache eines „Gegenmediums“ noch genauer zu treffen.
Die Bedeutung des 9:16-Hochkantformats, das dem Handy entspricht, wird inzwischen anerkannt. Auch sind Online-Redaktionen geschaffen oder vergrößert worden. Doch reichen professionell geführte Politik- und Politiker-Accounts nicht aus, um auf TikTok die gewünschte Wirkung zu entfalten. Es geht regelrecht darum, die Plattform mit den eigenen intelligenten Inhalten zu „fluten“. Ein neues und eigenes politisches Vorfeld im Netz benötigt Drittaccounts, eine kontinuierlich eingebundene digitale Anhängerschaft, verstärkende Influencer und Kampagnen.
Allerdings bedeutet auch TikTok nicht das Ende politischer Kommunikation. Wer sich heute allein auf TikTok einlässt und die „nächste Plattform“ nicht bereits im Blick hat, wird ins Hintertreffen geraten. Ebenso wenig sind die „alten“ Plattformen wie Instagram, YouTube oder sogar Facebook zu vernachlässigen – sie müssen mit passenden und authentischen Inhalten bespielt werden, um die gesamte Bandbreite von Zielgruppen zu erreichen.
Und nicht zuletzt: Mit dem Aufkommen von KI-generierten Inhalten wird es noch schwerer, zwischen Authentizität, Manipulation und gezielter Desinformation zu unterscheiden. Umso wichtiger ist es, dass die Parteien in der Mitte des politischen Spektrums frühzeitig, glaubwürdig und kreativ in alten und in neuen digitalen Räumen präsent sind, bevor andere politische Kräfte sie besetzen. Dieser Wettlauf hat längst begonnen, und er wird von Mal zu Mal entscheidender für den Ausgang von Wahlen.
Konstantin Otto, geboren 1983 in Bonn, Geschäftsführer und Blogredakteur der Zeitschrift „Die Politische Meinung“.