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von Joachim Kügler

Impulse biblischer Tradition für innovative Menschenbilder

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Unter den alljährlich genutzten Weihnachtstexten steht das Johannesevangelium ein wenig im Schatten, obwohl sein bedeutungsschwangerer Beginn („Am Anfang war das Wort“) mindestens seit Goethes Faust auch für Kirchenferne zum Bildungskanon gehört. Und in diesem berühmten Prolog fällt etwas später auch die einigermaßen bekannte Aussage, die hier im Zentrum stehen soll: „Und das Wort ist Fleisch geworden“ (Joh 1,14).

Johann Wolfgang von Goethe hätte seinem Faust das Herumdoktern mit der Übersetzung – samt Kritik an der Überschätzung des Wortes und endlicher Fehlübersetzung – ersparen können, wenn er damals schon etwas mehr über den Bedeutungsreichtum des griechischen Worts logos gewusst hätte, das – lateinischer (verbum) und lutherischer Übersetzung zum Trotz – eben nur unzulänglich mit „Wort“ übersetzt werden kann. Auch wenn der Logos, der im Anfang war (Vers 1) und der dann Fleisch wird (Vers 14), an das göttliche Schöpfungswort der Hebräischen Bibel („und Gott sprach …“) anschließt, beerbt er doch gleichzeitig die biblisch-jüdische Tradition der göttlichen Weisheit, die Person ist und auch Geist, Gottes Gefährtin ebenso wie Gottes Eigenschaft.

Damit noch nicht genug, steht der Logos des Prologs auch im Gespräch mit der griechisch-römischen Philosophie in ihrer jüdischen Rezeption. Diese Denktradition ist so sehr von der immateriellen Jenseitigkeit Gottes überzeugt, dass ein Kontakt dieses höchsten Seins mit den Niederungen der Welt nicht mehr denkbar ist – weder im Erschaffen noch im Erhalten oder Regieren der Welt. Plato und viele andere kommen daher auf ein Mittelwesen, das zwischen Gott und Welt steht. Dieses Medium Gottes bei der Schöpfung und kontinuierlichen Leitung des Kosmos muss einerseits gottgleich sein, sonst könnte es Gott nicht vergegenwärtigen. Andererseits muss es auch von Gott verschieden sein, sonst würde ja das Problem nicht gelöst, dass Gott nicht selbst mit dem Irdischen in Kontakt tritt. In hellenistisch-römischer Zeit heißt dieses Medium oft logos, was neben „Wort“ auch „Plan“, „Vernunft“, „Idee“ und vieles mehr bedeuten kann.

 

Unter Menschen zelten

 

Um das Problem von Wesensgleichheit und Personenverschiedenheit zu lösen, griffen Denker wie der jüdische Religionsphilosoph Philon von Alexandrien – in etwa ein Zeitgenosse von Jesus und Paulus – auf Denkmuster ihrer Zeit, vor allem das Vater-Sohn-Verhältnis, zurück. Der Sohn galt als Abbild/ Wiederholung des Vaters. Er war eine andere Person als der Vater, glich diesem aber in Wesen und Status. Dieses Sohn-Vater-Konzept ist ein idealer Bildspender für den Logos als Mittelwesen. Der Sohn des Architekten ist kein Produkt des Vaters wie etwa ein Haus, sondern eine Kopie des Vaters und deshalb (im Unterschied zum Haus) auch selbst in der Lage, Häuser zu bauen. Wie jeder ideale Sohn damals vergegenwärtigt auch der Logos den Vater und handelt vollkommen in dessen Sinn und Auftrag. So ist der Logos den Menschen gegenüber wie Gott selbst. Gott gegenüber ist er aber immer untergeordnet, eben Kopie und nicht Original, Sohn nicht Vater. Philon versucht, diese göttliche Zweiheit mit dem monotheistischen Dogma jüdischer Tradition durch penible Sprachregelungen zu versöhnen: Der Logos bleibt stets als „ein“ Gott „dem“ (einzigen) Gott untergeordnet. Als „zweiter“ Gott steht der Logos unter dem Einen, nicht als „anderer“ Gott konkurrierend neben dem Einen.

Anders als Philon spricht das Johannesevangelium davon, dass der Logos „Fleisch“ wird. Der Alexandriner kennt zwar durchaus die Vorstellung, dass der Logos nicht nur geistig auf die Welt einwirkt, sondern auch durch konkrete Personen (etwa Moses). Aber diese Gegenwart des Logos in bestimmten „Freunden Gottes“ denkt er sich eher als eine Art „Einwohnung“, die den betreffenden Menschen zum geistigen „Wohnsitz“ und Werkzeug des Logos macht. Von einer Fleischwerdung des Logos kann Philon schon deshalb nicht sprechen, weil der Begriff „Fleisch“ für ihn so sehr das Negative, Materielle, Vergängliche der Schöpfung bezeichnet, dass es unmöglich mit dem Gottesmedium in Verbindung zu bringen ist. Der Geist des Menschen ist die Schnittstelle zum Göttlichen, aber ganz sicher nicht sein Fleisch. Gerade das Fleisch als Inbegriff des Materiellen ist aber im Johannesprolog der Ort, den sich der göttliche Logos sucht, um unter den Menschen zu wohnen (wörtlich: „zu zelten“).

 

Zwischen Gleichheit und Differenz oszillieren

 

Der recht abgenutzte, aber nicht unbedingt falsche Spruch „Mach’s wie Gott, werde Mensch!“ lädt zu einer Imitation Gottes ein, wenn es um das richtige Menschsein in Theorie und Praxis geht. Er stößt aber in modernen Diskursen sicher auf Skepsis – allein schon, weil für viele Menschen heute „Gott“ keine Wirklichkeit ist, der man eine Wirkung zuschreiben könnte, schon gar nicht die eines zukunftsträchtigen Lernens. Vielleicht ist es hilfreich, darauf hinzuweisen, dass Religion auch dann eine kulturelle Wirklichkeit ist, wenn man nicht an den Gott glaubt, von dem da geredet wird. Dieses politisch relevante Faktum muss man – nolens volens – einfach zur Kenntnis nehmen. Darüber hinaus könnten „die Gebildeten unter ihren Verächtern“ (Friedrich Schleiermacher) die religiösen Traditionen auch daraufhin befragen, ob darin, wie diese über Gott reden, nicht kulturelle Denkmuster zu entdecken wären, die für heutige Debatten innovativ und horizonteröffnend sein könnten.

Bei vielen biblischen Texten scheint mir das tatsächlich der Fall zu sein, und am Beispiel des Johannesprologs soll es hier auch wenigstens schlaglichtartig gezeigt werden.

Menschliche Identitätsdebatten und das göttliche Oszillieren. Dürfen Verse einer jungen „schwarzen“1 Poetin von einem alten „weißen“ Mann übersetzt werden? Kann eine Cis-Frau im Film die Rolle einer Trans-Frau spielen? Darf ein „weißer“ Mann sich „schwarz“ schminken, um Othello zu spielen? Sind Menschen „mit Migrationshintergrund“ wirklich Deutsche, wenn sie einen deutschen Pass haben? Was unterscheidet „Deutschtürken“ und „Russlanddeutsche“? Warum wird Barack Obama durch seinen kenianischen Vater zum „Schwarzen“, aber nicht durch seine „weiße“ Mutter zum „Weißen“? Wenn es People of Color (wie Meghan Markle) gibt, gibt es dann auch Menschen ohne Hautfarbe (etwa Meghans Ehemann, Prinz Harry)? Was bedeutet es für die Frauenförderung und das Streben nach Geschlechtergerechtigkeit, wenn ein Mensch sein öffentliches Geschlecht durch eine schiere Willenserklärung ändern kann?

Die Konflikte und Widersprüche unserer Identitätsdebatten sind verworren, bisweilen kontraproduktiv hinsichtlich ihrer hehren Ziele und oft unfreiwillig komisch. Das ist nichts Neues. Die kulturelle Konstruktion von kollektiven und individuellen Identitäten war immer schon mühsam und selten widerspruchsfrei – gerade dort nicht, wo kulturell Gemachtes zur ungemachten Natur erklärt wurde. Da könnte ein genauerer Blick auf den Johannesprolog eine wohltuende Entkrampfung anregen. Da wird nämlich ein männlicher Logos vorgestellt, der die weibliche Rolle der Weisheit übernimmt. Er ist (ein) Gott, aber nicht der eine Gott. Er wird Mensch in einem Mann und bricht in dessen Schicksal dann traditionelle Männlichkeitsmuster auf. Das fröhliche Spiel mit Identitäten, mit Gleichheit und Verschiedenheit, mit Rollen und Funktionen, das der Text hier aufführt, lässt sich kaum zu einem sauber analysierbaren Standbild verstetigen. Es ist ein dynamisches Beziehungsereignis, bei dem es vor allem um die Vergegenwärtigung des Abwesenden geht. Die Einzigkeit Gottes soll gewahrt und durch eine Kopie vermittelt werden. Die unweltliche Göttlichkeit soll in die ungöttliche Welt eingehen, ohne sich zu verlieren.

Wer sich mit diesem gewagten Oszillieren vertraut macht, wird sich von hybriden Migrationsidentitäten kaum mehr irritieren lassen. So wenig wir Menschen ohne sexuelle, kulturelle, ethnische, religiöse und ökonomische Identitäten auskommen, so gelassen sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass sie allesamt Produkte menschlichen Bastelns sind, beständig nur in ihrem Werden und Vergehen, und dass wir ihre Bedeutung auch nicht überschätzen sollten. Wenn wir als Gesellschaft und als Einzelne das beständige Oszillieren zwischen Gleichheit und Differenz nicht mehr als Mangel verachten, sondern lernen, es als unvermeidliche, „letzte“ Wahrheit zu schätzen, dann können wir vielleicht eher dorthin kommen, wo freies Menschsein sich innerhalb und jenseits von überlieferten und gebastelten Identitäten auftut.

 

Es geht um das nackte Leben

 

Gott, Mensch und „das Fleisch“. Von der Menschwerdung Gottes zu sprechen, ist nicht falsch, aber im Hinblick auf den Johannesprolog auch etwas unscharf, denn, wie bereits erwähnt, wird dort betont, dass der Logos „Fleisch“ wird. Dieser Begriff ist nicht nur in der hellenistisch-jüdischen Philosophie etwas Negatives, sondern auch im Johannesevangelium. So heißt es in Kapitel 6: „Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch nützt nichts“ (Joh 6,63). Es gibt aber eben gewichtige Ausnahmen innerhalb des vierten Evangeliums. Neben der Prologstelle über die Inkarnation („Einfleischung“) des Logos sind noch einige Verse in Kapitel 6 zu nennen, in denen (anders als in Vers 63!) gesagt wird, dass das „Fleisch des Menschensohnes“ lebensnotwendig ist. Das volle Leben gibt es nur für die, die bereit sind, dieses „Fleisch“ zu „essen“.2 Es geht also offensichtlich bei der Menschwerdung Gottes ganz gezielt um das Annehmen menschlicher, sterblicher Körperlichkeit.

In einer Zeit, in der viele die „fleischliche“ Welt als „analoge“ Welt gegenüber der „virtuellen Realität“ als minderwertig oder allenfalls noch gleichwertig ansehen, könnte ein politischer Impuls christlicher Anthropologie darin bestehen, die Relevanz menschlicher Körperlichkeit wieder ernster zu nehmen. Die großen Herausforderungen der nächsten Zukunft – Pandemien, Hunger, Gewalt und Naturkatastrophen – richten nämlich dort, in leiblicher Realität, ihre Verwüstungen an. In vielen Regionen geht es wieder um das nackte Leben, in anderen war es ohnehin selten anders.

Das „Fleisch“ ist jedoch nicht nur die Basis für menschliches Leben, sondern verbindet uns zugleich mit den anderen Kreaturen. In der Hebräischen Bibel jedenfalls kann der Ausdruck „alles Fleisch“ nicht nur die Menschheit, sondern auch die Tiere und die Gesamtheit aller Lebewesen umfassen. So könnte man heute die Betonung der Fleischwerdung Gottes als Impuls für eine Politik der gattungsübergreifenden Geschöpflichkeit verstehen. Auch wenn Umweltpolitik immer primär darauf ausgerichtet sein wird, den Menschen ihre Überlebensmöglichkeiten zu sichern, so ist doch inzwischen klar, dass das nur dann nachhaltig gelingen kann, wenn die Menschheit sich wieder neu begreift als Teil eines Lebenssystems, in dem das menschliche „Fleisch“ nicht existieren kann ohne alles „Fleisch“. Die Menschen sind nicht gegen, sondern nur mit den anderen Lebewesen zu retten. Das ist dann wohl der innovativste politische Impuls, den der Johannesprolog für ein konservativ-christliches Menschenbild liefern kann.

 

Joachim Kügler, geboren 1958 in Weismain, Inhaber des Lehrstuhls für Neutestamentliche Wissenschaften, Otto-Friedrich-­Universität Bamberg.

 

1 Die Anführungszeichen sollen andeuten, dass es sich um kulturelle Kategorien der Hautfarbe handelt, die ich problematisch finde, weil sie (nicht nur) in den USA einen rassistischen Hintergrund haben.

2 Die rezente Forschung ist zerstritten darüber, ob sich die Aufforderung, das „Fleisch des Menschensohnes“ zu „essen“ (Joh 6,51–56), auf den Ritus des Abendmahls bezieht oder auf den Glauben an das „fleischliche“ Sterben Christi aus Liebe zu den Menschen. Gegen beide Alternativen gibt es gute Argumente, eine dritte ist nicht in Sicht.

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