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Menschenbild, Freiheit und Gleichheit

von Steffen Augsberg

Anmerkungen zur Widersprüchlichkeit der gesellschaftspolitischen Diskussion

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Die uralte Frage, was „den Menschen“ ausmacht, stellt sich aktuell neu. Herausfordernd wirken etwa Erkenntnisse der Verhaltens- und Kognitionswissenschaften, die unser Verständnis von Tieren so stark verändern, dass das Alleinstellungsmerkmal des Menschen nicht mehr selbstverständlich erscheint. Zugespitzt erkennen lässt sich dies in den sogenannten Human-Animal Studies (HAS), die zumindest teilweise explizit als konsequente Fortschreibung menschenbezogener Antidiskriminierungsforschung (vor allem im Rahmen der sogenannten women beziehungsweise gender studies sowie minority and ethnic studies) verstanden werden.

Mindestens ebenso bedeutsam sind menscheninduzierte Veränderungen, die nicht das Mitgeschöpf, sondern die Kreatur des Menschen betreffen. Gemeint sind die in der Entwicklung befindlichen avancierteren Formen Künstlicher Intelligenz und Mensch-Maschinen-Hybride. „Der Mensch im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ ist ein neuartiges Phänomen. Auch wenn man das Ideal einer im engeren Sinne menschenanalogen Künstlichen Intelligenz für überholt erachtet, ist doch offensichtlich, dass Menschen als Vorbild dienen, menschenähnliche Charakteristika bestehen (können) und mithin durch die Emergenz dieser neuen Entitäten das genuine Proprium des Menschen neu analysiert, diskutiert und bestimmt werden muss. Hierbei handelt es sich erkennbar um eine gesellschaftspolitische, aber auch um eine rechtliche Aufgabe, unter anderem mit Blick auf den in spezifischer Weise mit sozialer Dynamik verwobenen Gleichheitsdiskurs. Das damit bereits angesprochene Menschenbild des (Verfassungs-)Rechts steht im Mittelpunkt der nachfolgenden knappen Überlegungen; sie fokussieren widersprüchliche Entwicklungen in aktuellen Debatten und versuchen, mögliche Konsequenzen aufzuzeigen.

Nicht nur im deutschen Recht, sondern kulturübergreifend wird der Mensch als das sich entwickelnde, auf den anderen angewiesene Gemeinschaftswesen verstanden. Das gilt nicht etwa trotz, sondern gerade wegen bestehender Unterschiede. Mit dem französischen Philosophen Paul Ricœur kann man dies auf die Kurzformel bringen: „Alterity is at its peak in mutuality.“ („Die Verschiedenheit erreicht ihren Höhepunkt in der Gegenseitigkeit.“)

Diese letztlich anthropologisch unhintergehbare, normativ gestützte Gemeinschaftsbezogenheit steht von Anfang an in einem gewissen Kontrast zur Bedeutung, die gerade der individuellen Person zugewiesen wird. Es handelt sich nicht nur um das Spannungsverhältnis von individueller und kollektiver Selbstbestimmung, das auf die Schlagworte Rechtsstaat und/versus Demokratie reduziert werden kann, sondern um eine tiefer liegende, schon die Grundrechtsdimension als solche erfassende Problematik von Relationalität und Interdependenz.

Gegenwärtig sind insoweit gegenläufige Bewegungen zu erkennen: Einerseits wird in verschiedenen Konstellationen ein – terminologisch wie theoretisch teils unterentwickeltes, in seinen praktischen Folgen unklares – sehr weitreichendes Autonomiekonzept propagiert. Andererseits ist gerade mit Blick auf die Infektionsschutzmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie ein neuer Kollektivismus zu erkennen, der bisweilen paternalistische und exkludierende Züge trägt und damit in Konflikt nicht nur zu radikaleren Autonomievorstellungen, sondern auch zu basaleren Freiheits- und Gleichheitsvorgaben tritt.

Eingangs ist zunächst ein gewisser begrifflicher Wildwuchs festzustellen: Eine saubere Differenzierung zwischen den an sich keineswegs synonymen Maßgaben der Selbstbestimmung, Autonomie, Handlungsurheberschaft et cetera erfolgt in den kurrenten Debatten meist nicht. Sie kann auch hier nicht geleistet werden. Dass indes der Mensch in nahezu allen Phasen seines Lebens „Autor seiner selbst“ sein soll, externe (Fremd­)Determinierung also als Zumutung empfunden wird, lässt sich an Beispielen illustrieren. Radikales Endprodukt eines solchen, Einsichten der Postmoderne persiflierenden Denkens ist vielleicht der ehemalige US-amerikanische Präsident Donald Trump, der bekanntlich wenig Achtung vor „Fakten“ hatte und erst recht dem „Geschwätz von gestern“ wenig Bedeutung zumaß. Das Individuum entscheidet in dieser Konstellation ad hoc, was „seine Wahrheit“ ist; deren externe Infragestellung wird mit Spott und Verachtung belegt. Wissenschaft ist dann nur eine weitere untaugliche Fremdreferenz; allein entscheidender Maßstab sind die subjektive Wahrnehmung und Einstellung des Einzelnen.

 

Emanzipation von der Biologie?

 

Aber auch diesseits dieses Extrembeispiels lassen sich Phänomene aufzeigen, in denen die eigenverantwortliche Bestimmung noch grundlegender Existenzbedingungen als individuelle menschliche Möglichkeit, wenn nicht gar als Aufgabe verstanden wird. Hinzuweisen ist etwa auf die Debatten über die biologische, soziale oder individuelle Natur von Geschlechtszuschreibungen. Ohne damit in irgendeiner Form eine Bewertung dieses Gesellschaftskomplexes oder gar von Einzelschicksalen vorzunehmen, fällt doch auf, dass hier eine Emanzipation von der Biologie (oder auch von Biologismen) angestrebt wird. Und diese Emanzipation soll, so sahen es zumindest zwei (vorläufig) gescheiterte Gesetzgebungsvorschläge im Deutschen Bundestag vor, schon sehr früh ansetzen und gegebenenfalls auch gegen den Willen der Eltern (als der „natürlichen“ Vertreter) durchgesetzt werden können. Geschlechtszugehörigkeit wird zudem teilweise nicht nur aus der Binarität von Mann und Frau gelöst und individueller Entscheidung überantwortet, sondern auch dynamisiert und fluide gestaltet, soweit nicht nur dauerhafte, sondern gegebenenfalls auch gänzlich situative oder momentane Selbstzuschreibungen akzeptiert werden.

Ein sprechendes, besonders drastisches und plastisches Beispiel für eine (Über­)Betonung des Autonomiegedankens liefert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Suizidassistenz (Paragraph 217 Strafgesetzbuch). In dieser Entscheidung avanciert gerade das „Selbstbild“ des Menschen zur argumentationsrelevanten Figur: Das Persönlichkeitsrecht sichere „die Grundbedingungen dafür, dass der Einzelne seine Identität und Individualität selbstbestimmt finden, entwickeln und wahren kann“; das setze voraus, „dass der Mensch über sich nach eigenen Maßstäben verfügen kann und nicht in Lebensformen gedrängt wird, die in unauflösbarem Widerspruch zum eigenen Selbstbild und Selbstverständnis stehen“ (Randnummer 207 des Urteils).

 

Selbstbezogene Argumentation

 

Das Gericht spricht in einer Kaskade teilweise redundanter und überschießender Formulierungen davon, die Entscheidung, das eigene Leben zu beenden, sei „von existentieller Bedeutung für die Persönlichkeit eines Menschen. Sie ist Ausfluss des eigenen Selbstverständnisses und grundlegender Ausdruck der zu Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Person.“ Für das Gericht betrifft sie „Grundfragen menschlichen Daseins und berührt wie keine andere Entscheidung Identität und Individualität des Menschen“. Deshalb erstrecke sich das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben […] auch auf die Entscheidung des Einzelnen, sein Leben eigenhändig zu beenden. Das Recht, sich selbst das Leben zu nehmen, stellt sicher, dass der Einzelne über sich entsprechend dem eigenen Selbstbild autonom bestimmen und damit seine Persönlichkeit wahren kann“ (Randnummer 209).

Diese selbstbildbezogene Argumentation muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass es verblüffend ist, ausgerechnet die Zuhilfenahme bestimmter Dritter als Ausdruck autonomer Lebensgestaltung anzusehen. Autonomie in Abhängigkeit ist ein eigenartiges Verständnis – zumal dann, wenn man, wie das Gericht, anerkennt, dass die einbezogenen Dritten durchaus eine Gefahr für eine freiverantwortliche Entscheidungsfindung darstellen können. Praktisch wie theoretisch bedeutsamer ist allerdings die damit schon angedeutete Frage, unter welchen Bedingungen von einer gesellschaftlich zu akzeptierenden, grundrechtlich geschützten autonomen Willensbildung auszugehen sein soll. Das Verfassungsgericht geht hier nicht so weit, noch diese Entscheidung – etwa in Abgrenzung zur potenziell unheilstiftenden „Macht der Psychiatrie“ (Michel Foucault) – allein individueller Festlegung zu überantworten. Stattdessen benennt es ausführlich einschlägige positive („Voraussetzungen einer freien Willensentscheidung“, Randnummer 240 ff.) und negative („Gefahren für eine freie Suizidentscheidung“, Randnummer 245 ff.) Faktoren.

An dieser Stelle drängt sich der Gedanke auf, der Gesetzgeber sei verpflichtet, diese Maßgaben im Sinne eines umfassenden, der Hochwertigkeit und Irreparabilität der gefährdeten Rechtsgüter Rechnung tragenden Schutzkonzepts umzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht versieht seine Entscheidung indes mit einer weiteren inhärenten Spannung, als es zugleich begrenzend einfordert, ein solches Schutzkonzept dürfe nicht den Zugang zur Suizidassistenz zu stark begrenzen. Gleichwohl kann angesichts der starken Betonung des Menschenwürdekerns nicht angenommen werden, das Verfassungsgericht verlange eine möglichst „liberale“ Regelung. Das Urteil ist kein Freibrief für eine Suizidermöglichungsgesetzgebung. Stattdessen verlangt es im Interesse des Autonomieschutzes wohldurchdachte, effektive Kontrollkonzepte.

In auffälligem Kontrast zu dieser, das Selbstbild und die Eigenmächtigkeit des einzelnen Menschen betonenden Entscheidung stehen die umfangreichen, oftmals mit Kollektivinteressen begründeten Beschränkungsmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie. In den einschlägigen Diskussionen ist einerseits eine Wissenschaftsgläubigkeit zu erkennen, die zwar – zu Recht – dem oben genannten Extrembeispiel widerspricht, aber ihrerseits Probleme aufwirft, soweit sie Eindeutigkeiten vorgibt, die das wissenschaftliche wie das politische System überfordern. Dass Politik auf die Wissenschaft hören sollte, ohne ihr hörig zu sein, wird nicht immer hinreichend beachtet. Die unterschiedlichen Verantwortungsmodi und Handlungsrationalitäten sollten stärker hervorgehoben werden; expertokratischen Tendenzen ist gerade aus Sicht einer selbstbewussten, aber wesensgemäß skeptizistischen Wissenschaft entgegenzutreten. Hinweise auf „die Wissenschaft“ müssen uns misstrauisch stimmen. Ähnliches gilt für das Mediensystem. Weit entfernt von einer staats- und machthaberkritischen „Vierten Gewalt“, sind viele Journalisten und Medienunternehmen in der Krise ersichtlich stolz darauf, „konstruktiv“ und „zusammenhaltssensibel“ zu berichten. Noch augenfälliger und problematischer wird der Kollektivismus dort, wo Solidaritätsappelle in Ausgrenzungsbemühungen umschlagen: So hatte bekanntlich die Politik nicht nur eine Impfpflicht ausgeschlossen, sondern sich auch monatelang geweigert, gleichheits- wie freiheitsrechtlich gebotene Differenzierungen zwischen unterschiedlichen Risikogruppen vorzunehmen und namentlich gegenüber Geimpften und Genesenen (partiell, gegebenenfalls auch nur vorübergehend) Freiheitsbeeinträchtigungen zurückzunehmen – unter der obrigkeitsstaatlichen Maxime „Keine doppelten Privilegien!“.

Aus dem Vorgesagten dürfte leicht zu erkennen sein, dass es keine einfache Lösung für den oben skizzierten, noch immer nicht zureichend verstandenen und aufbereiteten Konflikt geben wird. Jedoch ist in einer pluralen, demokratisch verfassten Gesellschaft die Vorstellung einer „richtigen“ Lösung ohnehin nicht nur illusorisch – sie ist tendenziell systemgefährdend. Demokratie lebt von der Einsicht in die eigene Fehlbarkeit und der Akzeptanz, dass andere eine abweichende, gegebenenfalls bessere Alternative verfolgen. Diese Akzeptanz setzt aber umfassende Diskurse voraus. Sich über die Existenz der beschriebenen Widersprüche, die tieferliegenden Kollisionslagen, ihre Ursachen und möglichen Konsequenzen klar zu werden, dürfte deshalb Voraussetzung dafür sein, zumal künftige Krisen besser bewältigen zu können.

 

Steffen Augsberg, geboren 1976 in Gießen, Rechtswissenschaftler, Professor für Öffentliches Recht, Justus-Liebig-Universität Gießen.

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