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Die Unerlässlichkeit des Projekts einer politischen Anthropologie

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Löwen und Meisen denken nicht an Politik; Götter und Engel benötigen sie erst gar nicht. Politik ist eine Sache der Menschen. Sie entsteht aus den körperlichen und intellektuellen Bedürfnissen menschlichen Daseins. Sie verwirklicht sich mit den Mitteln und Werkzeugen, die Menschen zur Verfügung stehen, und sie orientiert sich an Zielen, die Menschen verfolgen und die nicht in irgendeiner beliebigen Konstellation, sondern in einer möglichst gerechten Ordnung realisiert werden können. Als in diesem Sinne menschliches Vorhaben ist Politik stets Bedingungen unterworfen, die in der Begrenztheit von Ressourcen, aber auch und nicht zuletzt in der Limitierung menschlichen Wissens und Erkennens liegen. Menschen können alle möglichen Erkenntnisansprüche formulieren, doch im Raum politischen Handelns ein endgültiges Wissen über alle Variablen zu erlangen, ist bei aller Notwendigkeit, sachliche Entscheidungsgrundlagen zu erarbeiten, nichts anderes als ein Phantasma. Nur in Diktaturen gibt es keine Variablen mehr, sondern nur noch Konstanten.

Eine solche Beschreibung scheint allzu selbstverständlich zu sein. Einige werden darauf hinweisen, dass sie hier und dort unterkomplex sei; schließlich seien die jeweiligen politischen Institutionen, kulturellen Gegebenheiten und sozialen Verhältnisse zu berücksichtigen. Andere werden vielleicht sagen, dass man es sich zu einfach mache. Denn dies sei schließlich alles selbstverständlich, die wirklichen, eigentlichen, wichtigen und brennenden Probleme jedoch würden auf einer ganz anderen Ebene liegen – beispielsweise in der Rettung des Planeten.

Dennoch ist eine solche elementare Kennzeichnung politischen Handelns und Wirkens alles andere als oberflächlich oder trivial. Und dies mindestens aus zwei Gründen: Erstens könnte sie schlicht vergessen werden, sodass Politik nicht mehr auf Menschen, sondern ausschließlich auf Strukturen oder Modelle bezogen wird und in Sozialadministration und Verwaltungstechnokratie endet. Zweitens macht sie deutlich, dass Politik durchaus misslingen kann. Politisches Handeln ist auf allen Ebenen irrtumsanfällig. Man kann sich in den Bedürfnissen, Zielen, Mitteln und Bedingungen täuschen, in, mit und unter denen politisches Handeln realisiert wird oder realisiert werden soll.

Wie auch immer das Projekt einer politischen Anthropologie gefasst wird, und die Optionen sind durchaus vielfältig1: Der Kern eines solchen Vorhabens besteht darin, dass die politische Anthropologie im Detail aufzuzeigen versucht, wie trotz der Fehleranfälligkeit politischen Wirkens eine Politik jenseits des Menschen ihre Grundlagen zu verlieren droht.

 

Option des christlichen Menschenbilds

 

In einem solchen Projekt paart sich Bescheidenheit hinsichtlich unbedingter und absoluter Wissensansprüche mit Standfestigkeit hinsichtlich der Sache. Die Tradition des jüdisch-christlichen Menschenbilds ist als eine exemplarische intellektuelle Option vor einem solchen Hintergrund keineswegs vorgestrig. Denn auch hier wird der genannten doppeldeutigen Herausforderung Rechnung getragen, um der Verwirklichung menschlichen Lebens Raum zu lassen. Der Begriff der Person, die Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität markieren zentrale Stichpunkte, die nicht jenseits der Philosophie liegen und sich auch nicht der philosophischen Reflexion entziehen.

Freilich wird die politische Anthropologie verschiedentlich auch anders, oder besser gesagt simpler, interpretiert. Sie ist einerseits so verstanden worden, dass aus einer Erklärung der menschlichen Natur, wie sie etwa die jeweils historisch federführenden Lebenswissenschaften formulieren, manifeste und konkrete politische Aktionen, Kriterien oder Maßnahmen abgeleitet werden. In diesem Fall kann man allerdings in einen Szientismus der registrierten Natur abgleiten, der letztlich dazu führen kann, politisches Handeln zu negieren, da „die Wissenschaften“ vom Menschen Auskunft darüber geben, was „der Mensch“ sein will oder sein kann. Politik wäre dann nur noch das Vollzugsorgan eines solchen Expertenwissens der einen und einheitlichen Natur jenseits der menschlichen Erfahrung.

Oder aber politische Anthropologie wird als Sache einer vorgängigen sublimen kulturellen und historischen Herrschaft verstanden; fernab objektivierbarer Wissenschaftlichkeit, aber gerade deshalb umso wirksamer. Die klassischen Definitionen des Menschen von Aristoteles (der Mensch als das politische Tier) über Thomas Hobbes (die Menschen als übereinander herfallende Wölfe) bis hin zu Friedrich Nietzsche (der Mensch als das nicht festgestellte, als das entsicherte Tier) erscheinen dann nicht mehr als diskutierbare Aussagen einer menschlichen Selbstverständigung, sondern als Mittel der Machtausübung. Erst eine Hermeneutik des Verdachts könne diese verborgene und gefährliche Rückseite der politischen Anthropologie aufdecken. Einem Szientismus der Naturwissenschaften stünde dann ein geisteswissenschaftlicher Kulturalismus gegenüber, von dem im Weiteren behauptet wird, dass er die eigentliche Natur des Menschen fasse.

 

Zwischen den Fronten

 

Wer über die Natur des Menschen nachzudenken versucht, scheint auch heute zwischen diese Fronten – Szientismus und Kulturalismus – zu geraten und sich für eine entscheiden zu müssen. Das gilt nicht zuletzt im Feld der politischen Anthropologie. Immer mehr lebt man unter der gesellschaftlichen Prämisse oder kommunikativen Vorgabe, fortwährend Partei ergreifen zu müssen, stets auf einer, natürlich der richtigen, Seite zu stehen – ohne allerdings an den demokratischen Mühen des Kompromisses in existierenden Parteien teilnehmen zu wollen. Die modernen Kommunikationsmedien sind einerseits Ausdruck einer solchen partisanenhaften Existenz von imaginierter Parteinahme, andererseits befördern sie diese.

Doch wer es sich so einfach macht, verkennt die Relevanz der politischen Anthropologie. Sie steht nicht auf einer Seite, sondern zwischen den Fronten. Nicht umsonst äußert sich Helmuth Plessner 1931 in gesellschaftlich und politisch nicht einfach nur aufwühlenden, sondern höchst brisanten und unsicheren Zeiten unter dem Titel Macht und menschliche Natur explizit zur politischen Anthropologie. Sein Anliegen besteht in nichts Geringerem, als aus einem politischen Verständnis der Philosophie heraus „die Politik in ihrer menschlichen Notwendigkeit zu begreifen“.2 Dies ist dann wahrlich kein einfaches Modethema, kein Scharmützel, bei dem man sich für etwas entscheiden müsse. Es stellt sich vielmehr als eine intellektuelle und praktische Aufgabe dar, die gerade in der Gegenwart von besonderer Aktualität ist. Einige Schlaglichter mögen hier genügen.

Sicherlich, es ist eine Petitesse, die ihre Zeit hat und vergehen wird. Doch zumindest ist sie bemerkenswert: Gelegentlich finden sich in den inzwischen immer sehr gut gefüllten Mailordnern Nachrichten, die mit einer Verlegenheitsfloskel der Sprachlosigkeit beginnen. Man liest dort in der Anrede „Liebe Menschen“ oder auch „Hallo Menschen“. Das Gedankenspiel mag erlaubt sein, was es bedeutet, nur in einer leeren Allgemeinheit angesprochen zu werden, ohne jede wie auch immer geartete Konkretion.

 

Eigene Autoren ihrer Geschichten

 

Politik in ihrer menschlichen Notwendigkeit zu begreifen, bedeutet demgegenüber, die Sprache des Menschen in seiner konkreten Situation und Verfassung zu sprechen. Das Konzept der Person spielt hier eine entscheidende Rolle.3 Dieses geht verloren, wenn die Anrede zwischen Menschen als Personen nicht mehr gelingen will. Menschen teilen eine Umwelt, ohne Zweifel; als Personen aber teilen sie eine Welt. Wir verstehen Personen nicht einfach als Träger von Vorstellungen oder Repräsentationen, ebenso wenig als Reflexionsmaschinen, sondern aus einem Sinnzusammenhang heraus. Personalität lässt sich auch nicht einfach zuschreiben, was stets auch bedeuten würde, dass man sie schlicht per Dekret oder Erlass absprechen könnte. Personalität ist keine Eigenschaft, wie etwa weiß oder lila. Solche Eigenschaften lassen sich an unterschiedlichen Dingen verständlich machen, an weißen Autos oder weißem Papier, an lila Blüten oder lila Socken. Doch Personalität lässt sich von seinem „Träger“, der menschlichen Existenz, nicht einfach lösen und auf einen anderen beziehen. Schließlich gehört zur Personalität etwas, was sich als „Je-dieser“-zu-Sein oder „Je-diese“-zu-Sein fassen lässt, das heißt mit anderen Worten die je spezifische Unverwechselbarkeit, Nichtaustauschbarkeit und Nichtersetzbarkeit. Dieses kommt Personen selbst zu, man kann sie nicht erwerben, man ist ebenso wenig darauf angewiesen, dass man sie sich erarbeiten muss oder verliehen bekommt.

Politik in ihrer menschlichen Notwendigkeit zu begreifen, bedeutet ebenso, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Menschen ihr Leben führen können und sie auch die Möglichkeit besitzen, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Menschen, nicht die Politik oder politische Instanzen, sind die Autoren ihrer Lebensgeschichte. Bei den fortwährenden und inzwischen beliebten Such­, vielleicht auch eher Ratespielen des Politikmarketings nach Narrativen für politisches Wirken und Werben ist eines nicht zu vergessen: Zuerst einmal sind es Menschen als Personen, die in ihrer Lebenswirklichkeit in komplexe Geschichten verstrickt sind und sich aus diesen verstehen. Sie entwickeln zuerst die Erzählungen, denen gegenüber politische Narrative sekundär bleiben.

 

Grenzen des Verhandelbaren

 

Politik in ihrer menschlichen Notwendigkeit zu verstehen, bedeutet auch, den Grenzen des Verhandelbaren Rechnung zu tragen. Beratschlagendes Aushandeln und Entscheiden sind zweifelsohne auszeichnende Merkmale politischen Handelns – zumindest in liberalen, demokratischen Gesellschaften. Doch menschliches Leben ist nicht zur Gänze verhandelbar. Es gründet ebenso in Gewissheiten und Überzeugungen unterschiedlicher Stärke und Festigkeit, die keineswegs alle und in jeder Perspektive rechtfertigungs- und begründungspflichtig sind. Man kann nicht alles aushandeln, was man will. Oder wollten wir beispielsweise ernsthaft darüber debattieren, ob die Eigennamen von Menschen nicht einfach besser auf einer Namensbörse in Frankfurt gehandelt und höchstbietend von Namensunternehmen verkauft werden sollten, um einem „Namensüberschuss“ in einer Generation vorzubeugen? Dass Debatten Grenzen gezogen sind, die selbst nicht immer zur Debatte stehen, stellt eines der komplexesten und schwierigsten Themen der Gegenwart dar. Zu einfach wäre es, zu erwarten, dass die politische Anthropologie darauf jeweils die eine Antwort parat hat, es ist etwas viel Bedeutsameres wichtig: Es ist die politische Anthropologie, die diese Frage im Spiel des Politischen hält – und zwar als eine Auszeichnung liberaler Demokratien.

Die Liste ließe sich weiterführen, sie ist keineswegs abgeschlossen. Man denke nur an allzu einfache Konfrontationen zwischen Universalismus und Partikularismus in aktuellen Diskussionen – so, als ob man auch hier einfach wählen könne oder müsse. Eines aber zeigt sich in einer solchen noch weiter auszuführenden Aufzählung mehr als deutlich: Man kann es sich mit einer politischen Anthropologie einfach machen, wenn man einem allzu schlichten Menschenbild und einer allzu simplen Vorstellung von Wissenschaft anhängt. Doch man wird ohne eine politische Anthropologie nicht auskommen, wenn Politik aus menschlicher Notwendigkeit verstanden werden soll – und dies im Horizont der philosophischen Reflexion. Dies ist nicht einfach ein theoretisches Vorhaben, sondern ebenso ein praktisches gegenwärtiger politischer und sozialer Selbstverständigung. Das Projekt einer politischen Anthropologie markiert eine intellektuelle Aufgabe der Gegenwart.

 

Christian Bermes, geboren 1968 in Trier, Professor für Philosophie und Leiter des Instituts für Philosophie, Universität Koblenz-Landau (Campus Landau).

 

 

 

1 Zur Übersicht vgl. Otfried Höffe (Hrsg.): Der Mensch – ein politisches Tier? Essays zur politischen Anthropologie, Stuttgart 1992; Dirk Jörke / Bernd Ladwig (Hrsg.): Politische Anthropologie. Geschichte – Gegenwart – Möglichkeiten, Baden-Baden 2009.
​​​​​​​2 Helmuth Plessner: Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931), Gesammelte Schriften, Band 5, Frankfurt am Main 2003, S. 142.
​​​​​​​3 Vgl. Christian Bermes: „Zwischen Leben und Lebensform. Der Begriff der Person und die Anthropologie“, in: Inga Römer / Matthias Wunsch (Hrsg.): Person. Anthropologische, phänomenologische und analytische Perspektiven, Münster 2013, S. 43–56.

 

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