Der Föderalismus gehört zum Wesen unseres politischen Systems und hat eine lange Tradition. Im verfassungsrechtlichen Erbgut des Grundgesetzes (GG) verewigt (Artikel 79 Absatz 3), verteilt der bundesrepublikanische Föderalismus bewusst die staatliche Gewalt auf verschiedene Ebenen. Grundsätzlich obliegen den Ländern die Aufgaben der Gesetzgebung (Artikel 70 Absatz 1 GG), soweit das Grundgesetz nicht dem Bund Gesetzgebungsbefugnisse verleiht. Faktisch ist die Gesetzgebung heute weitgehend unitarisiert und erfolgt im Bund. Die Länder nehmen ihren Einfluss insbesondere über den Bundesrat wahr. Ihnen obliegt gemäß Artikel 30 GG zudem der Gesetzesvollzug.
Politikverflechtungen verhindern ein „Durchregieren“ und zwingen die politisch Handelnden in Bund, Ländern und Kommunen zu Kooperation und Koordination. Beteiligung, Abstimmung und Zusammenarbeit sind wesentliche Instrumente, um im föderalen Gefüge politisch zu gestalten. Die notwendigen Beteiligungs- und Entscheidungsprozesse sind entsprechend aufwendig. Sie werden zudem oftmals als intransparent wahrgenommen und führen nicht immer zu einheitlichen Lösungen. Gerade mit Blick auf die Herausforderungen unserer Zeit – wie die Bekämpfung der Corona-Pandemie, die Digitalisierung oder den Klimawandel – gibt es daher immer wieder Rufe nach einer Neujustierung des Föderalismus.
So strebt etwa die neue Ampel-Koalition im Bund laut Koalitionsvertrag „eine engere, zielgenauere und verbindliche Kooperation zwischen Bund, Ländern und Kommunen an“ und möchte „mit Kommunen und Ländern einen Föderalismusdialog zur transparenteren und effizienteren Verteilung der Aufgaben, insbesondere zu den Themen Katastrophen- und Bevölkerungsschutz, Bildung und Innere Sicherheit sowie zur Nutzung der Möglichkeiten der Digitalisierung, führen“.
Der vorliegende Beitrag nimmt eine kurze Bestandsaufnahme der Föderalismusdebatten vor und plädiert dafür, für den Katastrophen- und Bevölkerungsschutz auf die Stärken kommunaler Einheiten in Krisenlagen zu setzen und diese durch die föderale Struktur zu unterstützen.
Subsidiaritätsorientiert entscheiden
Mit der Föderalismusreform I gelang erstmals eine umfassendere Neujustierung des Kompetenzgeflechts von Bund und Ländern. Im Anschluss an diese größere Reform der Gesetzgebungszuständigkeiten betrafen die weiteren Föderalismusreformen II (2009) und die Reform 2017 insbesondere Fragen der föderalen Finanzverwaltung und Staatsverschuldung. Mit Artikel 91c GG wurde 2009 zudem die Grundlage dafür geschaffen, dass Bund und Länder bei der Verwaltungsdigitalisierung zusammenwirken und mit den Kommunen im IT-Planungsrat die dringend benötigten gemeinsamen Standards festlegen können. Artikel 91c GG zeigt, was vor und auch nach den Föderalismusreformen galt: Meist sorgt nicht die klare Abgrenzung von Kompetenzen für eine leistungsfähige Struktur, sondern die funktionsfähige Vernetzung von Bund, Ländern und Kommunen.1 Auf welcher Ebene die notwendige Steuerung zweckmäßig erfolgen sollte, ist eine Frage, die dann mit Blick auf die spezifischen Anforderungen des Aufgabenfeldes gemäß dem Subsidiaritätsprinzip zu entscheiden ist.
Die Stärken einer solchen föderalen Staatsorganisation hat in den letzten Monaten der gemeinsame Kampf von Bund und Ländern gegen die Corona-Pandemie nachdrücklich gezeigt. Zwischen den Regierungschefinnen und -chefs der Länder und dem Bund werden Maßnahmen abgestimmt, die zweckmäßig für ein einheitliches Vorgehen sorgen und den nötigen Raum lassen, um den jeweiligen Lagen in den Ländern Rechnung zu tragen. Diese Strukturen, die schrittweise und subsidiaritätsorientierte Entscheidungen in einem föderalen Machtgefüge ermöglichen, führen zu sachlich besseren Entscheidungen, als Zentralstaaten sie treffen können. Denn die vermeintlich zeitaufwendige Beteiligung weiterer Akteure verringert Informationsdefizite, generiert mehr Handlungsoptionen und sorgt für ausgewogenere Abwägungen. Entscheiderinnen und Entscheider sind außerdem näher an den Bürgerinnen und Bürgern. Sie kennen deren regionale Bedarfe und müssen ihre Entscheidungen ihnen gegenüber begründen. Politik wird so nahbarer und transparenter und stärkt so das in der Krise so wichtige Vertrauen.2 Welchen Beitrag der jüngst im Bundeskanzleramt medienwirksam eingerichtete Corona-Krisenstab zur Pandemiebekämpfung leisten wird, muss sich vor diesem Hintergrund erst erweisen.
Gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern
Die Flutkatastrophe im Sommer 2021 hat deutlich gemacht, dass die föderalen Strukturen im Bevölkerungs- und Katastrophenschutz zukunftsfähiger gemacht werden müssen. Der Katastrophenschutz ist Aufgabe der Länder (Artikel 30, 70 ff., 83 ff. GG); der Bund wirkt unterstützend (Artikel 35 GG) mit. In verschiedenen Gesetzen, wie dem Vorsorge- und Sicherstellungsgesetz, dem Zivilschutzgesetz, den Brandschutz- und Katastrophenschutzgesetzen sowie den Rettungsdienstgesetzen, wurden Regelungen getroffen, die Bund, Länder und Gemeinden in einem gemeinsamen Hilfeleistungssystem zum Schutz der Bevölkerung vereinen.
Die Strukturen der Verwaltungsstäbe und der Führungssysteme der Länder wurden bereits vereinheitlicht. Auf Bundesebene wurden das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, das Gemeinsame Melde- und Lagezentrum des Bundes und der Länder und das Deutsche Notfallvorsorge-Informationssystem geschaffen. Hier ist eine – über die föderalen Grenzen hinausgehende – gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern für den Schutz der Bevölkerung vor länderübergreifenden Gefahrenlagen klar zu erkennen.
Eine zentrale Rolle nimmt die Stärkung der Krisenmanagementfähigkeit der Landesverwaltungen durch eine Modernisierung der Strukturen ein. Diese muss niederschwellig eingreifen und aufwachsend bis hin zu Katastrophenfällen einen einheitlichen Standard in der Krisenbewältigung definieren. Die Anforderungen der Konzeption Zivile Verteidigung, die Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit im Falle eines Ausfalls Kritischer Infrastrukturen sowie die Vernetzung der wesentlichen Aufgabenträger im Krisenmanagement müssen in die Planungen einfließen.
Die Vorplanung geeigneter Stabsstrukturen ist von besonderer Bedeutung für die Bewältigung einer Katastrophenlage. Insbesondere die Besetzung von Stabsstrukturen stellt alle Träger des Bevölkerungsschutzes vor enorme Herausforderungen. Personal ist knapp bemessen und das Ehrenamt in diesem Bereich unverzichtbar. Es stärkt unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt – das müssen wir verlässlich fördern. Dazu gehören auch bundesweit einheitliche Freistellungs- und Versicherungsschutzregeln.
Klammerfunktion des Bundes
Die Führungsstäbe der unteren Katastrophenschutzbehörden müssen sich durch eine einheitliche Ausbildung und Übungspraktik gegenseitig unterstützen können. Dies gilt innerhalb der Bundesländer und insbesondere länderübergreifend. Die „Führung vor Ort“ muss in der Lage sein, Unterstützungskräfte anderer Bundesländer oder des Bundes unmittelbar in das laufende System einzugliedern. Die Kompatibilität in Ausbildung, Ausstattung und Leistungsfähigkeit der einzelnen Unterstützungsmodule gewährleistet den Einsatzerfolg ohne Zeitverzug. Der Bund könnte in Bezug auf die Kompatibilität eine koordinierende Rolle einnehmen.
Die Vereinheitlichung der IT-Infrastruktur ist ein weiterer wichtiger Schritt. Ebenso wie bei der Verwaltungsdigitalisierung ist eine stärkere Standardisierung der genutzten Software, Schnittstellen und Datenformate notwendig, damit lebensrettende Informationen über die konkrete Lage und der für die Krisenbewältigung notwendigen Ressourcen in Echtzeit verfügbar sind. Zudem trägt eine Standardisierung dazu bei, dass schneller Ersatz geschaffen werden kann.
Ebenfalls sollte der Bund eine Klammerfunktion über die verschiedenen Fachressorts zur weiteren Modernisierung der Vorschriften zum Schutz Kritischer Infrastrukturen sowie zur Aufrechterhaltung kritischer Dienstleistungen wahrnehmen. Dazu gehört die Modernisierung und (Wieder-)Ertüchtigung der Vorsorge- und Leistungsgesetzgebung (ehemals Sicherstellungsgesetzgebung) im Zivilschutz sowie die Bereitstellung ausreichender finanzieller und personeller Ressourcen in den ihm obliegenden Aufgabenfeldern, zum Beispiel bei der Warnung, aber auch bei Kritischen Infrastrukturen.
In der Herbstsitzung der Innenministerkonferenz 2021 gab es ein klares Ja zur Stärkung des Bevölkerungsschutzes: Konsens bestand bei der Errichtung eines „Gemeinsamen Kompetenzzentrums Bevölkerungsschutz“. Zudem war man sich einig, dass damit keine Landeskompetenzen an den Bund abgegeben werden, denn die Strukturen des Katastrophenschutzes unterscheiden sich in den Bundesländern. Sie sind auf die jeweiligen Bedarfe, Verwaltungsstrukturen, Bevölkerungsverteilungen und die regionalspezifisch zu erwartenden Gefahrenlagen abgestimmt. Die Pilotphase dieses gemeinschaftlich getragenen Zentrums kann bereits in diesem Jahr starten.
Im Katastrophenmanagement arbeiten die Länder mit allen relevanten Stellen (auch denen des Bundes) zusammen. Hierbei werden durch die zuständigen Einheiten insbesondere die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk, die Bundeswehr, die zuständige Landespolizei und die Bundespolizei eingebunden. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe sowie die anderen Bundesländer werden über das gemeinsame Melde- und Lagezentrum des Bundes und der Länder beteiligt.
Das wichtigste Ziel der Weiterentwicklung des Bevölkerungsschutzes muss die Schaffung eines gängigen und leistungsfähigen Systems sein, das über alle Arten von Schadenlagen aufwuchsfähig ist, alle relevanten Akteure miteinander vernetzt und regionale Besonderheiten berücksichtigt. Zivil- und Katastrophenschutz sowie die tägliche nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr sollen enger vernetzt und in Struktur und Verfahren besser aufeinander abgestimmt werden.
Das „Gemeinsame Kompetenzzentrum Bevölkerungsschutz“ sollte eine Plattform darstellen, über die sich alle am Bevölkerungsschutz beteiligten Träger austauschen und koordinieren können.
Die zentrale Zukunftsfrage des Bevölkerungsschutzes lautet, welchen politischen und gesellschaftlichen Stellenwert wir diesen Themen geben werden. Damit wir „vor die Lage“ kommen, müssen wir die Stärken föderaler Strukturen besser nutzen. Die Bekämpfung der Corona-Pandemie und die Verwaltungsdigitalisierung zeigen, dass die komplexen Abstimmungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen zwar aufwendig, aber lohnend sind. Wer die positiven Aspekte des Föderalismus erhalten und mit Leben füllen will, muss gleichzeitig für eine auskömmliche Finanzierung aller Akteure sorgen; beim Bevölkerungsschutz einschließlich der privaten – ehrenamtlichen – Hilfsorganisationen.
Sabine Sütterlin-Waack, geboren 1958 in Reinbek, promovierte Rechtswissenschaftlerin, seit 2020 Ministerin für Inneres, ländliche Räume, Integration und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein.
1 Weitere verfassungsrechtliche „Ermöglichungen einer vernetzten und arbeitsteiligen Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen“ fordert mit Blick auf die Digitalisierung ebenso der Rechtswissenschaftler Utz Schliesky: „Digitalisierung – Herausforderung für den demokratischen Verfassungsstaat“, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, NVwZ, Heft 10, 15.05.2019, S. 693, S. 695.
2 Ausführlich Nathalie Behnke: „Föderalismus in der (Corona-)Krise? Föderale Funktionen, Kompetenzen und Entscheidungsprozesse“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Nr. 35–37, 24.08.2020, S. 9, S. 12 ff.; siehe auch www.bpb.de/apuz/314343/foederalismus-in-der-coronakrise [letzter Zugriff: 11.01.2022].