Die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat infolge des Regimewechsels in Damaskus ihren Einfluss auf weite Teile Syriens ausgedehnt; dies bedeutet eine tiefgreifende Zäsur für die politische Landschaft des Nahen Ostens. Ankara spielte eine entscheidende Rolle bei der Militäroffensive des islamistischen Bündnisses Hayat Tahrir al-Sham (HTS) und der Freien Syrischen Armee im Dezember 2024, die binnen weniger Wochen Aleppo, Hama, Homs und schließlich Damaskus unter ihre Kontrolle brachte und das Assad-Regime stürzte. Die zuvor bereits geschwächte schiitische Allianz zwischen Damaskus und Teheran zerbrach endgültig unter dem Druck dieser militärischen Offensive. Unmittelbar nach Assads Sturz und Flucht traf sich HTS-Führer Ahmed al-Scharaa mit dem türkischen Außenminister Hakan Fidan und Geheimdienstchef İbrahim Kalın in Damaskus, um die politische Neuordnung des Landes zu koordinieren.
„Die Türkei ist größer als die Türkei“, erklärte Erdoğan kaum zwei Wochen nach der Machtübernahme der HTS in Damaskus. „Als Nation können wir unseren Horizont nicht auf 782.000 Quadratkilometer beschränken. Die Türkei kann ihrem Schicksal weder entgehen noch sich ihm entziehen. Wer fragt, was die Türkei in Libyen, Somalia oder Syrien unternimmt, versteht diese Einsätze möglicherweise nicht. Wir müssen die Mission erkennen und akzeptieren, die uns die Geschichte als Nation auferlegt hat, und entsprechend handeln.“
Wirtschaftliche Interessen Ankaras
Diese Rhetorik illustriert den historisch-weltanschaulichen Kontext, in dem die politische Führung in Ankara das Ende der osmanischen Herrschaft über den Nahen Osten nach 1918 interpretiert. Das Osmanische Reich herrschte 400 Jahre über die arabische Welt. Der Zusammenbruch des einstigen Weltreichs bildet bis heute ein kollektives Trauma der türkischen Gesellschaft. Die derzeitigen geopolitischen Verwerfungen werden von der türkischen Regierung, der Opposition und weiten Teilen der akademischen Elite als historische Gelegenheit betrachtet, den eigenen Einflussbereich auszudehnen und den in ihren Augen rechtmäßigen Platz in der Region einzufordern. Die von Präsident Erdoğan einst ausgerufene Vision eines „türkischen 21. Jahrhunderts“ schwingt dort mit. Die wirtschaftlichen Interessen, die Ankara mit seinem Engagement in Syrien verfolgt, sind von nicht minderer Bedeutung. Im Nordosten Syriens befinden sich die größten Öl- und Gasfelder des Landes, die derzeit im kurdischen Autonomiegebiet Rojava liegen und durch US-Truppen geschützt werden. Die neue syrische Regierung fordert die Rückgabe der Öl- und Gasfelder und die Wiederherstellung der Kontrolle unter staatlicher Verwaltung. Die Forderung wird maßgeblich von der Türkei unterstützt, die ihrerseits ihre Kontrolle über Syriens Energiesektor ausbauen will. Ankara plant – wie bereits 2020 in Libyen –, mit der neuen syrischen Regierung ein Abkommen über die Ausdehnung der ausschließlichen Wirtschaftszone schließen, um maritime Ansprüche im östlichen Mittelmeer auszudehnen. Es ist zu erwarten, dass die Türkei ihre Erdgasexplorationen im östlichen Mittelmeer intensivieren wird, was erneut Spannungen mit anderen Anrainerstaaten wie Griechenland, Israel und Zypern auslösen wird, die bereits 2020 fast zu europäischen Sanktionen geführt hätten.
Der Umsturz in Syrien ermöglicht der Türkei eine umfangreiche Beteiligung am Wiederaufbau des Landes. Angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise und einer hohen Arbeitslosenrate im eigenen Land erhofft sich Ankara ökonomische Impulse durch die zu erwartenden massiven Investitionen im syrischen Bau- und Logistiksektor. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind für den Wiederaufbau der dortigen Infrastruktur etwa 400 Milliarden Dollar erforderlich. Türkische Unternehmen stehen bereit, um von diesem Investitionsbedarf zu profitieren. Der erhebliche türkische Einfluss auf Damaskus bedeutet, dass türkische Firmen bevorzugt Aufträge in den Bereichen Straßenbau, Energieversorgung und Wassermanagement erhalten werden. Auch der Wohnungssektor wird eine zentrale Rolle spielen, da zahlreiche syrische Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren dürften. Aus der Türkei sind seit 2017 bereits etwa 790.000 Flüchtlinge zurückgekehrt.
Störender Kurdenkonflikt
Mit der Unterstützung des Regimesturzes in Damaskus hat die Türkei nicht nur die geopolitische Lage im Nahen Osten verändert, sondern auch die Vormachtstellung Russlands in der Region empfindlich geschwächt. Russische Sicherheitsexperten kritisieren Präsident Wladimir Putin scharf, da es ihm nicht gelungen sei, den türkischen Einfluss einzudämmen und die eigenen Interessen zu wahren.[1] Bereits in früheren Konflikten hatte Ankara erfolgreich russischen Einfluss zurückgedrängt, wie etwa im Konflikt um Bergkarabach, als die türkische Unterstützung Aserbaidschans zum Abzug russischer Truppen aus Armenien führte.
Im Ukraine-Krieg laviert die Türkei zwischen den Konfliktparteien, indem sie einerseits Kiew mit militärischer Ausrüstung versorgt und andererseits Moskau wirtschaftliche Hintertüren offenhält. Mit Blick auf Syrien verhandelt der Kreml derweil mit Ankara über den Fortbestand seiner dortigen Militärstützpunkte, deren Verbleib ohnehin nur unter einer stabilen neuen syrischen Regierung möglich erscheint.
In der Kurdenfrage steht Ankara vor erheblichen Herausforderungen, da der seit vierzig Jahren andauernde Konflikt die Achillesferse der türkischen Politik bildet. Ohne einen Ausgleich mit den Kurden bleiben die machtpolitischen Perspektiven beschränkt. In einem bemerkenswerten politischen Schachzug reichte ausgerechnet Devlet Bahçeli, Vorsitzender der türkischen ultranationalistischen Partei Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) der Arbeiterpartei Kurdistans (Kurmandschi Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) die Hand zu Friedensgesprächen, wobei die kurdische „Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie“ (Partiya Demokrasiya Gel, heute DEM) als Vermittler fungierte. Bahçeli forderte den inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan auf, im türkischen Parlament die Entwaffnung der von der Europäischen Union, den USA und der Türkei als Terrororganisation eingestuften PKK zu verkünden. Parallel dazu gab es militärische Auseinandersetzungen, bei denen die kurdische Yekîneyên Parastina Gel („Volksverteidigungseinheiten“, YPG) / Demokratische Kräfte Syriens (SDF) schwere Niederlagen gegen protürkische Einheiten in Nordsyrien erlitten. Diese Entwicklungen gipfelten im historischen Aufruf Öcalans am 27. Februar 2025, die Waffen niederzulegen. Die Integration kurdischer Einheiten unter SDF-Kommandeur Mazlum Abdî in die neue syrische Armee wäre ein wichtiger Schritt zur Lösung der anhaltenden Spannungen mit den bewaffneten syrisch-kurdischen Kräften.
Israel und die Türkei
Ob die Türkei ihren Anspruch auf eine Führungsrolle in der Region verwirklichen kann, hängt von den Reaktionen anderer regionaler und globaler Akteure ab. Der gescheiterte Putschversuch ehemaliger Assad-Anhänger im März 2025, der mutmaßlich von iranischer Seite unterstützt wurde, zeigt, dass Ankaras Einfluss keineswegs unumstritten ist. Der türkische Außenminister Hakan Fidan machte den Iran für den Aufstand verantwortlich,[2] der von führenden iranischen Militärs vorbereitet und im Schatten der russischen Stützpunkte Hmeimim und Tartus koordiniert wurde. Die blutige Niederschlagung des Aufstands führte zu einem Massaker an den Alawiten, das die neue Regierung zwar offiziell verurteilte, gleichzeitig aber auch andeutete, dass die Pro-Assad-Milizen und ausländische Elemente, gemeint war der Iran, für die Massaker verantwortlich seien. Gleichzeitig bleibt Israel ein entschiedener Gegner der expansiven Politik der Türkei. Die anhaltende Unterstützung Ankaras für die Hamas auch nach den Terrorangriffen am 7. Oktober 2023 hat Tel Aviv dazu bewegt, verstärkte Kontakte zur PKK zu suchen. Israels Außenminister Gideon Saar betonte bereits im November 2024, dass die kurdischen Kräfte natürliche Verbündete Israels seien, und signalisierte Ankara damit unmissverständlich, dass Tel Aviv eine Unterstützung der Kurden in Betracht ziehe.
Israelische Luftangriffe zerstörten nach Assads Sturz strategische Militäreinrichtungen in Syrien, um eine Stärkung der islamistischen HTS zu verhindern. Zudem treibt Israel die Siedlungspolitik auf den Golanhöhen voran, was durch umfassende Investitionen in die Ortschaften auf dem Golan gefördert wird. Die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu hat ihre Strategie in den letzten Monaten verändert und nimmt mit Unterstützung der Trump-Administration an der machtpolitischen Neuordnung des Nahen Ostens teil. Israel stuft die türkischen Machtambitionen und die anti-israelische Rhetorik in Ankara als sicherheitspolitische Bedrohung ein und befürchtet, dass Syrien zu einem türkischen Protektorat werden könnte. Bereits 2020 erklärte Mossad-Direktor Yossi Cohen, dass „die Türkei eine größere Bedrohung für Israel darstelle als der Iran“.[3]
Neubelebung der europäisch-türkischen Beziehungen?
Trotz des Machtkampfs in der Levante nimmt die Türkei weiterhin eine zentrale Rolle in der westlichen Sicherheitsarchitektur ein, ist eine führende Drohnenmacht und verfügt über die zweitstärkste Armee der NATO. Die politischen Unsicherheiten im transatlantischen Bündnis, die durch US-Präsident Donald Trump ausgelöst worden sind, könnten die europäisch-türkischen Beziehungen neu beleben. Ankara hat der Europäischen Union unlängst ein neues Militärbündnis angeboten, sofern die NATO durch eine Abwendung der USA zerfallen sollte, und stünde als Garantiemacht für die Ukraine bereit. Die Türkei unterhält nicht nur ein kampferprobtes Heer, sondern verfügt auch über eine moderne und leistungsfähige Rüstungsindustrie, deren militärische Güter in 170 Länder exportiert werden. Bereits jetzt spielt die Türkei eine wichtige Schlüsselrolle in der Verteidigungsarchitektur Europas. Eine mögliche militärische Allianz zwischen Ankara und Brüssel könnte darauf aufbauen. Trotz der aktuellen innenpolitischen Verwerfungen in der Türkei darf die Europäische Union sich nicht in einer moralisierenden Außenpolitik verlieren. Sie muss im Umgang mit der Türkei auch die Moral des Pragmatismus schätzen lernen, wenn sie sich in der künftigen Weltordnung behaupten will. Europa sieht seine Zukunft mehr denn je in der militärischen Einigkeit, um nicht Spielball der Weltmächte zu werden. Es bleibt aber die Frage, ob die Europäische Union in dieser neuen Epoche imperialer Machtpolitik bereit ist, mit Nationen neue Wege zu beschreiten, die selbst expansive Interessen verfolgen.
Rasim Marz, geboren 1991 in Siegburg, Historiker und Publizist, Experte für die Geschichte des Osmanischen Reiches und der modernen Türkei.
[1] Jewgeni Satanowski: „Syrien: Die Grenzen von Krieg und Frieden“, in: Russia in Global Affairs, 24.12.2024, https://globalaffairs.ru/articles/siriya-satanovskij/ (russischsprachige Website); „Russia’s losses in Syria are Turkey’s gains“, in: bne INTELLINEWS, 17.12.2024, www.bne.eu/comment-russia-s-losses-in-syria-are-turkey-s-gains-358798/?source=russia [letzter Zugriff jeweils: 03.04.2025].
[2] „Außenminister Fidan: ‚Es ist falsch, die Ereignisse in Syrien mit einer ausländischen Intervention zu erklären‘“, in: euronews, 03.12.2024, https://tr.euronews.com/2024/12/03/disisleri-bakani-fidan-suriyedeki-olaylari-dis-mudahale-ile-aciklamak-yanlis; Muhammad Enes Yilmaz: „Syrische Spannungen an der Türkei-Iran-Linie! Was sagte Minister Fidan?“, in: Haber Global, 04.03.2025, https://haberglobal.com.tr/dunya/turkiye-iran-hattinda-suriye-gerilimi-bakan-fidan-ne-demisti-426635 [letzter Zugriff jeweils: 03.04.2025].
[3] Seth J. Frantzman: „Israeli military and intelligence assessments see Turkey as growing threat“, in: The Jerusalem Post, 23.08.2020, www.jpost.com/middle-east/israeli-military-and-intelligence-assessments-see-turkey-as-growing-threat-639629 [letzter Zugriff: 03.04.2025].