Rückblickend betrachtet, gehört es zu den größten Überraschungen in der Geschichte des Internets, dass sich dieses Medium gerade im Bereich von Liebe und Partnerschaft so umfassend und nachhaltig etablieren konnte. Im Januar 2022 gaben in einer Umfrage des Digitalverbands Bitkom rund 33 Prozent der Internetnutzerinnen und -nutzer in Deutschland an, bereits einmal dezidierte Online-Datingplattformen oder Dating-Apps genutzt zu haben – quer durch alle Altersgruppen.1 Dieser Wert bewegt sich bereits seit Jahren auf einem ähnlichen Niveau, ist aber während der Corona-Pandemie nochmals angestiegen.
Überraschend ist dieser Siegeszug vor allem deshalb, weil das Internet eigentlich ein eher distanziertes Medium ist: Die Kommunikation ist überwiegend textbasiert und asynchron, die leibliche Präsenz der Interaktionspartnerinnen und -partner stark reduziert. In krassem Gegensatz dazu sind Liebe und Sexualität in der modernen Gesellschaft geradezu ein Inbegriff von Nähe und Intimität – körperlich-physisch, aber auch emotional und kognitiv. Warum also sollten Menschen in einem so distanzierten Medium wie dem Internet nach dieser Art von Nähe und Intimität suchen?
Es gibt eine naheliegende Antwort auf diese Frage: Es gehe beim Online-Dating gar nicht um wechselseitige Nähe und Intimität, sondern lediglich um ein oberflächliches Geplänkel – nicht ernst gemeint, nicht von Dauer. Meist ist diese Deutung eingebettet in ein kulturpessimistisches Lamento, wonach die Beziehungskultur in unserer Gesellschaft generell den Bach runtergehe und die Popularität der Partnersuche im Netz nur zeige, wie sehr die Menschen verlernt hätten, echte Beziehungen zu führen. Tinder und andere Datingplattformen werden dann gern als ein großer Markt der Eitelkeiten porträtiert, auf dem es vor allem um die eigene kompetitive Selbstdarstellung gehe und darum, ganz eigennützig am Ende das beste Schnäppchen für sich herauszuschlagen – sei es für eine Nacht oder auch für länger.
Wie viele einfache Antworten enthält auch diese Deutung einen Funken Wahrheit; sie ist allerdings zu einseitig, verkürzt und damit auch falsch. Zunächst einmal verklärt sie die Vergangenheit, denn auch früher haben eigennützige Überlegungen bei der Partnerwahl eine Rolle gespielt. Vor allem aber verkennt sie die Vielfalt der Motive, mit denen Menschen sich heute millionenfach auf Datingplattformen begeben, und auch die erstaunlichen Erfahrungen von Nähe und Intimität, die sie dort machen. Grund genug, die schnellen Erklärungen beiseitezulegen und sich das Phänomen etwas genauer anzuschauen.
Liebe – wichtiger und fragiler
Tatsächlich ist das kulturkritische Lamento über den gesellschaftlichen Niedergang des Beziehungslebens nicht neu. Eine große Debatte entbrannte dazu bereits in den 1990er-Jahren, als die Scheidungsraten neue Höhen erreichten und in den Städten immer mehr Einpersonenhaushalte auftauchten. In der Folge sahen Teile der Wissenschaft und des öffentlichen Diskurses eine beziehungsarme „Single-Gesellschaft“ am Horizont heraufziehen, in der sich immer mehr Menschen – der Mühen des Liebeslebens überdrüssig – ohne feste Beziehung dem eigenen Karriereerfolg und der solipsistischen Selbstverwirklichung widmeten.
Ulrich Beck war in dieser Debatte mit seiner Individualisierungstheorie ein wichtiger Stichwortgeber. Mit seiner Frau Elisabeth Beck-Gernsheim hat er jedoch auch durchaus differenzierte Zwischentöne beigesteuert: In ihrer gemeinsamen Studie Das ganz normale Chaos der Liebe (1990) etwa argumentierten sie, dass steigende Scheidungsraten möglicherweise gar nicht in erster Linie darin begründet lägen, dass die Menschen beziehungsunwillig und der Liebe überdrüssig seien, sondern im Gegenteil eher darin, dass die Liebe immer wichtiger werde, jedoch damit zugleich auch prekärer. Denn je weniger äußere Konventionen und Traditionen eine Beziehung stabilisierten, desto mehr trete die wechselseitige Liebe als tendenziell einziges, aber eben auch notorisch fragiles Bindeglied in den Mittelpunkt. Hinzu komme, dass sich die traditionellen Geschlechterrollen aufzulösen begännen und damit auch die Erwartungen an Liebe und Paarbeziehung immer vielfältiger und individueller würden. Einen dauerhaften Gleichklang zwischen den Partnerinnen und Partnern herzustellen, sei daher eine immer größere Herausforderung. Die zeitgenössische Liebe scheitere also eher an ihren eigenen, inhärenten Ansprüchen als daran, dass die Menschen sie nicht mehr für wichtig nehmen würden.
Diese Analyse beschreibt treffend die Herausforderungen, auf die das Anfang der 2000er-Jahre aufkommende OnlineDating Antworten zu geben versprach: Denn wenn die Liebe fragiler wird und Menschen immer häufiger im Leben vor der Aufgabe stehen, eine neue Partnerin oder einen neuen Partner zu finden, dann vereinfacht und beschleunigt Online-Dating den Kontakt zu beziehungswilligen anderen Menschen in bisher nicht gekannter Weise. Wenn die Liebe zugleich immer individueller wird, die eigenen Erwartungen immer spezieller, dann antworten Datingplattformen darauf mit einer gigantischen Auswahl sowie mit elaborierten Filtermechanismen oder Matching-Algorithmen. Online-Dating verspricht nicht weniger als eine Radikalisierung der klassisch-modernen Idee der freien und hoch individualisierten Partnerwahl. Nur dass man jetzt nicht mehr schicksalsergeben auf Amors Pfeil warten muss, sondern Algorithmen sowie Datenbanken für sich arbeiten lässt und außerdem das Heft auch selbst in die Hand nehmen kann – selbst wenn dies nur darin besteht, bei Tinder nach links oder rechts zu wischen.
Ist Online-Dating also die Lösung aller Probleme der modernen Liebe? Wie erleben das Nutzerinnen und Nutzer? Im Rahmen eines Forschungsprojekts mit meinem Kollegen Olivier Voirol von der Universität Lausanne habe ich ausführliche qualitative Interviews mit Menschen geführt, die teils schon viele Jahre im Netz auf der Suche nach einem Partner oder einer Partnerin sind.
Internet und klassische Briefromane
Viele Menschen haben mir berichtet, dass der Eintritt in diese neue Welt für sie tatsächlich zunächst sehr aufregend und euphorisierend war: Mit einem Schlag eröffnen sich zahlreiche neue Möglichkeiten, viele potenzielle Kontakte und denkbare Zukünfte für das eigene Leben in Zweisamkeit. Und auch die ersten Interaktionen verlaufen oft vielversprechend. Es war auch für uns Forschende erstaunlich zu sehen, wie schnell sich Menschen in der Onlinekommunikation wechselseitig öffnen, sehr persönliche und intime Dinge von sich erzählen und wie rasch dadurch Gefühle einer tiefen Vertrautheit und Nähe entstehen können. Diese Erfahrungen entsprechen nicht dem gängigen Vorurteil, Onlinekontakte seien generell oberflächlicher und weniger tief als Offlinebeziehungen. Wie kommt das?
Tatsächlich weist der digitale Raum einige Besonderheiten auf, die einer sehr persönlichen und offenen Kommunikation durchaus entgegenkommen. Dass mediale Distanz die wechselseitigen Gefühle nicht unbedingt schwächen muss, sondern durchaus auch befeuern kann, kennen wir aus den klassischen Briefromanen der Romantik. Ich habe daher das Internet auch einmal als ein „neoromantisches Medium“ bezeichnet. Eine Konstellation, die das sehr fördert, wird in der Sozialpsychologie als „stranger on a train phenomenon“ bezeichnet: Man hat beobachtet, dass Menschen in flüchtigen Sozialsituationen – wie etwa im Gespräch mit einer Zufallsbekanntschaft im Zug – nicht selten offener sind und einen ungefilterteren Einblick in ihr Innerstes geben als gegenüber Freunden oder Familienmitgliedern. Warum sich schützen oder verstellen, wenn man dem Gegenüber sowieso nie wieder begegnen wird?
Die Onlinekommunikation hat einen ähnlichen Effekt: Auf paradoxe Weise können Beziehungen im Netz gerade deshalb intensiver und persönlicher werden, weil sie ein Moment von Flüchtigkeit haben, weil man sich nur unter einem Pseudonym kennt und den Kontakt mit wenigen Mausklicks (oder mit Touchgesten) für immer beenden kann. Hinzu kommt, dass die Körper in dieser Beziehung zunächst eigentümlich abwesend sind und daher das wechselseitige Gespräch ganz ins Zentrum tritt. Diese oftmals ausufernden Onlinekonversationen schaffen eine Ebene der Vertrautheit, in der man bereits sehr viel über sein Gegenüber weiß, noch bevor man diesem Menschen jemals physisch begegnet ist.
Problematische Effekte
Umso größer ist dann oft der Bruch, wenn es zu einer ersten Begegnung außerhalb des Mediums kommt. Es gab kein Interview, das ich geführt habe, in dem nicht über solche enttäuschenden Erfahrungen berichtet wurde: Wie schnell die Nähe des Onlinekontakts in der physischen Interaktion zusammenbrechen kann; wie schwierig es ist, die einmal erzielte Vertrautheit in die Offlinewelt hinüberzuretten. Dies ist typischerweise die erste große Desillusionierung, an der sich die anfängliche Euphorie bricht. Ein naheliegender Lösungsversuch ist, den Moment der Entscheidung vorzuziehen und sich schneller zu treffen. Apps wie Tinder haben dies schon eingebaut: Sie zielen auf eine rasche physische Begegnung, lange Onlinekonversationen sind verpönt.
Diese Beschleunigung der Kontakte und Treffen hat allerdings ihre eigenen problematischen Effekte. Es ist generell so, dass die schier unerschöpfliche Menge an Kontaktmöglichkeiten auf Tinder oder klassischen Datingplattformen dazu führt, dass die Frustrationstoleranz extrem absinkt. Auch bei kleinsten Missstimmungen werden Kontakte rasch beendet – es warten schließlich noch Tausende andere, potenziell bessere Optionen. Im Ergebnis hatten meine Interviewpartnerinnen und -partner oft mehrere Dates pro Woche, und dies über Monate, bis sie sich teils selbst erschöpft eine Pause verordneten.
Online-Dating setzt also eine Dynamik der Vervielfältigung und Beschleunigung von Kontakten in Gang, die sehr euphorisierend wirken kann, dann aber sukzessive und erst einmal häufig unbemerkt die Gestalt der Beziehungen selbst zu verändern beginnt. Diese rasch wechselnden Kontakte als oberflächlich zu beschreiben, trifft es nicht, denn, wie bereits gezeigt, bedeutet Flüchtigkeit nicht zwingend eine geringere Intensität der Beziehung. Aber wenn sich diese intensiven Begegnungen mit anderen Menschen in immer schnellerer Folge wiederholen, werden sie repetitiv: Die Nachrichten wiederholen sich, man erzählt immer wieder dieselben Geschichten, weiß, wie man das Vertrauen des Gegenübers gewinnt, wie man Nähe aufbaut, Emotionen bei sich und anderen erzeugt. Aber so gerinnt Intimität immer mehr zu einer Rolle, die Menschen werden Masken ihrer selbst, die Dates ein sich immer wiederholendes Spiel, bei dem auch das Gegenüber zunehmend austauschbar erscheint. In dieser Transformation liegt die wohl größte Zerstörungskraft, die Online-Dating auf unser Liebesleben haben kann: Denn darin wird unser Erleben von Intimität selbst angegriffen und wandelt sich von einer ganz besonderen Erfahrung, die man nur mit wenigen Menschen im Leben teilt, zu einem in Routine erstarrten, repetitiven Muster mit austauschbaren Interaktionspartnern.
Diese zerstörerische Dynamik ist jedoch nicht zwingend. Aus den Kontakten im Netz können auch durchaus substanzielle und tiefe Beziehungen entstehen. Und ungeachtet der Schwierigkeiten gelingt es vielen Menschen, diese auch in die Offlinesphäre hinüberzuretten. Das Netz hat sich als ein neuer Ort der Anbahnung von Liebesbeziehungen fest etabliert. Wir werden mit den Chancen und Risiken leben lernen müssen.
Kai Dröge, geboren 1972 in Herdecke, promovierter Soziologe, Permanent Fellow am Institut für Sozialforschung, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Dozent und Projektleiter, Hochschule Luzern (Schweiz).
1 Bitkom: Zahlungsbereitschaft für Online-Dating steigt in der Pandemie, Ergebnis einer repräsentativen Befragung im Januar 2022, Berlin, 11.02.2022, www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/OnlineDating-Zahlungsbereitschaft-steigt-in-Pandemie [letzter Zugriff: 14.02.2022].