Mehr als die Hälfte (52 Prozent) der 14- bis 29-Jährigen nutzt regelmäßig TikTok! Für die Beratungsbranche Grund genug, der Politik zu empfehlen: „Da müssen Sie sein.“ Aber ist die Social-Media-Plattform nicht bereits an die AfD, an Bots und an die chinesischen und russischen Geheimdienste verloren? Bei TikTok handelt es sich um eine Videoplattform, auf der kurze Clips hochgeladen werden. Starten die Benutzer die App, beginnt sofort das erste Video. Ist das Video zu Ende, folgt automatisch das nächste. Danach das nächste und das nächste. Die angezeigten Videos stammen nicht zwangsläufig aus Kanälen, denen man „folgt“, sondern sie werden automatisiert vom Algorithmus ausgewählt und abgespielt. Dabei ist es auf der Plattform üblich, bestehende Videos mit neuen – eigenen – Videos zu kommentieren, mit sogenannten Stitches. Die notwendigen Werkzeuge zur Video-Editierung werden in der Regel in der App bereitgestellt.
Diese Beschreibung mag trivial klingen, bedingt aber einige Besonderheiten für die politische Kommunikation. Sie betreffen die Plattformstruktur und Algorithmen sowie die Nutzungspraxis – in der wissenschaftlichen Literatur zusammenfassend als Affordances bezeichnet. Diese Affordances haben einen Einfluss auf die Inhalte, die auf der Plattform „funktionieren“.
Die Plattformstruktur und die Algorithmen von TikTok zeichnen sich dadurch aus, dass Videos auch Nutzern angezeigt werden, die deren Urheber nicht folgen oder mit ihm „befreundet“ sind. Dies unterscheidet die Plattform von Instagram und Twitter/X, auf denen das unidirektionale „Folgen“ von Accounts üblich ist, oder von Facebook, wo bidirektionale Netzwerke als „Freundschaften“ angelegt werden können. Während auf Facebook, Instagram und Twitter/X in der Regel große Freunde- beziehungsweise Follower-Netzwerke notwendig sind, um große Reichweiten für einzelne Posts zu erzielen, können TikTok-Videos auch bei geringer Profil-Followeranzahl Viralität, das heißt eine große und schnelle Verbreitung, erzielen. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass die Plattform automatisiert Beiträge zeigt, die möglichst lange betrachtet und nicht weggeswipt wurden. Je mehr Nutzer ein Video bis zum Ende ansehen, desto mehr weiteren Nutzern wird das Video auf der Startseite im Stream angezeigt. Daraus lässt sich folgern, dass auf TikTok die Inhalte der Videos und deren Machart stärker „belohnt“ werden als das Aufbauen eines Follower-Netzwerks.
Reichweitenvorteile von politisch extremen Positionen nicht „naturgegeben“
Unsere Datenanalysen zeigen, dass viele Accounts der AfD hohe Followerzahlen aufweisen. Die Partei hat frühzeitig die Strategie ausgerufen, Social Media zu nutzen, um Gegenöffentlichkeiten aufzubauen. Gleichzeitig ist die Partei damit weniger stark auf journalistische Medienberichterstattung angewiesen. Die Affordances von TikTok legen aber wie bereits dargelegt nahe, dass das Aufbauen eines Netzwerks keine Voraussetzung für hohe Reichweiten der Videos auf TikTok ist. Der letzte Bundestagswahlkampf hat vielmehr gezeigt, dass TikTok, was die Reichweiten betrifft, nicht „naturgegeben“ eine Plattform für die AfD ist. Heidi Reichinnek, Spitzenkandidatin der Partei Die Linke, hat mit ihren Videos Millionen Zuschauer erreicht. Unsere Analysen zur Bundestagswahl und zur Europawahl zeigen ferner, dass auch Beiträge von Parteien aus der Mitte des politischen Spektrums größere Reichweiten erzielen können als diejenigen der politischen Extreme.
Daraus ergibt sich, dass sich demokratische Politiker und Parteien bei der Bewertung des Erfolgs digitaler Kommunikationsstrategien nicht von Followerzahlen allein beeindrucken lassen sollten. Zu leicht lassen sich diese auch künstlich in die Höhe treiben – am einfachsten zum Beispiel, indem eigene Anhänger mehrere Accounts anlegen (sogenannte Sockenpuppenaccounts) und mit jedem dieser Accounts folgen, liken und kommentieren. Aber auch der Kauf von Followern ist in der Vergangenheit öffentlich geworden.
Bisherige Studien zum statistischen Einfluss bestimmter Beitragsmerkmale auf das Engagement der User in verschiedenen Social-Media-Kanälen haben gezeigt, dass vor allem Personalisierung, Negativität, Emotionalisierung und Populismus zu einer höheren Anzahl von Views oder Likes führen können. Dies hat damit zu tun, dass auch Inhalte, die empören oder aufwühlen, zunächst die Aufmerksamkeit binden – insbesondere dann, wenn keine inhaltliche Übereinstimmung vorhanden ist. Durch die Sehdauer werden diese Inhalte dann trotzdem vom Algorithmus bevorzugt weiteren neuen Nutzern ausgespielt.
Personalisierung der Kommunikation
Aus der Eigenschaft, dass es sich bei TikTok um eine reine Videoplattform handelt, resultiert, dass sich Inhalte zuallererst in Videoform darstellen lassen müssen. Die Formate können vom aufgesagten Porträtvideo bis zur hollywoodreifen Produktion reichen. Personen lassen sich vergleichsweise gut visualisieren. Daher wird oftmals von einer Personalisierung der politischen Kommunikation auf Social Media ausgegangen, in deren Folge der Fokus immer weniger auf abstrakten Sachthemen liegt. Dies ist aber kein Nullsummenspiel. Sachthemen müssen nicht zwingend auf Kosten der Personalisierung aus der öffentlichen Kommunikation weichen. Wenn Personen mit Sachthemen verknüpft werden, kann gerade die Personalisierung politischer Botschaften für Parteien der demokratischen Mitte auf TikTok ein Weg sein, um große Reichweiten zu erzielen.
Die Nutzungspraxis von TikTok ist durch die gegenseitige Bezugnahme aufeinander in den Videos – zum Beispiel durch Stitches – gekennzeichnet. Auf Facebook, Instagram und Twitter/X stehen sogenannte Timelines im Zentrum der Startseite der App. Dort werden Posts vom Algorithmus entsprechend ihrer Aktualität und Wahrscheinlichkeit, die Aufmerksamkeit des Nutzers zu binden, priorisiert. Dadurch entsteht – besonders stark beispielsweise auf Twitter/X – der Charakter eines Newstickers. Auf TikTok hingegen ist die Aktualität durch die Kommentierung vorheriger Videos, Stitches, das Remixing sowie die De- und Rekontextualisierung zweitrangig. Dieser kommentierende Charakter kann inhaltliche Negativität begünstigen. So bevorzugt das Format zum Beispiel Kritik am politischen Gegner, indem in den Videokommentaren dessen Videos widersprochen wird.
Aus liberaldemokratischer Sicht erscheint es wenig zielführend, wenn Parteien der demokratischen Mitte übermäßig auf Negativität setzen. Aus bisherigen Studien wissen wir, dass Negative Campaigning die Aufmerksamkeit des Publikums zwar wecken kann, der Strategie aber das Risiko innewohnt, auf ihren Urheber zurückzufallen und im Saldo eine negative Gesamtwirkung zu entfalten. Es muss also abgewogen werden, in welcher Dosierung Aufmerksamkeit durch Negativität erzeugt werden soll. Auch der auf Social-Media-Plattformen mitunter funktionierende, gegen vermeintliche Eliten gerichtete Populismus kann für an echten Problemlösungen interessierte politische Akteure kein dauerhaftes Mittel sein.
Themensetzung entsprechend der eigenen Agenda
Unsere Analysen zur Bundestagswahl 2025 und zur Europawahl 2024 legen gleichwohl nahe, dass emotionalisierende Beiträge Aufmerksamkeit erzeugen können. Diese müssen nicht negativ oder populistisch sein. Lustige und ironische, aber auch bedrückende Posts von Parteien der demokratischen Mitte haben in den beiden untersuchten Wahlkämpfen mitunter höhere Reichweiten erzielt als Beiträge der AfD.
Schließlich stellt sich die Frage, ob es bestimmte Sachthemen gibt, die auf TikTok besonders gut „funktionieren“. Hier muss tendenziell zwischen den einzelnen Parteien differenziert werden. Die AfD setzt auf TikTok in ihren Posts am häufigsten auf das Thema Migration. Gleichzeitig erzielen Posts der AfD auf TikTok im Mittel ein hohes User-Engagement. Allerdings erzielen Posts der AfD, die das Thema Migration enthalten, auf der Plattform nicht überzufällig mehr User-Engagement – also Shares oder Likes. Auch die Anzahl der Views wird durch das Thema nicht signifikant gesteigert. Ausschlaggebender ist auch für die AfD die Personalisierung, die das User-Engagement immens erhöhen kann. Es wäre demnach ein Fehlschluss, aus dem TikTok-Erfolg der AfD zu schließen, man müsse auf der Plattform nur auf das Thema Migration setzen, um erfolgreich zu sein.
Parteien der demokratischen Mitte punkten laut unseren Daten mit Themen wie Außenpolitik oder Umwelt- und Energiepolitik. Sie sollten sich daher bei der Themensetzung auf Social Media weniger von den (vermeintlichen) Plattformdynamiken und stärker von der gesellschaftlichen (lebensnahen) Problemlage und ihrer eigenen Problemlösungskompetenz leiten lassen. Die Parteien können hier mutig ihre eigene Agenda setzen – nichts anderes tut die AfD.
Eine erfolgversprechende Kampagne auf TikTok ist daher eingebettet in die kommunikative Gesamtstrategie der Partei, betont Themen, bei denen der Partei eine hohe Problemlösungskompetenz zugeschrieben wird, personalisiert diese Themen in einem plattformtypischen Stil, setzt durchaus auch einmal auf kommentierende Spitzen und Emotionen und passt sich an die Nutzungspraxis der Plattform an – beispielsweise, indem sie kommentierende Stitches einsetzt, populäre Songs verwendet oder aktuelle Trends aufgreift.
Potenziale in den Jugendorganisationen
Zusammenfassend lässt sich aus dem kommunikationswissenschaftlichen Forschungsstand ableiten, dass sich vermeintliche Rückstände in Follower- und Aufmerksamkeitsrankings auf Social Media durch Berücksichtigung der Plattform-Affordances und der Nutzungspraxis aufholen lassen, wenn eigene Themen mit beliebtem Personal verknüpft auf der Plattform emotional dargestellt werden. Die Parteien der demokratischen Mitte verfügen dabei über den entscheidenden Vorteil, dass sie als vergleichsweise finanzstarke Parteien in weiten Teilen sogar einen Professionalisierungsvorsprung haben. Dies betrifft unter anderem die Kapazitäten und Ressourcen zur Herstellung professioneller Videos. Es sei hier nur darauf hingewiesen, dass zum Beispiel auf den Parteikanälen auf YouTube regelmäßig die offiziellen Wahlwerbespots, die ebenfalls im linearen Fernsehen ausgestrahlt werden, die größten Reichweiten erzielen. Diese Synergieeffekte können auch für TikTok genutzt werden. Dass die Parteien der demokratischen Mitte den Wettbewerb auf Social Media hoffnungslos verloren haben, erweist sich in der Gesamtschau somit als Klischee.
Dagegen ließe sich vielleicht einwenden, dass extreme Parteien durch ein besonderes Engagement des politischen Vorfelds, wie Jugendorganisationen oder Influencer, einen strategischen Vorteil auf Social Media hätten. Dem können allerdings die Mitgliedszahlen der Jugendorganisationen der Parteien der demokratischen Mitte entgegengehalten werden. In den mitgliederstarken Jugendorganisationen schlummert ein erhebliches Potenzial, politische Debatten auch digital auf „jungen Plattformen“ durch parteipolitische Lösungsvorschläge mitzugestalten. Parteinahe Influencer sind zudem längst auch in der demokratischen Mitte zu finden.
Zur Gesamtbeurteilung des Potenzials von TikTok gehört, dass es aufgrund mangelhafter Offenheit für Wissenschaft und Forschung und fehlender Transparenzregeln für die Funktionsweise des TikTok-Algorithmus für die Verwendung von Daten durch die Plattform und für staatliche Einflussnahmen lediglich Anhaltspunkte gibt und wenig gesicherte Erkenntnisse zugänglich sind. Daher ist unbedingt zu empfehlen, die App auf einem Gerät getrennt von sensiblen Daten zu verwenden. Wünschenswert ist deshalb, dass demokratische Parteien ihre digitalen Beiträge nicht auf geschlossene Plattformen aus den USA oder China begrenzen, sondern sie zumindest parallel in offenen Plattformen (aus der Europäischen Union) ausspielen.
So bleibt abschließend nur festzuhalten: Den Parteien schreibt das Parteiengesetz in Paragraf 1 die Aufgabe zu, dass sie unter anderem „auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss nehmen, die politische Bildung anregen und vertiefen [und] die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben fördern“ sollen. Es ist angezeigt, dass sie dies auch in digitalen (Teil-)Öffentlichkeiten tun. Besonders dort, wo junge Menschen ihre Zeit verbringen.
Jörg Haßler, geboren 1985 in Groß-Gerau, promovierter und habilitierter Kommunikationswissenschaftler, Leiter der Nachwuchsforschungsgruppe „Digital Democratic Mobilization in Hybrid Media Systems“ (DigiDeMo), Ludwig-Maximilians-Universität München.