Asset-Herausgeber

von Angelika Nußberger

Über Demokratie und Menschenrechte

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Ganz gleich, ob es die Verfassung von Ungarn, Usbekistan oder Deutschland ist – immer findet sich darin nicht nur die Selbstbeschreibung als Demokratie, sondern auch ein mehr oder weniger ausführlicher Katalog von Menschenrechten, der von der Gleichheit vor dem Gesetz bis zur Meinungs- und Versammlungsfreiheit alle historisch tradierten Menschenrechte einschließt. Dennoch ist „Demokratie“ nicht gleich „Demokratie“, sind die in die Verfassung aufgenommenen Rechte zunächst einmal nicht mehr als ein Versprechen. Werden beides, Demokratie und Menschenrechte, wirklich ernst genommen, stehen sie in einem Spannungsverhältnis zueinander. Immer von Neuem ist es nötig, bei schwierigen Konflikten einen Ausgleich zu finden. Und doch kann eine Demokratie ohne Menschenrechtsgarantien keine echte Demokratie sein.

Die Konflikte liegen auf der Hand. Angesichts der terroristischen Bedrohung wird die Forderung erhoben, „Gefährder“ einzusperren oder dann, wenn sie aus dem Ausland kommen, in ihre Heimatländer zurückzuführen. Es ließen sich leicht Mehrheiten für derartige Maßnahmen finden. Und doch mögen dem auf den Menschenrechten beruhende Bedenken entgegenstehen. Wie ist es, wenn den „Gefährdern“ nur eine Gesinnung, nicht aber eine Tat vorzuwerfen ist? Darf man sie auch dann schon ihrer Freiheit berauben? Darf man sie in Länder zurückschicken, in denen ihnen nachweislich Tod oder Folter droht? Könnte die Mehrheit – und sei es um der eigenen Sicherheit willen – über derartige Bedenken einfach hinweggehen?

Mehrheitenmeinung und Gesetze

Dieser Grundkonflikt zeigt sich in vielen Variationen. In den 1990er-Jahren hat eine Mehrheit des Bundestags, aufgewühlt durch schreckliche Verbrechen, unter dem Slogan „Einsperren für immer“ beschlossen, nicht nur Täter hinter Schloss und Riegel zu bringen, sondern auch bereits Verurteilte, deren zeitige Freiheitsstrafe abgelaufen wäre, rückwirkend in Sicherungsverwahrung zu nehmen. Anders als in den ursprünglichen Urteilen festgelegt, sollte die Gefängnistür für sie nicht mehr zum vereinbarten Zeitpunkt aufgesperrt werden. Die Sicherheit der Mehrheit wurde gegen die Freiheit einiger weniger abgewogen. Die Mehrheit entschied. Aber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Bundesverfassungsgericht setzten sich mit dem Verdikt „menschenrechtswidrig“ zur Wehr. Nicht alles, was eine Mehrheit wünscht und in Gesetzen festschreibt, ist auch „Recht“. Sicherlich gilt es, die Allgemeinheit vor Verbrechen zu schützen. Sicherlich darf man Menschen, die geisteskrank sind und nicht verstehen können, was sie tun, einsperren, aber eben nicht in Gefängnisse, sondern in Heime. Sind sie aber nicht in ihrer Einsichtsfähigkeit eingeschränkt und endet die für ihre Taten verhängte Strafe, kann der Staat sie nicht ein zweites Mal aburteilen. „Ne bis in idem“ – nicht zweimal in derselben Sache – ist ein weit in die Geschichte zurückreichender Grundsatz von Rechtsstaatlichkeit, umgeformt in ein dem Einzelnen zustehendes subjektives Recht. Eine Mehrheitsentscheidung, die darüber hinweggeht, hat den Ausgangspunkt staatlichen Entscheidens aus den Augen verloren. Die Rechte von Individuum und Gesellschaft sind miteinander in Ausgleich zu bringen. Weder erstere noch letztere sind absolut zu setzen. Allerdings liegen die Lösungen bei Konfliktfällen zwischen unterschiedlichen Interessen und Rechten zumeist nicht auf der Hand.

In aller Regel sind die Formulierungen von Menschenrechtsverbürgungen vage, offen und daher verschiedenen Auslegungen zugänglich, da sie andernfalls nicht universell Zustimmung finden würden. Jeder hat ein Recht auf „freie Entfaltung der Persönlichkeit“, auf „Meinungsfreiheit“, „Religionsfreiheit“. Ja, sicher, niemand wird dem widersprechen. Aber bedeutet das auch, auf öffentlichen Plätzen eine Burka tragen zu dürfen, Heilige zu karikieren, sich über sie lustig zu machen? Den eigenen Kindern den Schulbesuch zu verbieten? Das mag man sicherlich unterschiedlich beurteilen. Niemand widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz. Aber was ist gleich? Sind eine homosexuelle Partnerschaft und eine Ehe gleich? Sind Frauen und Männer gleich? Oder sind sie nicht gerade aufgrund tradierter Vorurteile und Voreingenommenheiten so verschieden, dass sie der zusätzlichen Förderung bedürfen und eine Gleichbehandlung zu noch mehr Ungleichheit führen würde?

In einer echten Demokratie werden derartige Fragen offen diskutiert. Sie lassen sich unter verschiedenen Perspektiven beleuchten. Der politische Diskurs und der Rechtsdiskurs verschränken sich ineinander.

Politische Parteien geben sich Programme, um Wähler zu gewinnen, die ihre Ansichten teilen. Dabei geht es nicht um „richtig“ oder „falsch“. Anders als vielleicht noch im 19. Jahrhundert lässt sich auch nicht einfach auf einem Schaltbrett ein Regler von einem mit „mehr Staat, mehr Gleichheit“ markierten Pol bis zu dem entgegengesetzten Pol, auf dem „weniger Staat, mehr Freiheit“ geschrieben steht, ziehen. Die Gegenwart ist zu komplex. Einfache Richtungsbestimmungen wie „links-rechts“ oder Farbspiele wie „schwarz-rot-gelb-grün-braun“ vermögen die unterschiedlichen Überzeugungen nicht mehr klar nachzuzeichnen. Die Politik positioniert sich in einem Feld von möglichen Gestaltungsformen, muss sich positionieren, um demokratischen Wählern Alternativen anzubieten.

Unscharfe Grenzen zwischen Politik und Recht

Der politische Diskurs wird aber vom rechtlichen Diskurs überlagert, der, basierend auf den Grund- und Menschenrechten, nicht nach der Zweckmäßigkeit, sondern nach der Rechtmäßigkeit fragt, nicht nach dem Gewünschten, sondern nach dem Erlaubten. Nur sind die Grenzen zwischen Politik und Recht nicht so trennscharf gezogen, wie es vielleicht wünschenswert wäre. Einerseits proklamiert man „Menschenrechte“, die nach dem Pathos der Französischen Revolution für alle Zeiten und für alle Völker gelten. Andererseits bestreitet niemand, dass das Verständnis und die Auslegung der Menschenrechte in den 1940erund 1950er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als Grundgesetz und Europäische Menschenrechtskonvention geschrieben wurden, nicht dem Verständnis und der Auslegung in der Gegenwart entsprechen. Auch wenn der Wortlaut der entsprechenden Rechtsverbürgungen nie geändert wurde, zeigen doch Stichworte wie „Erbrecht unehelicher Kinder“, „Prügelstrafe“, „gleichgeschlechtliche Partnerschaft“, dass in denselben Rahmen verschiedene Inhalte passen. So wird die Rechtsprechung zu Menschenrechten selbst zu einer Variablen in der Politik, indem sie dem politisch Erlaubten Schranken zieht, diese Schranken aber fortlaufend ändert.

Dies ist das Dilemma im Verhältnis zwischen Demokratie und Menschenrechten. Die Demokratie braucht die Menschenrechte, um sich nicht selbst zu verraten, um sich nicht in eine Mehrheitsdiktatur zu verwandeln. Zugleich wohnt der Menschenrechtsrechtsprechung eine innere Dynamik inne, die dazu führt, dass weit mehr als nur grundlegende, allgemein konsentierte Postulate eingefordert werden, dass der Raum des Politischen rechtlich immer weiter eingegrenzt wird. Berlin hat entschieden, und doch ist es nicht das letzte Wort. Bevor eine Lösung als tatsächliche Lösung anerkannt wird, gilt es erst noch, die Stimme aus Karlsruhe, möglicherweise auch aus Luxemburg oder Straßburg abzuwarten.

Dies zeigt sich in der Gegenwart insbesondere bei ethisch-moralischen Grundentscheidungen, die von Verfassungsnormen und Grundrechtsbestimmungen kaum konturiert werden. So wird ein „Recht auf Leben“ statuiert, nicht aber bestimmt, wann das Leben beginnt und wann es endet. Gerade dies aber sind die relevanten Fragen, geht es um die Zulässigkeit von Sterbehilfe, lebensverlängernde Maßnahmen oder Abtreibung, Themen, zu denen Einstellungen als „progressiv“ oder „konservativ“ gelten und damit politischen Parteien Profil geben können. Ähnliches gilt für Fragen, die neueste Entwicklungen in der Wissenschaft aufwerfen, insbesondere etwa im Bereich von Genetik und Fortpflanzungsmedizin.

Schmährufe gegen Richter

Richter sind verpflichtet, Antworten zu geben, wenn Beschwerden an sie herangetragen werden, gleich ob sie von wirklich Bedrängten kommen oder politisch instrumentalisiert sind. Gerichtsentscheidungen können in den politischen Diskurs auch dann korrigierend eingreifen, wenn über die Notwendigkeit der Korrektur keine Einigkeit besteht. Auch an Gerichten wird mit Mehrheiten entschieden, woran ersichtlich wird, dass nicht immer nur eine Lösung „richtig“ ist, sondern vielmehr verschiedene Positionen gut begründbar sind. Gerade dies aber ist die Besonderheit des politischen Diskurses; Rechtsdiskurs und politischer Diskurs scheinen so, zumindest für den beobachtenden Bürger, kaum mehr abgrenzbar.

Nur ein Unterschied ist offensichtlich: Richterinnen und Richter können nicht demokratisch zur Rechenschaft gezogen und abgewählt werden. Für die Dauer ihres Mandats scheinen sie nahezu „sakrosankt“, und dies auch dann, wenn ihre Argumentationen nicht überzeugen. Zwar sitzt der Verfassungsgeber theoretisch am längeren Hebel und kann Bestimmungen des Grundgesetzes ändern; auch völkerrechtliche Verträge sind nicht in Stein gemeißelt. Aber wie wollte man sich gegen eine Auslegung zur Wehr setzen, die auf der Menschenwürde oder dem Recht auf Leben beruht? Wie wollte man hier einer weiten, auch einer als zu weit empfundenen Auslegung entgegentreten?

Fällen Gerichte jedes Jahr Tausende von Entscheidungen mit weitreichenden Auswirkungen, wird Kritik unvermeidbar sein. Für die einen geht die Auslegung der Menschenrechte nicht weit genug und bietet nicht genügend Schutz, für die anderen wird das System überstrapaziert. Dies mag Schmährufe gegen die „nicht demokratisch legitimierten Richter“ erklären, denen insbesondere der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausgesetzt ist – man denke etwa an die britische Presse –, mit denen aber auch das Bundesverfassungsgericht etwa beim Streit um das Kruzifix im Klassenzimmer unliebsame Erfahrungen gemacht hat.

Immerwährende Herausforderung

All dies bedeutet aber nicht, dass Gesellschaft und Staat neu zu erfinden wären, da in einer auf Menschenrechten aufbauenden Demokratie die Rechtsprechung den Gesetzgeber immer unbotmäßig einengen würde. Ganz im Gegenteil – ein besseres Modell ist nicht in Sichtweite. Nur machen die Spannungen deutlich, dass eine freiheitliche Demokratie nicht nur ein Wagnis, sondern auch eine immerwährende Herausforderung ist.

Immer dann, wenn in Diktaturen Gesellschaften gegen die Wand gefahren waren, wenn nach der Herrschaft „mit harter Hand“ deutlich wurde, dass der Schaden (fast) aller dem Nutzen nur sehr weniger gegenüberstand, wurde der Ruf nach Demokratie und Menschenrechten laut, wie die historische Erfahrung nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zeigt. Um diesem Ruf nachzukommen, genügt es aber nicht, ein vorgefertigtes Modell zu übernehmen und einen schönen Verfassungstext zu schreiben, wie dies in vielen „jungen Demokratien“ geschehen ist, in denen die Versprechen von Demokratie und Menschenrechten nichts als Lippenbekenntnisse sind.

Vielmehr ist es nicht nur notwendig, sondern unverzichtbar, die Rechte auch mit Leben zu füllen und unabhängigen Institutionen den Auftrag zu erteilen, für sie einzustehen. Mehrheiten müssen ebenso ernst genommen werden wie der Einzelne. Vor allem aber gilt es, immer und immer wieder das sehr feinteilige und störanfällige Modell „Demokratie“ nachzujustieren, zu verbessern, Fehlentwicklungen Rechnung zu tragen. Dies darf aber nicht in zerstörerischer Absicht mit dem Hammer oder dem Stemmeisen geschehen, nicht, indem – wie gegenwärtig in einer Reihe von europäischen Staaten – missliebige Institutionen geschwächt, abgeschafft oder ausgeschaltet, Rechte eingeschränkt oder negiert werden. Vielmehr gilt es zu sehen, dass Demokratie und Menschenrechte auf zwei Waagschalen liegen und immer neu gegeneinander ausbalanciert werden müssen. Leert man eine der Waagschalen, wird sie nach oben schnellen und das gemeinsame Ganze wird aus dem Lot geraten.

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Angelika Nußberger, geboren 1963 in München, Professorin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, Richterin und Vizepräsidentin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

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