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Berlin - Kontinuität im Wandel

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Den schönsten Blick auf Berlin hat man – bei passender Windrichtung und einem gut gewählten Fensterplatz – beim nächtlichen Anflug auf den Flughafen Tegel: Dann schwebt die Maschine in weitem Bogen von Süden über den östlichen Stadtrand, beschreibt eine Kurve nach Westen, sodass eine ganze Weile Berlins Mitte in den Blick kommt. Gewaltig erstreckt sich die Stadt, aber doch nicht endlos wie London oder New York oder Tokio. Ihre Grenzen bleiben – in Lichterpunkten gemessen – überraschend scharf gezogen. Berlin ist Berlin, und die Siedlungsgrenze fällt schroff ab wie ein Kliff gegen die ländliche, fast leere Umgebung, statt sich in undefinierbaren Übergängen zu verlieren. Keine Insel mehr und doch viel mehr Insel als die Île-de-France, als Greater London oder die amorphe suburbane Landschaft rings um die amerikanische Hauptstadt Washington. Das ist eines der historischen Merkmale Berlins, die sich durch alle Extreme und politischen Wechsel des 20. Jahrhunderts hinweg erhalten haben.

Die Teilung, die Einmauerung über achtundzwanzig Jahre hinweg hat diese Radikalität der Weichbildgrenze noch verstärkt, besonders da, wo noch der letzte Hektar West-Berliner Territoriums in den 1960erund 1970er-Jahren hart an die Grenze zur DDR heran bebaut wurde und wo auf der anderen Seite bloß braches Land lag, oft in Gestalt der ehemaligen Rieselfelder. Fast genauso lange, wie sie stand, ist die Mauer nun schon gefallen, aber die kompakten Grenzen des städtischen Organismus bleiben an vielen Stellen auf Anhieb erkennbar, der Ausdehnung des „Speckgürtels“ zum Trotz, von dem schon Anfang der 1990er-Jahre die Rede war. Berlin bleibt das überraschende Ereignis im märkischen Sand, das zwischen Kiefern und Birken, Seen und Flüssen auf einmal da ist. Auch wenn man sich der Stadt nicht aus der Luft nähert, sondern auf der Schiene oder der Straße, erfährt man das hautnah, aus welcher Richtung auch immer. Die nächste Großstadt ist in jedem Fall weit entfernt. Berlin ist wieder deutsche Hauptstadt geworden und auf bemerkenswerte Weise mehr als nur politisches Zentrum des wiedervereinigten Deutschlands – und bleibt doch exzentrisch, nicht nur im geografischen Sinne.

Nach dem Mauerfall hieß es euphorisch, nun werde die Stadt bald wieder wachsen, wieder Magnet sein können wie in der Sturm-und-Drang-Periode des Kaiserreichs. Die Bevölkerung werde den alten Höchststand von 4,3 Millionen bald erreichen und womöglich übertreffen. Stattdessen hat es über zweieinhalb Jahrzehnte hinweg nur bescheidenes Wachstum gegeben, selbst unter Einschluss des Brandenburger Umlandes gerechnet. Alle kommen nach Berlin, aber nicht alle bleiben dort – die Stadt ist Durchgangsstation und Umschlagplatz wie früher. Erst in den letzten Jahren ist eine rasantere demografische Dynamik spürbar, durch neue Wellen der Migration, auch durch Flüchtlinge. Mancher Berliner erschrickt und fragt sich, wo so viele Menschen leben sollen. Sie sind, auf seltsam gespaltene Weise, zwar stolz auf Dichte, auf Urbanität, auf das steinerne Berlin, wie es der Bauboom der Gründerzeit und der Wilhelminischen Ära aus Abermillionen Ziegelsteinen in den Brennöfen des Umlandes erzeugt hat – und doch angstvoll angesichts der urbanen Überwältigung, wie es ein Bewohner Londons, New Yorks oder Tokios nie sein könnte.

 

Biotope und Brachen

Die Stadt ist voll von Bäumen, die ihr jedes Jahr, auch ohne dass man einen einzigen neuen pflanzt, gewaltige Biomasse hinzufügen, und doch ist die Sorge groß, jeder gefällte Baum könnte der letzte gewesen sein. Jedes endlich bebaute Brachgrundstück ist Verheißung und erscheint zugleich wie eine Attacke auf die grüne Lebensqualität der Stadt. Berlin: 3,5 Millionen Menschen auf 830 Quadratkilometern; New York: 8,4 Millionen auf 790 Quadratkilometern; jeweils ohne die Wasserflächen des Stadtgebietes. Ein Vierteljahrhundert nach der Vereinigung beider Stadthälften, nach dem Ende eines Dornröschenschlafs in weiten Gebieten nicht nur West-Berlins, sondern auch der „Hauptstadt der DDR“, staunt man immer noch täglich: Schon wieder eine Lücke verschwunden! War hier nicht der Mauerstreifen, dort ein altes Trümmergrundstück, und stand da drüben nicht einer jener flachen Behelfsbauten der Nachkriegszeit, in denen sich fast immer eine Woolworth-Filiale fand? Verschwunden und ersetzt durch ewig gleich aussehende Neubauten auf Berliner Traufhöhe. Und im nächsten Moment: noch ein Brachgrundstück, noch eine Freifläche, ein längst nicht mehr benötigtes Bahngelände, das einem vorher nie aufgefallen war. Berlin scheint solches Gelände auf geheimnisvolle Weise ebenso neu zu produzieren wie gierig zu verbrauchen.

Zoomt man sich in die Stadt hinein, gilt das Gleiche: Alles ist anders, und doch ist das meiste so geblieben, wie es war. Oder dauert die Veränderung einfach nur viel länger, als man erwartet hatte? Da, wo sie schnell gekommen ist, vor allem in der alten und neuen Mitte, im Regierungsviertel, um Friedrichstraße und Gendarmenmarkt herum, ist sie längst zur Normalität geworden. Und da geht es den Berlinern wie anderen blasierten Hauptstädtern: Gelegentlich wundern sie sich, was all die anderen Menschen hier machen und warum sie bestaunen und fotografieren, worin man sich ganz alltäglich bewegt. Im nächsten Moment staunt man selber zwischen Bahnhof Zoo und Gedächtniskirche: Tatsächlich, ein Hochhaus mit mehr als zwölf Stockwerken! Ein veränderter Straßenverlauf, eine neue Perspektive – vor Kurzem hatte es noch, Mauerfall hin oder her, genauso ausgesehen, wie man es von der pflichtgemäßen Berlin-Exkursion in den 1970er-Jahren in Erinnerung hatte. Manche Stadtbezirke sind umgekrempelt worden, ganz besonders im Osten, an erster Stelle Prenzlauer Berg, das in diesem Wandel schon zum Klischee geworden ist.

 

Ist in Lankwitz die Mauer gefallen?

Anderswo, nicht zuletzt in der Tiefe der West-Berliner Peripherien, herrscht Kontinuität, als sei nichts gewesen. Ist in Lankwitz die Mauer gefallen? Oder die subtilere und besonders Berlin-typische Form der Kontinuität im Wandel, für die Schöneberg ein gutes Beispiel ist. Ständige Veränderung: Araber statt Türken, Galerien statt Döner-Buden, Bürger statt Studenten. Und doch sind die Mischungsverhältnisse ähnlich geblieben, die Überlagerungen, die Kleinräumigkeit der sozialen Felder, die charakteristisch für Berlin ist: Nur eine Straßenecke weiter hat die Stadt ein anderes Gepräge. Boheme, Kleinbürgertum und migrantische Milieus stoßen unmittelbar aufeinander, wie einst in der „Kreuzberger Mischung“ von Gewerbe und Wohnen. Das bleibt eine gute Versicherung gegen großflächige Ghettobildung, unter der Berlin kaum irgendwo leidet. Die Gentrifizierung wird allenthalben beklagt, aber sie hält die Stadt auch in Bewegung, und aus Berliner Perspektive drohte manchmal schon eine Luxussanierung, wenn die Toiletten vom Treppenabsatz in die Wohnung verlegt und richtige Bäder eingebaut werden sollten. Die Teilungsstarre hatte die Wohnverhältnisse in beiden Teilen Berlins, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, oftmals auf dem Niveau der Zwischenkriegszeit eingefroren.

Damit ist es nun vorbei. Im neuen Berlin sind die besonderen sozialen Schutzzonen nicht nur des Sozialismus, sondern auch der Subventionsstadt aufgebrochen. In ihren sozialen Topografien sortiert die Hauptstadt sich marktlicher, kapitalistischer, bleibt jedoch von amerikanischen oder französischen Verhältnissen, ja sogar von der Segregation westdeutscher Städte wie Hamburg oder München weit entfernt. Nicht nur das Geld, sondern auch die kulturelle Zuordnung und das Lebensgefühl spielen eine wichtige Rolle, und je nachdem orientieren sich das Bürgertum und die Besserverdienenden nach Zehlendorf oder Prenzlauer Berg, ja sogar nach Kreuzberg. Aus der prekären, im Osten sogar dramatischen ökonomischen Lage im Jahrzehnt nach der Vereinigung hat sich Berlin befreit, aber es bleibt ein eigentümlicher Zustand, dass die Hauptstadtregion das Gegenteil des prosperierenden Zentrums eines der wohlhabendsten Staaten der westlichen Welt ist, das Gegenteil also von der Stellung, die London, Paris oder Washington ökonomisch für ihre jeweilige Nation haben. Die Armut Berlins wirkt paradox: Sie lässt soziale Probleme, etwa auf dem Wohnungsmarkt, schärfer hervortreten, entschärft sie aber zugleich, denn gemessen an anderen Metropolen ist das Leben günstig geblieben. Die Nischen sind teilweise verdrängt worden oder gewandert, aber nicht verschwunden.

 

Migrantenstadt Berlin

So hat sich Berlin als eine offene Stadt wiedergefunden, nicht nur weil Einmauerung und Diktatur bloß noch ferne Erinnerungen sind. Die Zugezogenen scheinen überall zu dominieren. Türkei in Kreuzberg und Vietnam in Lichtenberg – das gibt es noch, aber auch Schwaben in Prenzlauer Berg und Rheinländer in Wilmersdorf. Auch darin stellt sich ein älteres Gefüge der Migrantenstadt Berlin des 19. Jahrhunderts wieder her und wird neu interpretiert: Araber, Afrikaner, Spanier, Amerikaner – quer durch die Welt und auch quer durch die sozialen Schichten. Das neue Berlin kultiviert seine Vielfalt und seine Toleranz, seine Zivilität und Offenheit. Aber das ist nicht nur soziale Utopie oder soziale Romantik, sondern unterscheidet die deutsche Hauptstadt von ihrer eigenen Vergangenheit ebenso wie von anderen globalen Offenheit und Obsessionen, Metropolen. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert ist die Kapitale der preußischen Monarchie nicht zuletzt Militärstadt gewesen. Uniformen und Waffen auf den Straßen gehörten zu ihr dazu, im Kaiserreich, in der NS-Zeit und unter alliierter Besatzung. Die Spuren davon sind in nur zwei Jahrzehnten beinahe ganz verschwunden. Auch der neue Terror hat der Stadt bisher erstaunlich wenig anhaben können. Wo sonst gibt es so wenig Angst, so lässig-zivile Polizisten, so wenig Überwachungskameras wie in Berlin? Sogar die Zugänge zu den Bahnsteigen des öffentlichen Nahverkehrs bleiben ohne Barrieren und Drehkreuze, die sich nur mit Magnetkarte öffnen ließen. Was in nahezu jeder Metropole der Welt selbstverständlich ist, ist für die Berliner unvorstellbar.

 

„Tempelhofer Freiheit“

Die Kehrseite der Offenheit ist die manchmal obsessive Angst vor Übermächtigung und Veränderung. Wenn die Veränderung im Kleinen daherkommt, mag sie akzeptiert werden – aber als politisch betriebenes Projekt will man davon lieber nichts wissen, und woran auch immer sich der Geruch eines elitären Großvorhabens heftet, ist schon im Voraus gescheitert. Gleich zweimal galt das nach dem Mauerfall für die Olympiabewerbung. Beim Tempelhof-Volksentscheid von 2014 funktionierten die Reflexe des fundamentalistischen Rigorismus besonders gut: keine Kompromisse, hundert Prozent, nicht einmal eine Bibliothek am Rande der riesigen Fläche, und alles andere wird zum Frontalangriff auf die Demokratie. „Tempelhofer Freiheit“: Diese semantische Codierung zwischen Provinzialität und dem allergrößten Ganzen verrät etwas über die Unsicherheit des neuen Berlins, über die noch nicht bewältigten Beschädigungen und Traumatisierungen seiner Freiheit. Aber auch das kann die Stadt aushalten, zu deren Gelassenheit es ebenso gehört, dass sie den großen Zusammenstoß zwischen Protestbürgern und repräsentativer Demokratie vermeidet. Im Gegenteil, die politischen Kämpfe haben sich beruhigt, und Liberalität als Prinzip hat sich, in jeder Hinsicht, nicht schlecht behauptet. Auch darin ist Berlin zugleich neu geworden und alt geblieben.

 

Paul Nolte, geboren 1963 in Geldern, Historiker, Publizist, Professor für Neuere Geschichte / Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin.

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