Es ist nicht vorbei, bevor es vorüber ist, lautet eine beliebte amerikanische Redewendung. Mit der Grand Old Party ist es so weit gekommen, dass sie hoffen muss, weder Donald Trump noch Ted Cruz würden schon vor der National Convention eine Mehrheit der Delegierten gewinnen – und die Demokraten stehen kaum besser da. Das Ganze betrifft uns freilich mehr, als eine von Asterix inspirierte Berichterstattung („Die spinnen, die …“) erkennen lässt. Zum einen zeigt die internationale Lage, was es bedeutet, wenn das „unverzichtbare Land“ mit sich selbst beschäftigt ist, zum anderen aber demonstriert nicht erst dieser Vorwahlkampf, dass schlichte Rezepte, die uns unter der Parole „mehr Demokratie“ empfohlen werden, keineswegs zur Milderung populistischer Fieberanfälle taugen, sondern diese erst richtig entfachen.
Vorbei sind jedenfalls die Zeiten, in denen die meisten republikanischen Senatoren liberaler waren als die Demokraten, während deren „Blue Dogs“ ihre Partei auf gemäßigtem Kurs hielten und Kompromisse zwischen den beiden Parteien organisierten. Nach jeder der drei vergangenen Wahlen zogen aber nur noch halb so viele Blue Dogs in das Repräsentantenhaus ein als zuvor. In Iowa, dem Staat, der ein riesiges Maisfeld ist, war diesmal nichts von Ethanol, aber viel von Gott zu hören. Der schrill agitatorische Fernsehsender MSNBC auf der einen und die nur wenig informativeren Fox-News auf der anderen Seite bestimmen den Diskussionsstil, und schließlich herrscht ein gegen jedes Establishment gerichteter Furor, der Erfahrung schon als solche der Korruption verdächtigt. Dass nun Hillary Clinton, die alles verkörpert, worauf diese Kritik zielt, es mit dem kalkuliert vulgären Donald Trump und mit dem selbsternannten Sozialisten Bernie Sanders zu tun bekommt, scheint das Bild abzurunden.
So sehr sich aber diese beiden Protektionisten gleichen, weil sie je eine der beiden Seiten des Populismus vertreten, die in der amerikanischen Politik von William Jennings Bryan bis Huey Long immer wieder virulent geworden sind, wirft ihr Erfolg doch zunächst Fragen nach den Institutionen auf. Wie konnte Sanders sich um die Nominierung zum Kandidaten der Demokratischen Partei bewerben, bevor er sich selbst erstmals als Demokrat registrieren ließ, und wie konnte Trump, der seine Registrierung schon mehrfach gewechselt hat und dabei sowohl als Kandidat einer „Reformpartei“ wie auch als Demokrat und Unterstützer Hillary Clintons auftrat, sich bei den Republikanern in den Vordergrund drängen? Die Antwort auf solche Fragen lautet: Die Wehrlosigkeit amerikanischer Parteien ist das Ergebnis von Regelungen, die das Verfahren der Präsidentenwahl nach und nach in Richtung direkter Demokratie umgebogen haben.
Calvinismus ohne Erbsünde
Da sich dieses Wahlverfahren in dem Verfassungskonvent von Philadelphia als der schwierigste Streitpunkt erwiesen hatte, einigte man sich nur auf die indirekte Wahl durch Repräsentanten, die sogenannten Wahlmänner, während alles Weitere den einzelnen Staaten überlassen blieb. So dauerte es einige Jahrzehnte, bis schließlich überall am gleichen Tag, wenn auch getrennt nach Staaten, in allgemeinen Wahlen über einheitliche Vorschlagslisten abgestimmt wurde, weshalb Demokraten und Republikaner seit Mitte des 19. Jahrhunderts solche Tickets auf National Conventions verabschieden. Daher musste auch geklärt werden, wer dazu wie viele Delegierte auf welche Weise benennen durfte. Während aber im Falle der Verfassung die Federalists mit ihrer Betonung von Repräsentation und Wettbewerb die Oberhand behielten, setzte sich nun die entgegengesetzte amerikanische Tradition, der Glaube an die unbegrenzte Urteilsfähigkeit des gemeinen Mannes, der Calvinismus ohne Erbsünde, durch. Dem entsprach zunächst der Caucus: Wer sich als Wähler der betreffenden Partei registrieren ließ, kann sich in einer Turnhalle oder einem Feuerwehrhaus nach ausgiebiger Beratung daran beteiligen, denjenigen zum Delegierten zu küren, der erläutert hat, für welchen Kandidaten er auf dem Parteitag stimmen werde. Erst wenn ein zweiter Wahlgang nötig werden sollte, wird ein solcher Delegierter zum Repräsentanten, der an sein Versprechen, sein pledge, nicht mehr gebunden ist. Dieses Caucus-System bewährte sich, solange man in dem ländlich-kleinstädtischen Amerika seine Nachbarn kannte, auch wenn deren Farm einige Meilen entfernt war.
Doch im vergangenen Jahrhundert folgten zwei wesentliche Änderungen. Die eine reagierte auf die sogenannten Parteimaschinen, die in den Großstädten der Ostküste den Tausch von Wählerstimmen gegen Patronage etablierten, weshalb bald, etwa in New York, fast alle Politiker der Demokratischen Partei ebenso wie die städtischen Polizisten irische Namen hatten. So entstand der Ruf nach Reform, in diesem Falle danach, die Delegierten in Urnenwahlen bestimmen zu lassen, um dem System der verräucherten Hinterzimmer, wie es nun hieß, die Grundlagen zu entziehen. Neben den Caucus trat daher seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts zunehmend die anonyme Form der Primaries, die später durch Briefwahl auch noch von der lästigen Bindung an einen Termin befreit wurde. In beiden Fällen spielen Parteimitglieder keine Rolle, denn maßgeblich ist nur die Bekundung, diesmal den Präsidentschaftskandidaten der betreffenden Partei wählen zu wollen, und die Zahl der Delegierten ergibt sich nicht aus jener der Mitglieder eines Parteiverbandes, sondern aus dem politischen Output: Hat der jeweilige Staat zuletzt für das Ticket dieser Partei gestimmt und wie viele ihrer Kandidaten hat er nach Washington geschickt? Vor allem aber verleihen diese Verfahren den Engagierten und Organisierten aller Art ein übermäßiges Gewicht.
Sicherheitsmechanismus „Superdelegates“
Darauf wiederum reagierten die Demokraten nach ihrem tumultuösen Chicagoer Parteitag von 1968. Zusätzlich zu den aus Caucus oder Primary hervorgegangenen Delegierten, die pledged, also auf einen Kandidaten festgelegt waren, wurde eine weitere Kategorie von Delegierten eingeführt, die nicht gewählt, sondern ernannt sind und in ihrer Entscheidung frei bleiben. Bei diesen nicht festgelegten sogenannten Superdelegates handelt es sich um aktive oder ehemalige Amtsinhaber wie Gouverneure oder Senatoren, denen man eine pragmatisch-unideologische Tendenz unterstellt. Die Demokraten, die jedenfalls früher radikale Bewegungen mit charismatischen Anführern mehr fürchten mussten als die Republikaner, verstärkten diese Gruppe immer mehr, indem sie zuletzt etwa alle Demokraten im Kongress zu Superdelegates erklärten. Auf dem Nominierungsparteitag der Demokraten im Juli 2016 werden gut zwanzig Prozent der fast 5.000 Stimmberechtigten solche Superdelegates sein, während bei den Republikanern weit weniger Delegierte diesen privilegierten Status genießen.
Hillary Clinton und das Establishment ihrer Partei können daher aufatmen. In South Carolina und in weiteren Staaten mit einem ähnlich hohen Anteil schwarzer Wähler erfüllten diese die Erwartungen, und dort, wo Hillary Clinton sich oft nur knapp gegen Sanders durchsetzte, funktionierte der Sicherheitsmechanismus der Superdelegates. Die Führung der Republikaner hingegen, wenn es denn eine solche gibt, ist ihre Sorgen noch nicht los. Trump bleibt zwar trotz des immer offenkundigeren Missverhältnisses zwischen Lautstärke und Substanz stark, denn was viele abstößt, macht ihn zum Favoriten der deutlich hervortretenden Gruppe der geringqualifizierten weißen Männer, die sich in jeder Hinsicht abgehängt fühlen, und diese Klientel gibt es fast überall. Doch setzt die übermächtige mediale Präsenz Trumps, der sogenannte publizistische Krawallfaktor, vorerst alle sonstigen Regelmäßigkeiten außer Kraft. So hätte man „unter normalen Verhältnissen“ erwarten dürfen, dass Cruz, der die evangelikalen Wähler nicht nur aus taktischen Erwägungen zu seiner Zielgruppe gemacht hat, sich außerhalb des südlichen Bible Belts schwertun werde. Inzwischen sind Stimmen für Cruz zwar die einzige Möglichkeit, Trump noch kurz vor dem Ziel zu stoppen, doch eine Mehrheit derer, die in diesem Sinne taktisch wählen, erklärt zugleich in Umfragen, in den allgemeinen Wahlen weder für Trump noch für Cruz stimmen zu wollen.
Nolens volens Hillary?
So kommt nun tatsächlich alles darauf an, ob das Rennen bis zur Convention im Juli offenbleibt. Anders, als man es oft lesen und hören kann, werden dann aber Trump und Cruz keineswegs in einer Stichwahl die Sache unter sich entscheiden. Die Delegierten sind aus gutem Grund nur auf ihren Kandidaten festgelegt, falls er im ersten Wahlgang eine Mehrheit erzielt. Wenn nicht, ist alles wieder offen, und die Fragen, wen man einer Mehrheit der Bevölkerung präsentieren kann oder wofür die Partei immer noch steht, können wieder eine Rolle spielen. Dass Trumps Anhänger dies als undemokratisch bezeichnen werden und dass er mit einer Kandidatur als Unabhängiger drohen wird, falls man ihm die Kandidatur „stiehlt“, wie er jetzt schon unkt, ist absehbar. Es ist keineswegs ausgemacht, wem Trump, der sich auf viele ehemalige Wähler der Demokraten und bisherige Nichtwähler stützt, in diesem Falle wirklich schaden würde. Jedenfalls könnten Elder Statesmen der Republikaner ein neues Ticket präsentieren. In solchen Spekulationen wird noch nicht berücksichtigt, dass auch bei den Demokraten, trotz aller Vorentscheidungen zugunsten Hillary Clintons oder gerade deswegen, eine ähnlich unerwartete Lage eintreten könnte, sei es, dass sie immer schlechter abschneidet oder neue Enthüllungen, etwa über ihre Finanzen, auftauchen.
Sollte freilich Trump nicht zu stoppen sein, muss man nolens volens auf Hillary Clinton setzen oder auf zweierlei hoffen: erstens darauf, dass jeder Präsident von der Realität einschließlich der internationalen Rolle der USA eingeholt wird, auch wenn es im Falle des amtierenden Präsidenten etwas gedauert hat. Dem Thema des Nahen Ostens konnte in den letzten Wochen keiner der Kandidaten ausweichen, was für einen amerikanischen Vorwahlkampf eher ungewöhnlich ist. Und zweitens bleibt es bei Checks and Balances, soll heißen: Auch ein Präsident Trump hätte es mit einem Kongress zu tun, dem er nicht einfach kündigen kann.
Wir Europäer aber, die wir spätestens seit Alexis de Tocquevilles zugleich bewundernder und kritischer Analyse gelernt haben, Amerika auch als ein Experimentierfeld zu betrachten, auf dem die Tendenzen moderner egalitärer Gesellschaften frühzeitig sichtbar werden, haben allen Grund, nicht die plebiszitären, sondern die repräsentativen Formen der Demokratie weiterzuentwickeln.
Michael Zöller, geboren 1946 in Würzburg, emeritierter Professor für Politische Soziologie und Leiter der Amerika-Forschungsstelle, Universität Bayreuth, war Gastprofessor an etlichen Universitäten der USA und ist gegenwärtig noch Sprecher des Lehrbereiches „Wirtschaft und Gesellschaft“ der Hochschule für Politik in München.