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von Hermann Wentker

Michail Gorbatschow und die Sowjetunion

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In den frühen Morgenstunden des 13. März 1985 unterhielt sich Michail Gorbatschow mit seiner Frau Raissa bei einem nächtlichen Spaziergang über die bevorstehende Wahl eines neuen Generalsekretärs der KPdSU sowie über Gegenwart und Zukunft der Sowjetunion. Er beendete das Gespräch mit dem Satz: „So kann man nicht weiterleben.“ Als das Zentralkomitee der KPdSU am gleichen Tag Gorbatschow zum Generalsekretär gewählt hatte, erhielt er die Gelegenheit, seinen Worten Taten folgen zu lassen. Er war zwar gewillt, das Land zu verändern; seine Vorstellungen zur Erneuerung des Sozialismus waren allerdings noch äußerst vage.

Zum Zeitpunkt seiner Wahl konnte Gorbatschow auf eine beeindruckende Funktionärskarriere zurückblicken. Geprägt wurde er durch eine entbehrungsreiche Jugend in einem bäuerlichen Elternhaus im Nordkaukasus, durch die Schule und ein Jura-Studium an der Lomonossow-Universität Moskau in den 1950er-Jahren. Dort war er zunächst überzeugter Stalinist. Nach dem Tod des Diktators 1953 befielen ihn zunehmende Zweifel, und mit dem einsetzenden Tauwetter 1956 wandelte er sich zu einem Anhänger Nikita Chruschtschows. Nach dem Studium schlug er in seiner Heimatstadt Stawropol eine Funktionärskarriere ein – zunächst bei der Jugendorganisation Komsomol („Leninscher Kommunistischer Allunions-Jugendverband“) und dann in der KPdSU, wo er 1970 zum ersten Bezirkssekretär aufstieg.

Über Intelligenz, Ehrgeiz, Fleiß und Glauben an den Kommunismus hinaus bedurfte es für seine weitere Laufbahn mächtiger Förderer in Moskau. Kontakte knüpfte er unter anderem zu KGB-Chef Juri Andropow, der, wie andere führende Funktionäre, im Nordkaukasus zur Kur ging. Andropow war es zu verdanken, dass Gorbatschow 1978 als Sekretär für Landwirtschaft in die Parteizentrale nach Moskau berufen wurde. Mit dem Wechsel von Breschnew zu Andropow 1982 nahm seine Karriere an Fahrt auf. Als Generalsekretär des KPdSU-Zentralkomitees suchte Andropow nach einem Ausweg aus dem Afghanistan-Krieg und verfolgte mit dem Kampf gegen Korruption und die Verschwendung von Staatseigentum eine autoritäre Reformagenda. In Gorbatschow sah er einen geeigneten Verbündeten. Dieser musste freilich noch den Tod von Andropows Nachfolger, Konstantin Tschernenko, 1985 abwarten, bis er im Alter von 54 Jahren an die Spitze der Partei nachrücken konnte.

 

Forderungen nach Glasnost

 

Gorbatschow trat sein Amt als überzeugter Leninist an, der an die Kraft und das Potenzial des Sozialismus glaubte. Es ging ihm um eine Revitalisierung des sozialistischen Systems, das aus der Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus letztlich siegreich hervorgehen werde. Zunächst setzte er auf einen neuen Stil: Er redete frei, ließ Diskussionen im Politbüro zu und suchte das Gespräch mit den Bürgern. Außerdem forderte er Glasnost – „Offenheit“ – in Medien und Kunst. Die Wirtschaft, von der er nicht viel verstand, sollte durch „Beschleunigung“ unter Nutzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts optimiert werden. Sowohl erste Anstrengungen zur Effizienzsteigerung als auch spätere Wirtschaftsreformen, die auf eine Dezentralisierung abzielten, jedoch an staatlich festgesetzten Preisen festhielten, waren wenig durchdacht und verschlechterten die wirtschaftliche Situation erheblich. Hinzu kam der weltweite Verfall des Rohölpreises, der immer größere Löcher in den Staatshaushalt riss.

Die Katastrophe von Tschernobyl vom 26. April 1986 wurde zu einem Wendepunkt für Gorbatschow: Von nun an wurde seine Kritik an dem alten Schlendrian schärfer und seine Reformvorstellungen wurden radikaler. Auf dem Januarplenum des Zentralkomitees 1987 fasste er erstmals politische Reformen ins Auge. Neben Glasnost trat nun die Perestroika – der Umbau von Staat und Gesellschaft. Die KPdSU, die er damals noch als Motor dieser Veränderung nutzen wollte, musste dazu durch die Einführung echter parteiinterner Wahlen demokratisiert werden. Damit forderte er die große Masse der Funktionäre und die Konservativen an der Parteispitze um Jegor Ligatschow heraus. Eine in den Medien ausgetragene Kontroverse im Frühjahr 1988 endete mit einem Sieg der Reformer um Gorbatschow, der daraufhin im Juli 1988 eine Unionsparteikonferenz einberief, die angesichts der Passivität der Parteifunktionäre die Macht der KPdSU zugunsten der Sowjets – der Räte – begrenzen und mit der Demokratisierung Ernst machen sollte. Zusammen mit einer Parteireform im Herbst 1988 gelang Gorbatschow zwar eine weitgehende Machtbegrenzung der KPdSU; da die staatlichen Institutionen aber zu schwach waren, um die Anleitungsfunktionen zu übernehmen, die die Partei innegehabt hatte, wurde damit das gesamte Herrschaftssystem infrage gestellt.

1988 meldeten sich unter dem Einfluss von Glasnost überdies die bisher unterdrückten Nationalitäten im sowjetischen Vielvölkerstaat mit Macht zu Wort. In den Auseinandersetzungen der Armenier und Aserbaidschaner um die armenische Enklave Berg-Karabach brach offene Gewalt aus. Die baltischen Völker richteten sich mit ihrem Autonomiestreben direkt gegen die Zentralmacht. Gorbatschow setzte im Unterschied zu seinen Vorgängern zwar keine Gewalt zur Unterdrückung der Unruhen ein, hatte allerdings für die aufflammenden Nationalitätenkonflikte, die auch auf Georgien und Zentralasien übergriffen, kein Sensorium. Er hoffte jedoch, dass ein reformierter Sozialismus für Russen und Nicht-Russen gleichermaßen eine befriedigende Lösung darstellte.

 

Genuines Interesse an Abrüstung

 

In der Außen- und Sicherheitspolitik verfolgte Gorbatschow einen radikal neuen Ansatz: Denn er strebte nicht mehr nach absoluter Sicherheit für die Sowjetunion, sondern ihm war bewusst, dass deren Sicherheit auch vom Sicherheitsgefühl ihrer Gegner abhing. Hinzu kam sein genuines Interesse an internationaler Abrüstung – nicht nur, weil er spätestens seit Tschernobyl die Zerstörungskraft von Nuklearwaffen fürchtete, sondern auch, weil er die für Rüstungszwecke vorgesehenen Mittel für zivile Vorhaben einsetzen wollte. In seinem nuklearen Abrüstungswillen traf er sich mit US-Präsident Ronald Reagan, der ebenfalls, trotz seines Aufrüstungskurses seit 1981, Atomwaffen möglichst eliminieren wollte. Der am 8. Dezember 1987 unterzeichnete INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) über die kontrollierte Vernichtung aller landgestützten Mittelstreckenwaffen beider Seiten war daher ein Meilenstein auf dem Weg in eine sicherere Zukunft. Dass er auch im konventionellen Bereich massiv abrüsten wollte, verdeutlichte er in seiner Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 7. Dezember 1988, in der er unter anderem die Verringerung der sowjetischen Truppen innerhalb von zwei Jahren um 500.000 Mann in Aussicht stellte. Auch gegenüber Westeuropa wollte er von der Konfrontation zur Kooperation übergehen, nicht zuletzt, um vom dortigen technologischen Fortschritt zu profitieren.

Demgegenüber widmete er den osteuropäischen Staaten weniger Aufmerksamkeit und versäumte es, die dortigen Reformer zu unterstützen. Er setzte jedoch darauf, dass die Satellitenstaaten aus Einsicht dem sowjetischen Beispiel folgen würden. Obwohl er 1987/88 immer öfter statt der Breschnew-Doktrin den Grundsatz der Wahlfreiheit für die östlichen Verbündeten verkündete, glaubte er nicht daran, dass dies zu einem Auseinanderbrechen des östlichen Bündnisses führen werde, da seiner Meinung nach der Sozialismus dort tief verwurzelt sei. Doch darin hatte er sich, wie die weitgehend friedlichen politischen Umbrüche in Ungarn, Polen, der DDR, der Tschechoslowakei und Bulgarien sowie der gewaltsame Umsturz in Rumänien 1989 zeigten, geirrt. Allerdings ließ er den Wandel zu, ohne militärisch einzugreifen, und ermöglichte damit ein friedliches Ende des Kalten Krieges. 1990 stimmte er sogar vor dem Hintergrund eigener Schwäche und westlichen Entgegenkommens der Wiedervereinigung und der NATO-Mitgliedschaft Deutschlands zu.

 

Präsident ohne Land

 

Innenpolitisch waren die halbfreie Wahl und das Zusammentreten des Kongresses der Volksdeputierten im Frühjahr 1989 der Höhe- und Wendepunkt der Perestroika. Damit war Gorbatschow indes nicht länger die Speerspitze der Reform, sondern musste zwischen konservativen Kräften und „Radikalreformern“ wie Andrej Sacharow und dem früheren Moskauer Parteichef Boris Jelzin, dem mit einem Mandat im Volkskongress ein Comeback gelang, vermitteln. Mit dem ausbrechenden Pluralismus und den zunehmenden öffentlichen Diskussionen konnte Gorbatschow nicht mehr umgehen. Zweierlei war für seinen nun einsetzenden Machtverfall verantwortlich: Zum einen nahmen die ungelösten Wirtschaftsprobleme und die Nationalitätenkonflikte überhand und wurden durch die im Fernsehen übertragenen Debatten des Volkskongresses ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Zum anderen verlor Gorbatschow mit der Entmachtung der KPdSU seine alte Machtbasis, ohne eine neue etablieren zu können. Auch der Ausbau eines auf ihn zugeschnittenen Präsidialsystems nützte ihm wenig, da äußere Machtfülle nicht mit Gestaltungsmacht gleichzusetzen war. Gorbatschow war endgültig zum Zauberlehrling geworden, der die Kräfte, die er gerufen hatte, nicht mehr loswurde.

Das zeigte sich überdeutlich bei seinem Versuch, den Zerfall der Sowjetunion zu verhindern. Im südlichen Kaukasus, wo die Kämpfe zwischen Armeniern und Aserbaidschanern erneut aufflammten, sah er sich im Januar 1990 gezwungen, über Baku den Notstand zu verhängen, mit sowjetischen Truppen die Stadt zu stürmen und den Widerstand gewaltsam niederzuschlagen. Als im März in Litauen das gewählte Parlament die Unabhängigkeit des Landes erklärte, wollte er es mit einer Energieblockade in die Knie zwingen. Doch am gefährlichsten wurde es für ihn, als die Nationalbewegung auf Russland übergriff, das 1990 ebenfalls einen Volkskongress wählte und an dessen Spitze seinen Rivalen Jelzin setzte. Anders als Gorbatschow, den der XXVIII. Parteitag im Juli als Generalsekretär bestätigte, trat dieser mit Aplomb aus der Partei aus und ließ sich 1991 vom Volk zum Präsidenten Russlands wählen. Im Unterschied zu Gorbatschow sprach er sich angesichts des wirtschaftlichen Sinkflugs des Landes entschieden für die Marktwirtschaft aus und versprach eine Erhöhung des Lebensstandards binnen zwei Jahren. Da die Macht nicht länger von der Sowjetunion, sondern von den Einzelrepubliken ausging – auch die Ukraine, Weißrussland und die anderen Sowjetrepubliken hatten eigene Parlamente gewählt –, wurde Gorbatschow immer mehr zu einem Präsidenten ohne Land.

Zur Jahreswende 1990/91 setzte er angesichts der Fliehkräfte in der Sowjetunion auf eine Reform der Unionsverfassung, traf aber auch hier auf Widerstand, insbesondere von Jelzin, der eine sehr viel schwächere Union wollte. In dieser Situation verbündete sich Gorbatschow mit den Hardlinern aus den Apparaten, insbesondere aus dem KGB. Nun wurden auch gegenüber den abtrünnigen Republiken die Zügel angezogen: Im Baltikum, in Georgien, Moldawien und der Westukraine traten Anfang Januar 1991 sowjetische Fallschirmjäger in Aktion, angeblich, um Wehrpflichtige zu ergreifen, die sich nicht gestellt hatten. In Litauen, wo Gorbatschow die Anerkennung der jüngst reformierten Sowjetverfassung und die Unterordnung unter die Union forderte, stürmten sowjetische Fallschirmjäger das Fernsehgebäude in Vilnius und hinterließen fünfzehn Tote und Dutzende Schwerverletzte. Ähnliches ereignete sich in Riga. Die Anwendung von Gewalt war offenbar kein Tabu mehr. Unklar bleibt, ob Gorbatschow sie angeordnet oder ob das Militär ohne seine Genehmigung gehandelt hatte.

 

Das Ende der Sowjetunion

 

Gorbatschows Unionsvertrag, dem schließlich neun Republiken zustimmten, sah eine Föderalisierung der Sowjetunion vor. Eine Reihe führender Persönlichkeiten aus KGB, KPdSU und Militär befürchtete, durch eine zu weitgehende Dezentralisierung ihre Machtbasis zu verlieren. Daher putschten sie unter Führung von KGB-Chef Wladimir Krjutschkow am 21. August 1991 gegen Gorbatschow. Jedoch verweigerte der im Urlaub auf der Krim weilende Präsident die Zusammenarbeit mit den Putschisten, und Jelzin stellte sich diesen entschlossen entgegen, sodass der schlecht geplante Coup binnen zwei Tagen scheiterte. Gorbatschow kehrte zwar nach Moskau zurück, der Sieger hieß freilich Jelzin. Hinter dem Rücken Gorbatschows hob er mit dem weißrussischen und dem ukrainischen Präsidenten am 8. Dezember 1991 die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten aus der Taufe. Gorbatschow blieb letztlich nichts als der Rücktritt am 25. Dezember. Einen Tag später wurde mit dem Ende der Sowjetunion anstelle der sowjetischen Fahne die russische Trikolore auf dem Kreml gehisst.

Michail Gorbatschow, der am 30. August 2022 im Alter von 91 Jahren in Moskau starb, vermochte nicht, sein mit großem Optimismus und Selbstbewusstsein getragenes Unterfangen zu realisieren, sondern führte unwillentlich den Untergang der Sowjetunion herbei, die sich als nicht reformierbar erwies. Das ändert freilich nichts an seinen außenpolitischen Erfolgen, die zum friedlichen Ende des Kalten Krieges führten. Denn er verzichtete weitestgehend auf Gewalt, sowohl zwischenstaatlich als auch innerstaatlich. Damit nahm er den Menschen in der Sowjetunion und in den ehemaligen Satellitenstaaten die Angst und konnte auch die zunehmende Teilhabe der sowjetischen Bürger an Entscheidungsprozessen durchsetzen.

Eine wesentliche Ursache für das innenpolitische Scheitern Gorbatschows lag darin, dass es sich bei der Perestroika um ein Elitenprojekt handelte, für das er zwar die liberale Intelligenzija begeistern konnte, nicht aber die maßgeblichen Vertreter der drei tragenden Säulen der Sowjetherrschaft – Partei, Armee und KGB. Die Partei zerbrach, und das Prestige der Armee war infolge von Abrüstung und Rückzug angeschlagen. Weitgehend ungeschoren blieb der Geheimdienst. In seinen Apparaten herrscht weitgehende Kontinuität zwischen der alten Sowjetunion und dem heutigen Russland.

Es ist deshalb kein Zufall, dass der ehemalige KGB-Offizier Wladimir Putin der Idee alter sowjetischer Größe anhängt. Auch Gorbatschow hielt lange an einer starken Sowjetunion fest. Gleichwohl trennen ihn von Putin Welten. Strebte er ein humaneres System an, geht es Putin um die Etablierung und den Erhalt seiner autokratischen Herrschaft. Seine Außenpolitik zielt nicht auf Abrüstung, Verständigung und Kooperation, sondern auf Aufrüstung und die brachiale Durchsetzung eigener Interessen. Während Gorbatschows Zukunftsvision die Abschaffung aller Atomwaffen vorsah, droht Putin mit deren Einsatz in dem von ihm entfesselten Ukraine-Krieg. Der Kalte Krieg ist zwar nicht zurück, allerdings erscheint der einst von Gorbatschow überwundene Graben zwischen den westlichen Staaten und Russland tiefer denn je.

 

Hermann Wentker, geboren 1959 in Bonn, promovierter und habilitierter Historiker, Leiter der Abteilung Berlin des Instituts für Zeitgeschichte und apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam.

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