Volksparteien zeichnen sich durch den Anspruch aus, die Gesellschaft in ihrer Breite zu repräsentieren und für die Mehrheit zu sprechen. Abnehmende Parteibindungen in einer sich pluralisierenden Gesellschaft, schwache Wahlergebnisse, die Fragmentierung des Parteiensystems aufgrund von Parteineugründungen und des Einzugs weiterer Parteien in die Parlamente einerseits, das Schrumpfen der Anzahl der Parteimitglieder, die Überalterung sowie die Tendenz zu einer immer homogeneren Parteimitgliedschaft andererseits sind keine guten Bedingungen für die Bewahrung dieses Selbstverständnisses. Bereits 2008 hat der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte davor gewarnt, dass die „Konsensmaschine Volkspartei“ aufgrund der rudimentären Verankerung in der Gesellschaft an Kraft verlieren könne.1 Sämtliche Parteien in Deutschland bemühen sich folglich, den Mitgliederverfall zu stoppen, die innerparteiliche Vielfalt zu erhöhen, sich zu verjüngen und Verengungen auf bestimmte Wählergruppen aufzubrechen. Dabei fällt auf, dass die beiden Volksparteien CDU beziehungsweise CSU und SPD im Vergleich zu den Grünen und den Liberalen den Modernisierungsprozessen teilweise hinterherlaufen.
Einer der Gründe dafür könnte bereits im Volksparteienanspruch selbst angelegt sein. Die oft beschworene „Krise der Volksparteien“ fällt mit dem Erstarken eines Repräsentationsverständnisses zusammen, das mit der Praxis der Integration verschiedener Gruppen, Interessen und Positionen in den Volksparteien wenig zu tun hat. Gemeint ist damit die Vorstellung, dass bestimmte Gruppen nur von Personen repräsentiert werden könnten, die über die entsprechenden gruppenkonstitutiven Eigenschaften verfügen. Fehlen diese, wird den Repräsentanten jeglicher Vertretungsanspruch aberkannt.2 Repräsentativ wären Institutionen demnach nur, wenn sie sich aus Personen zusammensetzten, die die Gesellschaft in ihrer Vielfalt statistisch exakt abbildeten. Unserer Verfassungsordnung ist diese Vorstellung fremd. Artikel 38 Absatz 1 Grundgesetz bezeichnet die Abgeordneten des Bundestages als Vertreter des ganzen Volkes. Gruppenspezifischen Vertretungsansprüchen wird damit eine Absage erteilt. Auch bei der Idee der Volkspartei, die die breite Gesellschaft repräsentiert, schwingt dieses im Grundgesetz verankerte Verständnis mit. Die alte Vorstellung von der gesellschaftsumfassenden Volkspartei passt damit scheinbar nicht zum – in den Begrifflichkeiten von Andreas Reckwitz – „singularisierten“ Repräsentationsverständnis unserer Tage. Ist die Idee der Volkspartei nur noch ein normativer Anspruch?
Umgang mit dem Repräsentationsdefizit
Nicht ganz. Es gibt Vorschläge, wie die Volksparteien diesen Anspruch „beleben“ könnten, sowie typische Reaktionsmuster auf die zunehmende gesellschaftliche Pluralisierung. Um die „Konsensmaschine“ am Laufen zu halten, versuchten die Volksparteien, mit immer allgemeineren politischen Aussagen und Positionen das Verbindende der sich vervielfältigenden Gesellschaft herzustellen. Gut zu erkennen ist das nach wie vor an unleserlichen Wahlprogrammen und der Kritik am substanzlosen „Politikersprech“. Über Jahre trug dieser Ansatz zu Wahlerfolgen bei, zeitigte jedoch auch negative Auswirkungen: Die Volksparteien gingen nicht gestärkt hervor, sondern punkteten mit Personalisierungseffekten ihres Spitzenpersonals, das – anstatt der Parteien – zum Abbild der Allgemeinheit wurde. In dieser Situation schlug sich die Vielfalt der Gesellschaft in einer Fragmentierung des Parteiensystems nieder. Nicht die Volkspartei spiegelte die gesellschaftliche Entwicklung wider, sondern die Vervielfältigung der Parteien. Mit dem alten Volksparteienanspruch ist das nicht vereinbar.
Kaum verwunderlich, dass folglich ein Repräsentationsverständnis Auftrieb erhielt, das eine stärkere Abbildung der Gesellschaft innerhalb der Volksparteien einfordert und damit dem „singularisierten“ Denken entgegenkommt. Das Bemühen, die Alterskohorten der Gesellschaft in den Parteien widerzuspiegeln oder den Frauenanteil zu erhöhen, könnte Ausdruck dieses veränderten Verständnisses sein. Bisher ist es allerdings keiner deutschen Partei gelungen, eine statistische Repräsentativität ihrer Mitgliedschaft herzustellen. Ein weiterer Versuch in diese Richtung besteht im Erproben von Bürgerbeteiligungsverfahren: Sie sollen die Rückkoppelung zur Gesellschaft verbessern und von „außen“ Impulse setzen. Da diese Verfahren oft selbst hochgradig selektiv sind, verfehlen sie in der Regel eine Breitenwirksamkeit und sind nicht repräsentativ. Ansätze, die einem statistischen Repräsentationsverständnis als Antwort auf die „singularisierte Gesellschaft“ besser zu entsprechen suchen, waren bisher also nicht sonderlich erfolgreich.
Ein anderer Vorschlag zielt darauf ab, die „Allgemeinheit“ der Volksparteien zu erhalten, indem man sie gewissermaßen zu einer Plattform für das Widerstreiten gesellschaftlicher Gruppen und Positionen macht. Ihre Aufgabe bestünde dann im Sichtbarmachen politischer Alternativen. Diese Form der „konfliktiven Repräsentation“3 würde allerdings nur funktionieren, wenn die Volksparteien gleichsam als Moderatoren von Konflikten aufträten. Ob die Wähler das goutieren, ist fraglich. Interessant an dieser Idee ist jedoch, dass sie das alte Volksparteienverständnis von der breiten Repräsentation der Gesellschaft wiederbelebt – nicht durch das Aufzeigen des kleinsten gemeinsamen Nenners, sondern des großen Ganzen in seiner Widersprüchlichkeit.
Verharren im „Mehrheitsgefängnis“?
Bereits diese wenigen Ansätze verdeutlichen, dass der mit dem Volksparteienkonzept verbundene Anspruch, die Breite der Gesellschaft zu repräsentieren und Politik für alle zu machen, oberflächlich ist. Die Praxis sieht anders aus. Die Volksparteien repräsentieren die Gesellschaft eben gerade nicht, indem sie diese gewissermaßen statistisch exakt in ihrer eigenen Organisation widerspiegeln. Im Gegenteil: Sie verleihen Gruppen, Interessen und politischen Positionen ein überproportionales Gewicht. Diese nichtrepräsentative Steuerung des innerparteilichen Willensbildungsprozesses mag auf den ersten Blick irritieren. Bei genauerem Hinsehen wird aber deutlich, dass sich auf diese Weise Innovationen und Erneuerungsprozesse Bahn brechen können, die sonst in einem festgefügten Mehrheitsgefängnis verharren würden. Erst das Zusammenspiel von innerparteilicher und staatlicher Willensbildung in Form von formalisierten, mehrheitsbasierten Abstimmungen und Wahlen führt zur Herstellung von Allgemeinheit in den Volksparteien und stellt zudem eine Rückkopplungs- und Verantwortungsschleife her.
Die Funktionsweise disproportionaler Repräsentation lässt sich gut anhand der Jugendorganisationen der Parteien verdeutlichen. In allen deutschen Parteien sind die jüngeren Mitglieder im Verhältnis zur Gesellschaft unterrepräsentiert. Dies gilt nicht nur für die CDU, in der die unter Dreißigjährigen noch nicht einmal sechs Prozent der Gesamtmitgliedschaft ausmachen, sondern auch für die vermeintlich „jugendlichen“ Grünen und die FDP mit jeweils rund achtzehn Prozent an jungen Mitgliedern.4 Junge Parteimitglieder sind folglich in einer numerischen Minderheitenposition. Das gilt letztlich auch für das Verhältnis innerhalb der Gesamtgesellschaft, die zunehmend von älteren Menschen dominiert wird. Dennoch ist die Stellung junger Menschen über die Jugendverbände im Gefüge der Parteien abgesichert. Die Parteien räumen ihnen sogar mehr Einfluss ein, als ihnen eigentlich numerisch zusteht.
„Konfliktive Repräsentation“
Die Junge Union beispielsweise hat Mitglieder, die nicht zwingend über ein Parteibuch der CDU verfügen. Dennoch entsendet die Jugendorganisation Vertreter in die Bundesvorstände – sofern diese Parteimitglieder sind –, in Bundesfachausschüsse und auf Parteitage. Dort haben die Repräsentanten der Jugendvereinigungen die gleichen Rede-, Stimm- und Antragsrechte wie jene Delegierten, die ausschließlich von Parteimitgliedern nominiert worden sind. Die Jungen Liberalen wiederum agieren auf den Bundesparteitagen der FDP faktisch wie ein herausgehobener Landesverband, denn in der Geschäftsordnung ist abgesichert, dass ihre Vertreter im Bundesvorstand in der Rednerliste „hochrutschen“. Die Anliegen der Jugendvereinigungen werden damit privilegiert.
Der oft kritisierte Formalismus sichert also unterrepräsentierten Gruppen in Parteien ein überproportionales Gewicht. Hinzu kommt, dass die Jugendvereinigungen die bereits erwähnte Technik der „konfliktiven Repräsentation“ anwenden. Anstatt Integration durch Konsens bedeutet das – zugespitzt formuliert – Integration durch das Ausleben von Streit innerhalb der Parteien. Genau das praktizieren die Jugendorganisationen. Alle Jugendvereinigungen sehen ihre Rolle darin, ihre jeweiligen „Mutterparteien“ anzutreiben, sie gewissermaßen wachzurütteln, indem sie diese mit unbequemen Forderungen konfrontieren. Dass dies auch nicht auf Sachfragen beschränkt sein muss, bewies insbesondere die Junge Union, die mit einer Mitgliederbefragung im Herbst 2020 Druck auf die Union aufbaute, um Friedrich Merz als Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl 2021 zu nominieren.
Auch die Jusos trieben unter Kevin Kühnert die eigene Partei vor sich her. Mit dem Wahlerfolg der SPD zogen zahlreiche Jungsozialisten in den Bundestag ein und trugen damit durchaus zu einer Senkung des Altersdurchschnitts der Abgeordneten bei.5 Diese Beispiele belegen, dass sich das strukturelle Übergewicht junger Menschen in der Partei über den Weg der Jugendorganisationen in Macht ummünzen lässt.
Die Parteien können demnach – so das Fazit – relativ gelassen der Forderung entgegensehen, sie sollten ihre Modernisierungsbemühungen auf eine stärkere Abbildung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in ihrer Organisation richten. Sie haben erprobte Strukturen und Verfahren entwickelt, die in der Lage sind, pluralen Akteuren selbst dann eine Stimme zu verleihen, wenn diese in den Parteien numerisch nur wenig Gewicht aufweisen. Das setzt allerdings voraus, dass das Verständnis und der Respekt vor formalen Prozessen, die genau dies absichern, auch künftig vermittelt werden. Solange Begriffe wie Parteiproporz oder Parteisatzung als Belastung für und nicht als Ermöglichung von Engagement verstanden werden, können die Volksparteien ihre Stärke als Motor des Gemeinwohls nicht ausspielen. Angetrieben wird die „Konsensmaschine“ letztlich von der freigesetzten kreativen Energie aus den in demokratischen Mehrheitsverfahren umgeformten Gruppeninteressen.
Tobias Montag, geboren in Erfurt, Referent Parteien und Beteiligung, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.
1 Karl-Rudolf Korte: „Die Konsensmaschine stottert“, in: Die Zeit, 16.10.2008.
2 Vgl. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017; David Budde: Formen der Repräsentation und ihre Legitimation. Die voraussetzungsreiche Anerkennung von Repräsentanten in der Politik, Working Paper, Center for Political Theory & History, Freie Universität Berlin, 2013.
3 Markus Linden / Winfried Thaa: „Die Krise der Repräsentation – gibt es Auswege?“, in: dies. (Hrsg.): Krise und Reform politischer Repräsentation, Nomos Verlag, Baden-Baden 2011, S. 310–312.
4 Oskar Niedermayer: „Parteimitgliedschaften im Jahr 2020“, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 52. Jg., Nr. 2/2021, S. 376.
5 Vgl. Deutscher Bundestag: Der Bundestag wird weiblicher und jünger. Mitteilung vom 29.09.2021, www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw39-wahlstatistik-863722 [letzter Zugriff: 18.02.2022].