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Seismographische Ausschläge

von Thomas Scholz

Gegenwartsliteratur und gesellschaftliche Vorausschau

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Die Literatur hat an gesellschaftlicher Bedeutung eingebüßt. Dieser Umstand ist ihren Protagonisten, den Schriftstellern, den Verlegern und Kritikern, durchaus bewusst. Schon 2017 konstatierte Edo Reents, Literaturkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und zum damaligen Zeitpunkt Ressortleiter ihres Feuilletons, dass die Leuchtturmfunktion eines Martin Walsers oder die Stellung Heinrich Bölls als Praeceptor Germaniae, als Lehrmeister Deutschlands, unwiederbringlich der Vergangenheit angehören. Mit diesem Bedeutungsverlust müsse sich die Literaturbranche abfinden.

Diese Diagnose ist aller Wahrscheinlichkeit nach richtig, verstellt jedoch den Blick auf die Tatsache, dass Literatur selbstverständlich auch weiterhin Bedeutung transportiert. Diese Bedeutung entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern in einer konkreten historischen Situation, welche die Literatur inhaltlich auflädt. Eingebüßt haben die heutigen Schriftsteller und Kritiker vorrangig die Hoheit, literarische Bedeutung als institutionalisierte Autoritäten zu deuten und ihr einen angeblich unverrückbaren gesellschaftlichen und damit politischen Stellenwert zuzuschreiben. Als kulturelles System spiegelt die Literatur jedoch weiterhin Entwicklungen in der Gesellschaft – sowohl vergangene, gegenwärtige als auch zukünftige. Diese seismographische Funktion verleiht ihr über das ästhetische Erlebnis hinaus Relevanz, die auch von sinkenden Verkaufszahlen nicht gemindert werden kann. Ohne Leuchtturmwärter und Lehrmeister bedarf es jedoch der Kunst, diesen Seismographen abzulesen und die Ausschläge zu interpretieren.

Kritikerin Julia Encke las erst kürzlich den Wunschtraum der deutschen Städter nach ländlichem Wohnraum anhand der Gegenwartsliteratur ab. In Judith Hermanns Roman Daheim (2021) zieht sich die Ich-Erzählerin in ein kleines Dorf an der Küste zurück, um in der neuen Lebensphase nach der Trennung den Blick nach innen zu richten. Bereits 2016 veröffentlichte Juli Zeh Unterleuten, einen Roman, der fast ausschließlich im namensgebenden fiktiven Dorf in Brandenburg spielt. 2021 folgte Unter Menschen, dessen Handlungsort das ebenfalls fiktive Brandenburger Dorf Bracken ist. David Safiers Krimiparodie Miss Merkel: Mord in der Uckermark (2021) lässt die Kanzlerin im Ruhestand in den Fußstapfen von Miss Marple wandeln, natürlich in dörflicher Umgebung. Die Beispiele nehmen kein Ende. Ihre Zahl wächst mit jedem neuen Verlagsprogramm. Die Literaturkritik hat mittlerweile das Genre des Dorfromans identifiziert. Diese Erkenntnis war jedoch nicht erst in der Retrospektive möglich: Schon anlässlich des Erscheinens von Zehs Unterleuten vermutete Kritiker Jörg Magenau im Deutschlandfunk, der Gesellschaftsroman könne überhaupt nur noch als Dorfroman möglich sein.

Angesichts der realen Umstände scheint es nicht schwierig, die Aussagekraft der Dorfromane für unsere Gesellschaft zu konstatieren. Der chronische Wohnungsmangel in den Ballungszentren, die galoppierenden städtischen Mietpreise und die aufkommenden Forderungen nach mehr sozialem Wohnungsbau einerseits sowie nach Enteignung von Immobilienkonzernen andererseits legen die Vermutung nahe, dass – wie so oft in der Geschichte der Menschheit – der Landflucht notgedrungen irgendwann die Stadtflucht folgt. Dass Juli Zeh selbst im Havelland und nicht in Berlin wohnt, scheint im Vergleich fast nur eine Fußnote wert zu sein. All diese empirischen Umstände mindern die Aussagekraft der Literatur jedoch nicht. In den Texten manifestieren sich zweifelsfrei ein Behagen in Bezug auf das Dörfliche und ein zunehmendes Unbehagen mit dem Städtischen. Der literarische Seismograph schlägt aus.

Die Schnittmenge mehrerer Romane führt zwangsweise zu seismographischen Erkenntnissen, die klarer, aber auch weniger komplex sind, als sie der einzelne Text zu setzen vermag. Der einzelne Roman kann präzisere Aussagen leisten. John von Düffels Der brennende See (2020) beispielsweise thematisiert den Generationenkonflikt zwischen Fridays-­for­-Future-Demonstranten und deren Eltern- respektive Großelterngeneration. Während die grundsätzliche Konfiguration der Bewegung bereits lange vor der Corona-Pandemie journalistisch abgebildet wurde, leistet von Düffels Roman eine Zuspitzung, die in nachrichtlicher Berichterstattung keinen Platz finden kann. Den Streit um die Demonstrationen und den dort geforderten Weg des Klimaschutzes für die Dauer der Lektüre auf den Konflikt zwischen den beteiligten Generationen zu reduzieren, erlaubt es, die kontraproduktive Dynamik der Konfrontationen zwischen Befürwortern und Gegnern aus einem neuem Blickwinkel zu betrachten. Der Einzeltext liefert hier einen seismographischen Befund, der das eigentliche Thema nicht nur als gesellschaftlich relevant markiert, sondern darüber hinaus mit einem signifikanten Kontext verknüpft.

 

Cassandra und Krisenfrüherkennung

 

Die literarische Qualität eines Textes sagt nichts über seine seismographische Tauglichkeit aus. Seine Rezeption hingegen kann aussagekräftig sein. Ein Text, der viel Aufmerksamkeit erfährt, oft gekauft wird und viele Preise erhält, hat einen Nerv getroffen. Für die Forscher des „Projekt Cassandra“ sind dies Indikatoren, um einen bestimmten Text einer genaueren Analyse zu unterziehen. Jürgen Wertheimer, emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Gründer von „Projekt Cassandra“, und seine Mitarbeiter analysieren literarische Texte und Bewegungen in der Literaturbranche, um internationale Krisen frühzeitig vorherzusagen. Gefördert durch das Bundesverteidigungsministerium, identifizierte das Forscherteam rund ein Dutzend textlicher Kategorien, anhand derer sie seit 2017 in der Studie Krisenfrüherkennung durch Literaturauswertung vier Regionen in Europa und Afrika als Modellfälle analysierten. Da literarisches Lesen und Interpretationen jenseits der Möglichkeiten derzeitiger Künstlicher Intelligenzen liegen, verließen sich die deutschen Forscher in großem Maße auf menschliche Experten aus den jeweiligen Regionen, um relevante Texte zu identifizieren und die Analysekategorien anzupassen.

In der Betrachtung der eigenen Kultur ist die persönliche Expertise gleichermaßen Stärke und Schwäche. Der Aussagekraft der objektiven (Absatz-) Zahlen sind Grenzen gesetzt. Die Lesart der Romane und die Deutung ihrer Aussagen sind letztendlich jedoch Interpretationen, und diese sind bekanntlich nicht immer richtig. Trotzdem lassen sich aufschlussreiche Beobachtungen am literarischen Seismographen anstellen. Erneut liefert Juli Zeh einen relevanten Roman: Corpus Delicti (2009) schildert einen dystopischen Zukunftsstaat, in dem die Gesundheit zur obersten gesellschaftlichen Maxime und zum vorrangigen Staatsziel erhoben wurde. In einer Mischung aus Kriminalfall und Gerichtsverhandlung kollidieren im Roman die Prinzipien von Vernunft und persönlicher Freiheit. Die Protagonistin Mia Holl wandelt sich von einer Verfechterin der naturwissenschaftlich geprägten Vernunft, die dem Staat massive Eingriffe in die persönliche Freiheit erlaubt, zur Befürworterin der persönlichen Freiheit, die dem Individuum das Recht auf ungesundes Verhalten zuspricht. Die Parallelen zur aktuellen Diskussion um Impfpflicht und -verantwortung sind offensichtlich und bereits mehrfach gezogen worden. Sie sind jedoch nicht der Aspekt des Textes, an dem der Seismograph vorrangig ausschlagen sollte.

Laut Medienberichten lehnte Juli Zeh 2010 die Nominierung ihres Romans für den Kurd Laßwitz Preis, der für die besten Science-Fiction-Romane vergeben wird, ab. Was auf den ersten Blick als Standesdünkel der Literatin gegenüber dem populären Unterhaltungsgenre gewertet werden könnte, erweist sich auf den zweiten Blick als konsequentes Verständnis des eigenen Textes. Corpus Delicti skizziert nicht vorrangig eine düstere Zukunft, sondern hinterfragt kritisch die Gegenwart. Die Selbstoptimierung des Individuums nach externen Kriterien – sei es biographisch, ästhetisch, sportlich oder gesundheitlich – ist ein grundlegender Anspruch der gegenwärtigen Gesellschaft. Dieser manifestiert sich in Politikerinnenbiographien ebenso wie in Fitnessstudios.

 

Levelverlust als Strafe für Nonkonformität

 

Auffällig wird diese Kritik, wenn man Zehs Roman mit Marc-Uwe Klings QualityLand (2017) abgleicht. Diese dystopische Satire, die sich jedoch bereitwillig der Science-Fiction zuordnen lässt, zeigt ebenfalls eine optimierte Gesellschaft, die nach der Logik von Online-Rankings und Einkaufsalgorithmen strukturiert ist. Bürgern wird auf der Basis ihres Lebenswandels ein Level zugewiesen, das ihre Möglichkeiten in allen Bereichen des Lebens bestimmt – Partnerwahl, Beruf, sogar im Straßenverkehr. Systemkonformes Verhalten ermöglicht den Aufstieg in ein höheres Level, Nonkonformität wird durch Levelverlust bestraft. Darüber hinaus thematisiert der Text durch fiktionale Userkommentare die Performativität der optimierten individuellen Identität. Ähnlichkeiten mit realen globalen Netzwerken oder Online-Shopping-Giganten sind in diesem satirischen Politthriller bewusst gewählt. Diese Satire ist kurzweilig, verschleiert jedoch gleichzeitig die Kritik am Optimierungswahn, den die Sozialen Medien qua ihrer Natur befeuern. In den jeweiligen Maximen unterscheiden sich die Texte von Kling und Zeh. Die Kritik an der erzwungenen Selbstoptimierung ist jedoch gleich. Beide Protagonisten wehren sich gegen die systemisch aufoktroyierten externen Werte. Diese Entwicklung steckt in der realen Welt und auf Facebook, Instagram und Twitter noch in den Anfängen. Aber auch die Stadtflucht war am Anfang der 2000er-Jahre noch nicht greifbar.

Der Kampf der Figuren gegen das jeweilige starre System liest sich als Metapher der sich im Wandel befindlichen europäischen Gesellschaften, als Chiffre der Verunsicherung. Diese ist literarisch derzeit überall zu finden. Stefan Kutzenberg bringt sie in Jokerman (2020) ironisch auf den Punkt, wenn er die Wahl Donald Trumps mit einer Verschwörungstheorie auf Basis der Songtexte Bob Dylans erläutert. Dietmar Dath beschwört mit Regelmäßigkeit in seinen Romanen die Herausforderungen der Künstlichen Intelligenz für die Menschheit. Die Reduktion auf einen einzigen Aspekt wird jedoch den Texten nicht gerecht. Vor allem aber bleibt die Diagnose einer allgemeinen gesellschaftlichen Verunsicherung als Ergebnis des literarischen Seismographen äußerst vage. Diese Ungenauigkeit ist dem Anhäufen und Übereinanderlegen von Beispielen geschuldet. Für sich genommen argumentiert jeder einzelne Text detaillierter und überzeugender. Diesen Argumenten gilt es zuzuhören.

Thomas Scholz, geboren 1976 in Lich, promovierter Literatur- und Filmwissenschaftler, Feuilletonist.

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