Asset-Herausgeber

von Ansgar Heveling

Die gesetzliche Neuregelung der (geschäftsmäßigen) Suizidbeihilfe

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Mit seinem Urteil vom 26. Februar 2020 (Leitsätze 2 BvR 2347/15 u. a., BVerfGE 153, 182) hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) entschieden, dass das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe gemäß § 217 des Strafgesetzbuches (StGB) mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig sei.

Danach ist die Sterbehilfe in Deutschland – wie schon vor der Regelung des § 217 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung vom 3. Dezember 2015 (Bundesgesetzblatt I Seite 2177) – uneingeschränkt möglich. „Aus der Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB folgt [aber] nicht, dass der Gesetzgeber sich einer Regulierung der Suizidhilfe vollständig zu enthalten hat. Er hat aus den ihm obliegenden Schutzpflichten für die Autonomie bei der Entscheidung über die Beendigung des eigenen Lebens in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise einen Handlungsauftrag abgeleitet“ (BVerfGE 153, 182, 308 Rn. 338).

„Der hohe Rang, den die Verfassung dem Leben und der Autonomie beimisst, ist danach grundsätzlich geeignet, deren effektiven präventiven Schutz zu legitimieren, zumal ihnen im Bereich der Suizidhilfe besondere Gefahren drohen. Die empirisch gestützte Fragilität eines Selbsttötungsentschlusses […] wiegt gerade deshalb besonders schwer, weil sich Entscheidungen über das eigene Leben naturgemäß dadurch auszeichnen, dass ihre Umsetzung unumkehrbar ist“ (BVerfGE 153, 182, 285 f. Rn. 272).

Bei der Erfüllung dieses, vom Bundesverfassungsgericht anerkannten Handlungsauftrages an den Gesetzgeber bietet sich – nicht nur für Christdemokraten – eine Orientierung am christlichen Menschenbild an.

„Dieses steht in einem dialektischen Spannungsverhältnis: auf der einen Seite die kreatürliche Begrenztheit des Menschen und die geforderte Selbstbescheidung des Nicht­wie Gott-sein-Wollens, auf der anderen Seite die besondere Erwählung, die schöpfungstheologisch in seiner Kreativität und heilsgeschichtlich im Handeln Gottes mit dem Menschen und, für den Christen, in der Menschwerdung des Gottessohnes hervortritt“ (Alois Baumgartner, in: Winfried Becker/ Günter Buchstab u. a., Lexikon der Christlichen Demokratie in Deutschland, 2002, S. 679 ff.). Daraus folgt das Bekenntnis zur unantastbaren Würde des Menschen (vgl. Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland. Das Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands 2007, Ziffer 5). Aus der Würde des Menschen erwächst sein Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit und zugleich die Verantwortung gegenüber dem Nächsten (Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland. Das Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands 2007, Ziffer 6).

 

Persönlichkeitsrecht und selbstbestimmtes Sterben

 

In diesem Spannungsfeld zwischen der freien Entfaltung der Persönlichkeit und der Verantwortung gegenüber dem Nächsten muss sich daher auch eine Regelung der (geschäftsmäßigen) Sterbehilfe durch den Gesetzgeber bewähren. Sie muss einerseits dem säkularen Verfassungsauftrag gerecht werden – für den überzeugten Christen manifestiert sich an dieser Stelle durchaus ein ethisches Dilemma – und darf gleichzeitig jedoch innerhalb dieser Leitplanken einer christlich fundierten Annäherung Raum geben.

Dabei kommen dem Bundesverfassungsgericht und dem Gesetzgeber unterschiedliche Aufgaben zu: Das Bundesverfassungsgericht hat – zumal im Verfahren der die Freiheitsrechte der Bürger sichernden Verfassungsbeschwerde – den einzelnen Bürger und die Durchsetzung seiner Freiheitsrechte besonders in den Blick zu nehmen. Der Gesetzgeber erfüllt dagegen eine staatliche Schutzpflicht gegenüber der Allgemeinheit, insbesondere gegenüber vulnerablen Personengruppen. Daher geht es bei einer noch zu beschließenden gesetzlichen Regelung der Suizidbeihilfe nicht um die Durchsetzung individueller Freiheitsrechte. Diese sind nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 bereits umfassend gewährt.

„Allerdings muss jede regulatorische Einschränkung der assistierten Selbsttötung sicherstellen, dass sie dem verfassungsrechtlich geschützten Recht des Einzelnen, aufgrund freier Entscheidung mit Unterstützung Dritter aus dem Leben zu scheiden, auch faktisch hinreichenden Raum zur Entfaltung und Umsetzung belässt“ (BVerfGE 153, 182, 309 Rn. 341).

Denn das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes) umfasst nach den Darlegungen des Bundesverfassungsgerichts als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, sei im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren. Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen (vgl. BVerfGE 153, 182 Leitsatz 1).

 

Abstraktes Verständnis von Freiheit und Würde

 

Das Bundesverfassungsgericht hat dabei den Persönlichkeitsbegriff mit dem Autonomiebegriff, den es aber, dies sei als Nebenbemerkung erlaubt, zu determinieren versäumt, und zugleich die Autonomie mit einem Recht auf selbstbestimmtes Sterben verbunden. Diese Betonung der Selbstbestimmung des Menschen versteht allerdings dessen Freiheit und Würde sehr abstrakt und nicht als eingebunden in individuelle und soziale Dispositionen, die diese Selbstbestimmung prägen und gegebenenfalls auch begrenzen (vgl. Elisabeth Gräb­Schmidt, Ein neues Verständnis von Selbstbestimmung. § 217 StGB und das christliche Menschenbild, Konrad-Adenauer-Stiftung, Analysen & Argumente, Nr. 418 / November 2018, S. 2 f.). Das Verständnis des Bundesverfassungsgerichts greift aber zu kurz, wenn die Würde des Menschen nicht als Grenze der Selbstbestimmung der Person, sondern als ihr Grund verstanden und daraus gefolgert wird: Der Mensch bleibt nur dann als selbstverantwortliche Persönlichkeit, als Subjekt anerkannt, sein Wert- und Achtungsanspruch nur dann gewahrt, wenn er über seine Existenz nach eigenen, selbstgesetzten Maßstäben bestimmen kann (vgl. BVerfGE 152, 182, 264 Rn. 211).

Zwar entspringt aus der Würde des Menschen auch nach dem christlichen Menschenbild dessen Fähigkeit zu selbstbestimmtem Handeln in freier Entscheidung. Aber die Selbstbestimmung wird relational als Anspruch an den Menschen in seiner Freiheit und Würde und somit als Aufgabe verstanden. Der Suizid ist danach nicht die höchste Form von Selbstbestimmung, sondern lediglich deren Grenzsituation (vgl. Elisabeth Gräb­-Schmidt, a. a. O., S. 5). Ein solches Verständnis der Selbsttötung als Vollzug von Selbstbestimmung entspricht auch dem Schutzauftrag an den Gesetzgeber, keine Verwandlung von Grenzsituationen in Regelfälle herbeizuführen.

 

Voraussetzungen freiverantwortlicher Suizidentscheidungen

 

Aus diesem Verständnis ergeben sich weitere Orientierungen für eine gesetzliche Regelung: Zunächst sind die Voraussetzungen für einen freiverantwortlichen Entschluss zur Selbsttötung zu bestimmen und eine (geschäftsmäßige) Suizidbeihilfe für die Fälle, in denen nicht von einer Freiverantwortlichkeit auszugehen ist, auszuschließen. Das bedeutet, dass die grundsätzliche Straffreiheit der Hilfe beim Suizid beibehalten wird. Davon zu unterscheiden ist jedoch täterschaftliche aktive Sterbehilfe gemäß § 216 StGB; diese muss unverändert strafbar bleiben.

Um die Autonomie der Entscheidung über die Beendigung des eigenen Lebens vor inneren und äußeren Einwirkungen wirksam zu schützen, soll die geschäftsmäßige Suizidhilfe grundsätzlich strafbar sein. Wegen der besonderen Nähebeziehung und der daraus resultierenden Konfliktsituation sollen nahe Angehörige als Teilnehmer immer straffrei bleiben. Damit jedoch den verfassungsgerichtlichen Vorgaben Rechnung getragen und die Umsetzung einer freiverantwortlichen Suizidentscheidung sowie die Inanspruchnahme der Hilfe Dritter nicht faktisch unmöglich wird, soll auch die geschäftsmäßige Suizidhilfe unter sehr bestimmten Voraussetzungen nicht unrechtmäßig sein. Nach den Erkenntnissen der Suizidforschung liegt lediglich bei einem geringen Anteil der Sterbewilligen ein freiverantwortlicher Entschluss zur Selbsttötung vor. Eine gesetzliche Regelung muss daher einen Schwerpunkt auf die Feststellung der Freiverantwortlichkeit der Willensentscheidung legen und diesem Personenkreis die Inanspruchnahme der Hilfe auch geschäftsmäßig handelnder Personen oder Vereinigungen ermöglichen.

Zur Feststellung der Freiverantwortlichkeit des Suizidentschlusses bedarf es grundsätzlich mindestens zweier Untersuchungen in einem hinreichenden Abstand durch einen Facharzt für Psychiatrie; dies sichert die Ernsthaftigkeit und die Dauerhaftigkeit der Entscheidung. Für Härtefälle, etwa Sterbewillige in der Terminalphase, sind hiervon Abweichungen vorzusehen. Für eine informierte Entscheidung bedarf es einer individuell angepassten, umfassenden und ergebnisoffenen sowie multiprofessionellen und interdisziplinären Beratung. Diese Beratung soll den Zugang zu den individuell benötigten Hilfeangeboten eröffnen, beispielsweise auch zu psychotherapeutischen Behandlungen, Schulden- oder Suchtberatung. Zwischen der Beratung sowie der Feststellung der Freiverantwortlichkeit und der Suizidhilfe soll eine angemessene Wartefrist bestehen. Diese Beratung muss in ein verbindliches Konzept staatlicher und gesellschaftlicher Suizidprävention und einen Anspruch darauf eingebettet sein. Begutachtende Sachverständige und Beratende müssen gegenüber den Durchführenden der geschäftsmäßigen Hilfe bei der Selbsttötung unabhängig sein.

Eine Suizidhilfe für Minderjährige muss in jedem Fall ausgeschlossen sein, weil hier eine Freiverantwortlichkeit nicht sicher festgestellt werden kann. Zudem darf die Verwirklichung des Selbstbestimmungs- und Persönlichkeitsrechts nicht dem Schutz des Lebens übergeordnet werden. Denn die freie Entfaltung der Persönlichkeit ist erkennbar primär auf die Entfaltung im Leben orientiert; nach dem Tod ergibt das Recht auf Persönlichkeitsentfaltung keinen Sinn. Das bedeutet allerdings auch, dass auf alte und kranke Menschen kein sozialer Druck zum Suizid ausgeübt werden darf. Daher darf die Eröffnung des assistierten Suizides nicht zu einer gesellschaftlichen Normalisierung führen. Das christliche Menschenbild verbietet hier jede instrumentalisierende Verrechnung. Eine gesetzliche Regelung des assistierten Suizids muss daher um eine umfassende Suizidprävention und den Ausbau der Palliativversorgung ergänzt werden.

 

Ein Grundgesetz für das Leben

 

Um eine Verschiebung des gesellschaftlichen Klimas zu verhindern, muss auch die Werbung für Angebote geschäftsmäßiger Suizidhilfe, im Gegensatz zur Sachaufklärung durch Ärztinnen und Ärzte, unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls strafbar sein.

Schließlich ist bei der gesetzlichen Regelung der (geschäftsmäßigen) Suizidbeihilfe zu berücksichtigen, dass kein Anspruch auf Hilfe bei der Selbsttötung oder zu deren Unterstützung gegenüber staatlichen Stellen oder Dritten, insbesondere Ärztinnen und Ärzten, bestehen darf, wie es auch schon das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat (vgl. BVerfGE 153, 182, 310 Rn. 342). Mit seinem Urteil zur geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe hat das Bundesverfassungsgericht es dem Gesetzgeber nicht leichtgemacht. Es hat ausdrücklich den Raum für Regelungen offengelassen, gleichzeitig aber aus der starken Betonung von Autonomie und Selbstbestimmung die Grenzen für eine Regelung sehr eng gesteckt. Es ist nun Sache des Gesetzgebers, daraus ebenfalls unter Rekurs auf unser Grundgesetz eine kluge Regelung zu schaffen. Berufen kann er sich dabei darauf, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes mehr geschaffen haben als eine lose Sammlung subjektiver Rechte des Einzelnen; sie haben vielmehr eine Verfassungsordnung geschaffen, die Freiheit lässt, jedoch gleichzeitig von Wertentscheidungen durchdrungen ist. Und so steht zu Beginn unserer Grundgesetzartikel mit Artikel 1 die klare Aussage und der klare Auftrag: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist gleichermaßen die Eröffnung des Freiheitsraumes für den Einzelnen wie seine Begrenzung im Interesse ethisch-moralischer Grundkonstanten. Und hierbei durchzieht seit mehr als siebzig Jahren eine Leitlinie unsere Verfassung: Sie ist ein Grundgesetz für das Leben.

 

Ansgar Heveling, geboren 1972 in Mönchengladbach-Rheydt, seit 2018 Justiziar der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Mitglied im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz sowie im Wahlprüfungsausschuss.

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