Wer keine Heimat haben will,1 neigt dazu, sich denjenigen, denen Heimat wichtig ist, als vermeintlich heimatwurzelfreier Weltbürger meilenweit überlegen zu fühlen, wie Ijoma Mangold in seinem Buch Das deutsche Krokodil bestätigt. Seinen Vater aus Nigeria hat er erst spät kennengelernt und sich als Jugendlicher angewöhnt, seiner Mutter folgend, auf die Frage, wo er denn herstamme, zu antworten: „Wir sind aus Schlesien vertrieben.“ Diese Mitteilung löste negative Reaktionen aus, nicht nur, weil eine afrikanisch-rührende Geschichte erwartet wurde: „Neuerdings war es öfter vorgekommen, dass Mama mir ihren Missmut anvertraute über Freunde und Bekannte, die es nicht ertrugen, wenn sie die Vertreibung unserer Familie aus Schlesien erwähnte. Schon die Nennung des Namens Schlesien führe bei Abendessenseinladungen zu eisernen Reaktionen, als wäre das Erzählen von der eigenen Kindheit bereits ein erster Schritt zur Rückholung Schlesiens ins Reich.“2
Inzwischen sind die zwölf bis vierzehn Millionen Heimatvertriebenen integriert, was nicht bedeutet, dass ihre Sehnsucht und die ihrer Nachkommen nach der alten Heimat erloschen ist. Jeder Ortswechsel ist ein Neustart, der gelingen kann, aber nicht immer gelingt. Bei Flüchtlingen gibt es beide Erfahrungen, wie sich an einer Passage aus dem Buch Herztier von Herta Müller zeigen lässt: „‚Das ist nicht unser Haus, dort wohnen jetzt andere‘, schrieb ich der Mutter. ‚Zu Hause ist dort, wo du bist …‘ Und die Mutter schrieb mir zurück: ‚Was zu Hause ist, kannst du nicht wissen. Wo der Uhrmachertoni die Gräber pflegt, das ist sehr wohl zu Hause.‘“3
Brisante Verlassenheits-Entwicklung
Die Diskussion um Heimat hat nicht zufällig an Fahrt aufgenommen. Das liegt an einer dritten Gruppe neben Heimatdistanzierten und Heimatliebenden, den Heimatverlassenen, die an Bedeutung zugenommen und sich teils politisiert und radikalisiert hat. Die französische Gelbwesten-Bewegung zeigt die Brisanz einer solchen Verlassenheits-Entwicklung, wobei die Funktionsweise der Sozialen Medien eine solche Gefühlslage (die objektive Fakten vernachlässigt) anheizt. Heimat wird in dieser Sicht zur Wagenburg. Ausgrenzung von allem, was vermeintlich nicht zur Heimat gehört, wird zur Leitschnur des eigenen und vom Staat eingeforderten Handelns. Die Politik, auch die hiesige, hat, zumindest formal, darauf reagiert. Die Heimatministerien sowie die zahlreichen offiziellen und offiziösen Heimataktionen kommen nicht von ungefähr, ergänzt um Heimatbekenntnisse von Politikern, die bisher mit solchen Äußerungen nicht aufgefallen waren.
Dazugehören und sich wohlfühlen
Die Zivilgesellschaft und damit jeder Einzelne in seinem Handeln gegenüber dem Nächsten stehen in einem Zusammenhang mit der Heimat-Diskussion. Wer sich gut beheimatet fühlt, fühlt sich wohl, aufgehoben und zugehörig, wo und wie er (sie) lebt; das ist die umfassendste Definition von Heimat. Dieses „Dazugehören und sich wohlfühlen“ hat viele Stellschrauben, die sich in Richtung Beheimatung oder in Richtung Entheimatung drehen können.
Exemplarisch für den Facettenreichtum des Heimatbegriffs ist ein Definitionsversuch aus einer Ausstellung des Frankfurter Fotografen Andreas Varnhorn unter dem Titel „Heimat“ über Sorben in Deutschland: „Heimat bedeutet für mich, mit Freunden und Familie verbunden zu sein, sich jedes Mal auf’s Neue freuen, wenn man zurückkommt in die Heimat. Heimat ist, wo die Familie lebt, wo man aufgewachsen ist und was man auf keinen Fall missen möchte. Es ist die Mentalität, der Glaube. Heimat ist dort, wo die Menschen noch grüßen und wo den Menschen etwas an einem liegt.“4
Heimat, genauer betrachtet, entsteht durch Beziehungen, aus denen Zugehörigkeit und Vertrautheit erwächst: „Hier bist du richtig und hier kannst du bleiben.“ Vertrauen braucht eine faktische und eine emotionale Basis. Vertrauen ist ein Angst- und Verunsicherungsbekämpfer.
Es ist ja gerade der Wert des (deutschen) Heimatbegriffs, dass er den familialen Raum überschreitet und Nächste einschließt. Mit dieser Bemerkung ist das Tor zur Zivilgesellschaft geöffnet. Die Zivilgesellschaft ist durch rund 800.000 Organisationen gekennzeichnet. Jeder Verein ist ein Akteur heimatlicher Bindung. Diese Gemeinschaften bieten ebenso „wichtige Heimaten wie durch Herkunft, Geburt oder gar Staatsangehörigkeit begründete. Sie sind oft, wenn auch nicht notwendigerweise, enträumlicht und doch fest verankert im Netz personaler Beziehungen. Sie genießen Vertrauen und haben daher im Verhältnis zum Staat alter Prägung keine nachrangige Ergänzungsfunktion, sind auch nicht nett, sondern wichtig“,5 so der Zivilgesellschaftsexperte Rupert Graf Strachwitz.
Engagement ist verstärkte Kommunikation
Am Anfang einer Beziehung steht die bloße freundliche Duldung des Nächsten. Schritt zwei ist die informelle Zuwendung. Sie umfasst, so der Altenbericht,6 drei Formen: kleine und kurzfristige instrumentelle Hilfen im Alltag, alltagsrelevante Informationen und Ratschläge und emotionale Unterstützung. Der große Vorteil der informellen Nachbarschaftshilfe ist räumliche Nähe, Niedrigschwelligkeit, sofortige Verfügbarkeit und Selbstverständlichkeit. Allerdings ist diese Zuwendung unverbindlich. Man möchte tätig sein, aber weder kontinuierlich noch verbindlich. Schritt drei ist alles, was Menschen im Nahraum zueinander bringt. Ein Großteil der Freiwilligenarbeit ist hier angesiedelt. Andere Begriffe sind bürgerschaftliches Engagement oder Ehrenamt. Zu diesem Engagement gibt es verschiedene empirische Erhebungen. Den Goldstandard liefert seit 1999 der im Abstand von fünf Jahren durchgeführte, vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) finanzierte Freiwilligensurvey. Das Engagement ist im Umfang über die Jahre nicht nur stabil geblieben, sondern die Zahl der Engagierten hat sich sogar erhöht, insbesondere in den oberen Altersklassen. Lange galt die Ein-Drittel-Faustregel: ein Drittel ist engagiert, ein Drittel nicht, ein Drittel steht in Wartestellung. Die Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen seit 2015 hat bewiesen, dass die „Reservisten“ in erheblichem Umfang in besonderen gesellschaftlichen Situationen einspringen. Umfragen gehen von 23 Prozent Neulingen in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit aus. Ob die neu Engagierten aktiv bleiben, wünschenswerterweise auch in anderen Engagementfeldern, lässt sich zurzeit nicht absehen. Im letzten Freiwilligensurvey, veröffentlicht 2016, aber noch ohne das Flüchtlingsengagement, wird eine Steigerung gegenüber den Vorläufern auf nun 43,6 Prozent der Bevölkerung ab vierzehn Jahre angegeben, das wären 30,9 Millionen Menschen.7
Engagement ist verstärkte Kommunikation. Sie wirkt horizontal, das heißt unter den Engagierten, und vertikal. Engagement beheimatet schnell und nachhaltig.
Es gibt zwei konträre Heimatbilder: „Heimat als Wagenburg“ und „Heimat schrankenlos“. Beide Strömungen sind im politischen Spektrum vertreten. Sie sind demokratisch unverträglich und somit politisch wie gesellschaftlich brisant.
"Making Heimat"
Es gibt eine dritte Metapher: das teils geöffnete Haus. Und: Dieses Bild wurde realisiert. Die Macher des deutschen Beitrags zur Architekturbiennale in Venedig 2016 brachen dabei am Haus des Deutschen Pavillons, einer Gründerzeit-Villa, an drei Seiten des Gebäudes Löcher in die Wand, groß genug wie eine Tür und abgestützt. Das war die Ansage: Aufgelockerte Begrenzung, Neues darf eintreten, Heimatbildung ist nie abgeschlossen. Sie nannten die Ausstellung „Making Heimat“.8 Diese Botschaft führt auf kurzem Weg zur Frage an Individuen und Organisationen: Was ist dein Beitrag zur Beheimatung?
1 Der Beitrag bezieht sich an verschiedenen Stellen direkt oder indirekt auf das Buch des Autors „Wo Vertrauen ist, ist Heimat. Auf dem Weg in eine engagierte Bürgergesellschaft“, München 2018.
2 Ijoma Mangold: Das deutsche Krokodil, Hamburg 2017, S. 166.
3 Herta Müller: Herztier, Frankfurt am Main 2007 (4. Auflage 2009), S. 245.
4 „Heimat/Domizna“ – Ausstellung über katholische Sorben in der Oberlausitz. Zitiert wird Marko Jurk, ein Mann mittleren Alters, in seiner Heimat als Hochzeitsbitter tätig.
5 Rupert Graf Strachwitz: „Ein Begriff im Wandel. In Zeiten weltweiter Migration erfährt das alte Wort ‚Heimat‘ eine neue Bedeutung“, in: Rotary Magazin, Februar 2019, S. 60–63, hier S. 63.
6 Der 7. Altenbericht, auf den ich mich hier beziehe, stammt aus 2016. Es handelt sich um die Arbeit einer Expertenkommission unter Vorsitz des Heidelberger Gerontologen Andreas Kruse im Auftrag des Bundesfamilienministeriums (www.bmfsfj.de).
7 Allerdings weisen Kenner wie Roland Roth unter dem prägnanten Titel „Gewinnwarnung“ auf die, wie er es nennt, „wundersame Engagementvermehrung des Freiwilligensurveys 2014“ hin, was mit einem Wechsel des Erhebungsinstituts und der Erhebungsmethoden zusammenhängen könnte (bbe-Newsletter Nr. 10/2016).
8 Peter Cachola Schmal / Oliver Elser /Anna Scheuermann (Hrsg.): Making Heimat. Germany, Arrival Country. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung, Ostfildern 2016.
Henning von Vieregge, geboren 1946 in Lübeck, Politologe und Publizist, Assoziierter Wissenschaftler am Maecenata Institut, Berlin und am Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Hannover.