Man stelle sich vor: Es ist Wahltag in Deutschland. Vater, Mutter, Sohn und Tochter sitzen in bester Sonntagskleidung beim Frühstück. Nach Lektüre der Wochenendzeitung besuchen alle den Gottesdienst. Dann spazieren sie von der Kirche zum Wahllokal. Auf dem Weg treffen sie Nachbarn. Man unterhält sich über Zeitungsmeldungen und die im Familienkreis gesehene bunte Sendung des Samstagabendprogramms. Die Wahl selbst ist kein großes Thema, denn gewählt werden in der Regel die Volksparteien. Der Sonntag klingt aus mit Gewerkschaftssitzungen, bei der Gemeindearbeit oder im Verein.
Dieses romantische Bild eines Wahlsonntags traf auf die fünf vergangenen Wahlsonntage – Bundestagswahl, Europawahl und drei Landtagswahlen in jungen Bundesländern – vermutlich größtenteils nicht mehr zu. Viele der wählenden Rentner, Familien, Alleinerziehenden, Single-Haushalte, Patchwork-Gemeinschaften und Zuwanderer hatten ohnehin schon vor dem Wahltag von der Briefwahl Gebrauch gemacht. Statt der gemeinsamen Samstagabend-Familiensendung sahen die Jüngeren TV-Serien von Streaming-Diensten oder unterschiedliche digitale Kabelkanäle. Die Nachbarn kennen sich untereinander kaum noch. Auch die Ehrenämter in Kirchen, Gewerkschaften und Vereinen sind zunehmend geprägt durch temporäre Bindungen und projektbezogenes Engagement.
Die gesellschaftlichen Langzeitentwicklungen, die in den vergangenen Jahrzehnten die Wähler und damit das Wahlverhalten so tief greifend veränderten, sind hinlänglich bekannt. Der gesellschaftliche Wandel manifestiert sich im Parteiensystem vor allem durch den Verlust der langfristigen Parteiidentifikationen und ihrer Prägekraft. Wie in Gewerkschaften und Kirchen sinken in den Parteien die Mitgliederzahlen, das Durchschnittsalter der Mitglieder und Funktionäre steigt. Nur wenige neue Mitglieder können hinzugewonnen werden.
Vergebliche Suche nach Stammwählern
Es ist vor diesem Hintergrund bemerkenswert, dass bei den zahlreichen Analysen und Diskussionen von Wahlergebnissen und Wählerverhalten der Wahljahre 2013 und 2014 die tradierten Vorstellungen weiterhin eine große Rolle spielten. Offenbar fehlen bisher tragfähige interpretatorische Zugänge, um die gewandelte Wählerschaft und die damit verbundenen Auswirkungen auf Wahlergebnisse und Parteienlandschaft erfassen zu können. Trotz der seit Langem erkennbaren Bewegung sind viele Kommentatoren weiter auf der Suche nach „Stammwählern“, „Lagern“ und „Milieus“. Sehr bezeichnend für diese anhaltenden Retro-Analysen sind auch die angestrengten Bemühungen vieler, neue Phänomene in der Parteienlandschaft wie die Piratenpartei oder die AfD auf der klassischen Linksrechts-Skala verorten zu wollen.
Auch innerhalb der Parteien scheinen Vorstellungen wie die vom klassischen Wahlsonntag weiterhin verbreitete Leitbilder zu sein. So wird unter Parteimitgliedern bis heute die Forderung laut, dass die Parteien sich bemühen müssten, zu den bewährten Konzepten von Mitgliederparteien mit klarer weltanschaulicher Orientierung zurückzukehren. Mit Blick auf die Analyse der Wahlergebnisse tun manche noch immer so, als würden ihnen Wähler „gehören“. Verluste werden so interpretiert, als wären „eigene“ Wähler lediglich kurzfristig „weggelaufen“ und könnten durch inhaltliche Neupositionierungen zu bestimmten Fragen „zurückgeholt“ werden. Die bei der Bundestagswahl 2013, der Europawahl und den Landtagswahlen 2014 zu beobachtende Fortsetzung langfristiger Trends zur hochgradigen Individualisierung der Gesellschaft widerspricht dem deutlich. Natürlich ist es problematisch, von der Europawahl und von den Landtagswahlen in jungen Ländern Rückschlüsse auf Entwicklungen im Parteiensystem ziehen zu wollen. In der Bundesrepublik sehen die Wähler nur die Bundestagswahl als Wahl erster Ordnung an. Aber gerade in Bezug auf sinkende Parteiidentifikationen, späte Wahlentscheidungen und sehr hohe Volatilität sind die Europawahl und die Landtagswahlen in jungen Ländern mit der niedrigen Wahlbeteiligung und der aufgrund geringerer Bindungen traditionell höheren Experimentierfreudigkeit der Wähler für die Analyse von Interesse.
Ein Drittel der Wähler entschied sich 2013 anders als 2009
Mit Blick auf die Wahlergebnisse 2013 und 2014 wird schnell klar: Wählerschaft und Parteiensystem geraten immer mehr in Bewegung. Mehr als ein Drittel aller Wähler entschied sich 2013 bei der Bundestagswahl anders als im Jahr 2009. Ebenfalls deutlich mehr als ein Drittel fasste seine Wahlentscheidung erst in den letzten 72 Stunden vor dem Urnengang. Die Unionsparteien verloren etwa ein Viertel ihrer Wähler von 2009 unter anderem an andere Parteien und an die Nichtwähler. Gleichzeitig gehörte etwa ein Drittel der Unionswähler von 2013 zu den Wählern, die noch 2009 eine andere Partei gewählt hatten. Diese Bewegungen erzeugen große Unwägbarkeiten, die bei kommenden Wahlen vermutlich eine noch stärkere Rolle spielen werden.
Projiziert man die Trends in die Zukunft, so scheint es, dass es für künftige Wahlerfolge weniger darauf ankommen könnte, die vermeintlich „eigenen“ Wähler zu „bedienen“. Vielmehr wird es entscheidend sein, ungebundene Wähler jedes Mal aufs Neue zu überzeugen. Damit ist jede Kampagne ein Kampf um die Aufmerksamkeit aller Wähler. Dies wird vor allem durch erfolgreiche Problemlösung im Regierungshandeln möglich sein und weniger durch Besetzung von weltanschaulichen Positionen im politischen Diskurs. Will man die Ergebnisse von heute nur beibehalten, dann stellt sich allein mit Rücksicht auf den demografischen Wandel die Notwendigkeit, dass die Parteien – insbesondere die Volksparteien – ständig neue Wähler hinzugewinnen.
In der Analyse lassen sich die Ergebnisse von Bundestagswahl, Europawahl und den drei Landtagswahlen auf drei Kernpunkte reduzieren: Die Unionsparteien sind gestärkt, die FDP ist abgestiegen, und mit der AfD ist eine neue Partei gewählt worden. Nimmt man den klaren Trend zur Volatilität des Wählerverhaltens ernst, passen die Ergebnisse für FDP und AfD ins Gesamtbild. Gerade die Wahlergebnisse der FDP illustrieren die Risiken und Unwägbarkeiten eines Parteiensystems in Bewegung. Dem größten Erfolg der Partei im Wahljahr 2009 folgte die größte Niederlage 2013.
Kommen und Gehen neuer Parteien
Die Ergebnisse der AfD machen wie vorher schon der Auf- und Abstieg der Piratenpartei deutlich, dass sinkende Parteiidentifikation, spätere Wahlentscheidungen und die geringere Bedeutung weltanschaulicher Orientierungen bedeuten, dass es derzeit offenbar einfacher wird, eine neue Partei zu gründen und kurzfristig gute Ergebnisse zu erzielen. Im Fall der AfD wirkten Europawahl und Landtagswahlen in den drei jungen Ländern dabei wie ein Inkubator, da dort die Parteiidentifikationen eine noch geringere Rolle spielen und die Beteiligung an den als Wahlen zweiter Ordnung wahrgenommenen Abstimmungen geringer ist. Der Blick ins europäische Ausland zeigt, dass volatile Wählerschaften für ein Kommen und Gehen neuer politischer Parteien sorgen, von denen sich viele den klassischen Links-rechts-Erklärungsmustern entziehen.
Daraus lässt sich für die politische Planung eine wichtige Erkenntnis ziehen. Ist der Aufstieg neuer Parteien in erster Linie eine Folge der Volatilität und zunehmend ungebundener, sehr heterogener Wählerschaften, dann ist es eine Illusion aus der „Zeit der alten Wahrheiten“, andere Parteien könnten durch Besetzung bestimmter Positionen auf dem Links-rechts-Spektrum die Wähler neuer Parteien „zurückgewinnen“. Die Langzeittrends deuten darauf hin, dass man sehr wahrscheinlich mit dem recht schnellen Auf- und Abtauchen neuer Parteien weiter rechnen muss. Die Verhärtung inhaltlicher Positionen erzeugt bei einer sehr heterogenen Wählerschaft vermutlich eher einen Fragmentierungssog als eine Stabilisierung.
Vor dem Hintergrund der geschilderten Volatilität liegt das überraschende Ergebnis der zurückliegenden Wahlen in der anhaltenden Stärke der Unionsparteien. Diese bleibt im Meinungsklima sogar ungewöhnlich stabil und sogar ein Jahr nach der Bundestagswahl in der Nähe des Wahlergebnisses von über vierzig Prozent. Direkt nach der Wahl 2009 war von der Auflösung der alten Gewissheiten und sogar vom vermeintlichen Ende der Volksparteien die Rede. Dieser Schluss war offenbar verfrüht. Doch bedeuten die aktuellen Wahlergebnisse auch nicht, dass die Zukunft der Volksparteien bereits gerettet sei. Nimmt man Langzeitentwicklungen und die immer größere Beweglichkeit der Wählerschaft ernst, dann muss man sich wohl der Sichtweise annähern, dass die stabil hohe Zustimmung zu den Unionsparteien keine Rückkehr zu Altbekanntem widerspiegelt, sondern den Beginn von etwas Neuem darstellt. Ein Wahlergebnis von 41,5 Prozent im volatilen System des Jahres 2013 ist etwas anderes als vierzig Prozent und mehr in vergangenen Zeiten mit hohen Parteiidentifikationen und stärkerer gesellschaftlicher Homogenität. Für die Diskussion um die Zukunft der Volksparteien bedeuten die Wahlergebnisse zwar, dass es trotz der einer schnell fortschreitenden Individualisierung möglich ist, die Gesellschaft in ihrer Verschiedenheit mit einer Partei anzusprechen und abzubilden. Jedoch müssen sich dafür die Volksparteien verändern.
Die Zuschreibung der guten Wirtschafts- und Arbeitsmarktsituation zum Regierungshandeln der Union hat für die Wahlergebnisse eine Rolle gespielt. Auch die frühzeitige Umorientierung in Richtung Akzeptanz eines Mindestlohns in wirtschaftlich guten Zeiten wird zur hohen Zustimmung beigetragen haben. Vor allem aber greift ein Personalisierungseffekt, durch den die stabil hohe persönliche Zustimmung der Bürger zur Bundeskanzlerin Angela Merkel die Position der Unionsparteien als Volksparteien stabilisiert. Auch die Ergebnisse der Europawahl und der Landtagswahlen zeigen, dass Personalisierungseffekte in volatiler werdenden Wählerschaften immer stärker zum Tragen kommen. Das lässt sich an den Wirkungen der Zustimmung zu Merkel und Martin Schulz bei der Europawahl ebenso ablesen wie an der dominierenden Position von Stanislaw Tillich in Sachsen und dem starken Ergebnis für Dietmar Woidke in Brandenburg.
Beweglich bleiben!
Die Ergebnisse der Bundestagswahl 2013 sowie der Europawahl und der Landtagswahlen 2014 deuten darauf hin, dass sich die gesellschaftlichen Langzeitentwicklungen auch künftig im Trend zu immer höherer Volatilität der Wählerschaft für die Parteien und das Parteiensystem bemerkbar machen werden. Langfristige Bindungen und ideologische Orientierungen werden weniger eine Rolle spielen als die Wirkung von Personen und die Demonstration konkreter Problemlösungsfähigkeit. Letzteres legt zudem nahe, dass sich die Position von Volksparteien in den neuen und sich weiter verändernden Rahmenbedingungen eher durch erfolgreiches Regierungshandeln stärken lässt.
Aus den Wahljahren 2013 und 2014 lässt sich somit die recht simple Schlussfolgerung ableiten, dass Personalauswahl und das Erkennen und Fördern politischer Talente für die Parteien deutlich an Bedeutung gewinnen müssen. Heterogene und individualisierte Wählerschaften durch erfolgreiche Problemlösungen zu überzeugen, erfordert außerdem ein Nachdenken über die gesellschaftliche Anbindung von Parteien, wenn die personelle Erneuerung von Mitgliedern mit dem Tempo des gesellschaftlichen Wandels nicht Schritt hält. Problemlösungsfähigkeit lässt sich natürlich nur demonstrieren, wenn die Parteien die Fähigkeit haben, die für ihre sehr unterschiedlichen Wähler relevanten Probleme aufzunehmen und zu verarbeiten. Gleichzeitig legen die Wahlergebnisse nahe, dass die Parteien unterschiedliche politische Anschlussfähigkeiten gezielt entwickeln müssen, um in die Regierungsposition zu kommen, von der aus praktische Problemlösungsfähigkeit gezeigt werden kann.
Der Erfolg der Union, deren siebzigjähriges Bestehen 2015 dann auch 45 Jahre Kanzlerschaft bedeutet, beruht maßgeblich auf der Fähigkeit, sich immer wieder den gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Der Blick auf die fünf Wahlen der Jahre 2013 und 2014 lässt vermuten, dass die inhaltliche, organisatorische und partizipatorische Beweglichkeit der Parteien zunehmend zu den entscheidenden Erfolgsfaktoren für politische Stabilität werden könnten.
Nico Lange, geboren 1975 in Berlin, Leiter der Arbeitsgruppe „Zukunft der Volksparteien“ der Konrad-Adenauer-Stiftung.