Asset-Herausgeber

von Carsten Wieland

Die Syrien-­Konferenzen als Beispiel für die Herausforderung internationaler Konfliktlösung

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Der seit 2011 bestehende syrische Konflikt ist einer der komplexesten und grausamsten weltweit. Seine Deeskalation hat sich bislang als unlösbare Mediationsaufgabe mit verschiedenen Ebenen, Arenen und Prozessen erwiesen. Neben dem internationalen Auftrag an die Vereinten Nationen (UN), einen Syrien-Sondergesandten mit dieser Mammutaufgabe zu betrauen, haben sich Kriegsparteien selbst Foren gegeben, in denen sie nach ihren eigenen Vorgaben Einfluss zu nehmen versuchen, um den Konflikt zu lösen oder zumindest zu ihrem Vorteil zu befrieden.

Schauen wir zunächst, wie die jetzigen Friedensbemühungen zustande kamen und wie sie sich entwickelten: Oft wird vergessen, dass ein wichtiger Anstoß zur Wiederbelebung der gescheiterten Friedensbemühungen der UN und der Arabischen Liga unter den Vermittlern Kofi Annan und Lakhdar Brahimi 2012 beziehungsweise 2014 ein externer Faktor war: nämlich das internationale Nuklearabkommen mit dem Iran, das indirekt die Türen für einen neuen Friedensprozess zu Syrien öffnete. Der sogenannte Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA) wurde zwischen dem Iran, den fünf permanenten Mitgliedern im UN-Sicherheitsrat plus Deutschland und der Europäischen Union (P5 + 1 + EU) im Juli 2015 unterzeichnet und bis Oktober desselben Jahres ratifiziert. Dadurch wurde ein entscheidender Nebeneffekt für das Syrien-Dossier erzielt: Endlich war es denkbar und möglich geworden, dass sich die USA und der Iran an einen Tisch setzen.

Sondervermittler Brahimi hatte es als großes Manko empfunden, dass in seinen Mediationsbemühungen der Iran als wichtige Kriegspartei in Syrien stets außen vor bleiben musste. Als er im Februar 2014 zusehen musste, dass die „Orangene Revolution“ in der Ukraine die beiden internationalen Hauptsäulen des Prozesses, die USA und Russland, voneinander entfremdete, war ihm klar, dass die direkten Verhandlungen zwischen der syrischen Regierung und der Opposition ins Leere liefen. Brahimi, früherer algerischer Außenminister und erfolgreicher Mediator im Libanonkrieg, zog Konsequenzen, brach die Gespräche ab und trat Ende Mai 2014 mit einer Entschuldigung beim syrischen Volk zurück.

Iran, Russland und die UN-Resolution 2254

Sein Nachfolger, der schwedisch-italienische UN-Diplomat Staffan De Mistura, war sich bewusst, dass zwei bedeutende Männer vor ihm gescheitert waren, eine politische Lösung für das zerschundene Land zu erreichen. Er versuchte es daher zunächst durch die Hintertür mit Sondierungen (Consultations) unter Einbeziehung aller Parteien und der Zivilgesellschaft sowie mit begrenzten Waffenstillstandsbemühungen (Freezes). Nichts davon trug Früchte, bis das Iran-Abkommen erreicht wurde.

Kurz nach der Ratifizierung des Nuklearabkommens entwickelte sich eine neue internationale Dynamik. Die International Syria Support Group (ISSG) gründete sich im Herbst 2015 in Wien als ein loser Zusammenschluss von zwanzig Staaten, um den politischen Prozess zu Syrien voranzubringen. Ihren Vorsitz übernahmen die USA und Russland gemeinsam. Iran saß diesmal mit am Tisch. Ein weiterer externer Faktor kam hinzu: Ende September 2015 begann die militärische Intervention Russlands in Syrien.

Das russische Engagement sollte sich einerseits als der entscheidende Impuls erweisen, damit sich das Regime von Baschar al-Assad militärisch erholen konnte, nachdem ihm 2013 bereits die schiitische Hisbollah-Miliz aus dem Libanon zur Seite gesprungen war. Andererseits hatten die Türkei, Katar, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, die USA und andere Staaten syrische Rebellen unterstützt, allerdings nie in ausreichender Koordination und mit letzter politisch-militärischer Konsequenz. Syrien war also längst zu einem Schauplatz regionalen und internationalen Kräftemessens geworden, als Ende 2015 mit der ISSG ein dritter Anlauf zu Syrien-Verhandlungen unternommen wurde.

Aus den Verhandlungen in Wien gingen wichtige politische Erklärungen und die UN-Resolution 2254 hervor, die zum Mandat für die neuen Verhandlungen wurde. Die Kriegsparteien wurden darin erneut aufgerufen, ihre Kampfhandlungen gegen Zivilisten einzustellen und im Januar 2016 an den Verhandlungstisch zu kommen. Gleichzeitig berief sich die Resolution auf das Genfer Kommuniqué von 2012, das als Lösungsweg einen Übergangsrat (Transitional Governing Body, TGB) vorsah, der alle exekutiven Vollmachten erhalten und in gegenseitigem Einvernehmen entstehen sollte. Bei der extremen Polarisierung der Konfliktparteien in Syrien war dies kaum vorstellbar und blieb eher eine diplomatische Floskel, auf die sich das Lager der USA einerseits und das Russlands andererseits einigen konnten. Zudem definierte die UN-Resolution 2254 die Rolle der Oppositionsparteien und beinhaltete Elemente eines möglichen Zeitplans für eine Verfassungsreform und Neuwahlen. Die militärischen Fakten entwickelten sich jedoch schneller als die Konfliktlösung. Im Prinzip sollte der Ruf nach einem Übergangsrat – also, unverschlüsselt gesagt, dem Machtverlust Assads – bald zu einem Relikt aus der früheren Phase des Konflikts werden. Denn der massive Einsatz Russlands und des Irans für den Diktator in Damaskus hatte den Konflikt immer asymmetrischer werden lassen. Für einen externen Mediator ist dies keine gute Ausgangsposition, um die stärkere Seite an den Verhandlungstisch zu locken und zu Zugeständnissen zu bewegen.

Ermutigt durch die Wiener Treffen und die Resolution 2254, lud UN-Sondervermittler De Mistura schließlich Ende Januar 2016 in Genf zu „Gesprächen“ ein (Intra-Syrian Talks). Er vermied es, von Verhandlungen zu sprechen, da die Bereitschaft dazu vor allem auf Regierungsseite schwer erkennbar war und bis heute bleibt. Bis zum heutigen Tag haben in Genf keine substanziellen Verhandlungen stattgefunden, sondern lediglich Gespräche über Verhandlungen.

Gespräche nach syrischem Bombenhagel abgebrochen

Die wichtigste Opposition, die sich zum Hohen Verhandlungskomitee (High Negotiations Committee, HNC) unter dem desertierten syrischen Ministerpräsidenten Riad Hijab zusammengeschlossen hatte, wollte 2016 erst gar nicht in das Palais des Nations nach Genf kommen. Sie protestierte gegen den zunehmenden Bombenhagel des Regimes und seiner Alliierten auf Dörfer, Städte, Schulen, Krankenhäuser und Bäckereien. Zugleich wurde sie von Saudi-Arabien und vor allem Katar beeinflusst, die den Verhandlungen damals skeptisch gegenüberstanden. In letzter Minute sahen Teile des HNC jedoch ein, dass ein Fernbleiben ihrem Ziel, der Opposition eine international wahrgenommene Stimme zu verleihen und sie auf Augenhöhe mit der syrischen Regierung zu positionieren, eher geschadet hätte.

Nach wenigen Tagen wurden die neu aufgenommenen Gespräche jedoch aufgrund zahlreicher Bombenangriffe auf die Oppositionsgruppen im Kriegsgebiet abgebrochen. Im Februar 2016 traf sich die ISSG am Rande der Sicherheitskonferenz in München erneut. Es war klar, dass der Teufelskreis der Gewalt zur Realisierung sinnvoller Gespräche durchbrochen werden musste. In der Tat einigten sich die USA und Russland als treibende politische Kräfte auf eine Waffenruhe, die einige Wochen anhielt. Jeweils eine Taskforce für Waffenstillstand und für Humanitäres sollte auf Arbeitsebene im ISSG-Format die Entwicklungen in Genf begleiten.

Auf dieser Basis fanden schließlich mehrere zweiwöchige Gesprächsrunden in Genf statt, bis sie Ende Mai erfolglos abgebrochen wurden. Dieses Mal sahen sich die Regierung und die Opposition jedoch nicht wie unter Brahimi ins Gesicht, sondern trafen sich getrennt mit dem UN-Sondergesandten und seinem Team (Proximity Talks).

Konflikt innerhalb kurzer Zeit ausgeufert

Mehrere Faktoren erschwerten den politischen Prozess: wachsende militärische und politische Asymmetrie zugunsten einer Konfliktpartei (Assad); Bremser aufseiten der Stellvertreter-Kriegsherren vor allem in der Golfregion; daher fehlende Erschöpfung der Kriegsparteien (vor allem des Regimes); regionale Machtkämpfe, vor allem Iran gegen Saudi-Arabien; zunehmende Zerrissenheit zwischen dem westlichen Lager und Russland und damit Blockade des UN-Sicherheitsrats; zersplitterte Repräsentanz der Opposition mit vielfältiger Einflussnahme externer Akteure; kein dauerhafter Waffenstillstand; schleichender Bedeutungsverlust der ISSG und internationaler Unterstützung.

Die USA befanden sich 2016 im Wahlkampffieber, und nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten meldeten sich die Amerikaner de facto für mehrere Monate im Nahen Osten vom diplomatischen Parkett ab. Zuvor waren die letzten Bemühungen der Obama-Administration und Russlands gescheitert, sich auf einen Waffenstillstand und zugleich auf die Bekämpfung der radikal­islamischen Al-Nusra-Front zu einigen. Es fehlten Impulse, Konzepte und glaubhafte Gegengewichte. Das Blutbad in Syrien setzte sich fort, und immer mehr Syrer waren vom politischen Prozess in Genf frustriert.

Während dieses diplomatischen Vakuums stießen die Regierungstruppen mit heftiger russischer und iranischer Unterstützung auf Syriens größte Stadt Aleppo vor, deren Ostteil bis dahin von der oppositionellen Freien Syrischen Armee gehalten wurde. Allerdings hatten sich dort auch Elemente der Al­Nusra­Front verschanzt. Als Aleppo nach heftigen Gefechten und einer großen Zahl ziviler Opfer kurz vor Weihnachten 2016 fiel, hatten seit acht Monaten keine Syrien-Gespräche mehr stattgefunden.

Zugleich zerfiel der Konflikt in immer mehr Unterkonflikte, was eine Lösung im Rahmen des ursprünglich konzipierten UN-Formats erschwerte. Der Ausgangskonflikt – Regime gegen Bevölkerung – trat immer weiter in den Hintergrund. Denn weitere Konfliktebenen kamen hinzu: säkular gegen islamisch, Sunniten gegen Schiiten, kurdisch gegen arabisch, Kurden gegen Kurden, Türkei gegen PYD­Kurden (PKK­Ableger in Syrien), eine Vielzahl regionaler Spannungen und Stellvertreterkriege sowie der Showdown zwischen Russland und den USA plus Westmächte im UN-Sicherheitsrat. Selten ist ein Konflikt innerhalb so kurzer Zeit derart ausgeufert. Das Genfer Kommuniqué und die UN-Resolution 2254 decken inzwischen nur noch einen Teil des Konfliktszenarios auf syrischem Territorium ab.

Die Provinz Idlib: der letzte Zufluchtsort

Nach dem Fall Aleppos wuchs sowohl in Damaskus als auch in Moskau und Teheran die Zuversicht, den Konflikt womöglich doch militärisch lösen zu können. Gleichzeitig wollte Russland das militärische Engagement weiterhin von einem politischen Prozess begleiten lassen. Die Ungeduld der russischen Seite mit der „untätigen“ UN nahm zu, da aus Genf keine neuen Impulse erfolgten. Zwar hatte der Sondergesandte De Mistura mit zum Teil dramatischen Appellen an die Kriegsparteien versucht, eine humanitäre Katastrophe in Aleppo zu verhindern, jedoch wurde damit die Ohnmacht der UN deutlich, wenn die Unterstützung maßgeblicher Staaten ausbleibt.

Russland entschied, zumindest einen Teil des Verhandlungsprozesses selbst in die Hand zu nehmen. Zugute kam dem Kreml, dass sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan inzwischen von seiner scharfen Anti-Assad-Rhetorik verabschiedet hatte und angesichts der asymmetrischen Lage pragmatische Lösungen zum türkischen Vorteil suchte. So entstand Anfang 2017 das sogenannte Astana-Format, benannt nach der kasachischen Hauptstadt. Die drei Garantoren von Astana – Russland, Iran und die Türkei – begannen in einem Prozess, der sich mehr als ein halbes Jahr hinzog, Syrien in sogenannte Deeskalationszonen aufzuteilen. Ziel war es, die Gewalt einzudämmen. Diese Zonen umfassten Gebiete, in denen die Rebellen noch Kontrolle ausübten.

Tatsächlich schrumpfte jedoch während der kommenden Monate eine Zone nach der anderen, bis sie schließlich vollständig vom Regime und seinen Alliierten zurückerobert wurden. Übrig blieb die Provinz Idlib, wohin die meisten Zivilisten und oppositionellen Kämpfer der anderen Zonen evakuiert worden waren. Sie blieb der letzte Zufluchtsort. Über Idlib gerieten die Türkei und Russland fast in einen militärischen Konflikt, den beide Seiten im September 2018 (vorerst) schlichten konnten. Die Türkei bleibt Garantorstaat von Idlib, hat sich allerdings dazu verpflichtet, moderate von radikalen Kämpfern zu trennen und die Al-Nusra-Front zu bekämpfen.

Vor dem Hintergrund der Gefahr, dass die politische Dynamik vollends von Genf nach Astana abdriftete, lud De Mistura im Frühjahr 2017 erneut zu Gesprächen in die Schweiz. Allerdings gab es keine Anzeichen, dass sich die Verhandlungsbereitschaft der Regierung in Damaskus erhöht hätte. Eher im Gegenteil, da die Zeit militärisch für Assad arbeitete. Die Gesprächsrunden verliefen dementsprechend inhaltsleer und in recht großen Intervallen.

Gespräche über Gewaltreduzierung und Gefangenenaustausch

Die UN musste entscheiden, wie sie mit der Entwicklung von Astana umgehen sollte. De Mistura entschied sich, den Astana-Prozess, den er nicht verhindern konnte, zu einem Gewinn für Genf zu machen. Daher nahmen er und/oder sein Team an verschiedenen Treffen teil. Dort waren neben den Garantoren die syrische Regierung und die ausschließlich militärische Opposition mit einigen zivilen Beratern vertreten. Inhalt der Gespräche war eine Gewaltreduzierung als Voraussetzung für weitere Verhandlungen in Genf. De Mistura versuchte in Astana ebenfalls, das Thema der zahlreichen politischen Gefangenen in Syrien und einen Gefangenenaustausch voranzutreiben. Jedoch gingen auch diese Bemühungen über die Einrichtung einer Arbeitsgruppe (bisher) nicht hinaus.

Seither liefen also zwei Prozesse, Genf und Astana, nebeneinander her. Das Thema Waffenruhe wurde sozusagen aus Genf outgesourct. Die ISSG spielte als Gestaltungsfaktor keine Rolle mehr.

Ein kleiner Fortschritt wurde jedoch unterdessen in Genf erzielt: Mithilfe des Teams des UN-Sondergesandten kamen die drei wettstreitenden Oppositionsgruppen – das HNC sowie die sogenannten Plattformen von Kairo und Moskau – erstmals gemeinsam zu technischen Gesprächen zusammen. Sie diskutierten ihre gemeinsamen Vorstellungen über einen zukünftigen Verfassungsprozess und darüber, wie UN-überwachte Wahlen im Land aussehen könnten. Diese neue Dynamik führte schließlich zur politischen Vereinigung der Opposition bei der Riad-II-Konferenz im November 2017 unter saudischer Schirmherrschaft. Die neue Organisation mit dem moderaten Nasser Hariri an der Spitze trug von nun an den Namen Syrisches Verhandlungskomitee (Syrian Negotiation Commission, SNC). Saudi-Arabien hatte sich zuvor ebenfalls aus dem harten Anti-Assad-Lager verabschiedet und die militärische Unterstützung von Rebellen eingestellt.

Als sich die militärische Lage aus Sicht des Regimes und der Alliierten weiter verbesserte, kam aus Russland eine weitere Idee. Ein „Volkskongress“ im russischen Bade- und Olympiaort Sotschi sollte die „Versöhnung“ voranbringen und ein Verfassungskomitee gründen. Eigentlich war dies eine Kernaufgabe des Genfer Prozesses gemäß der Resolution 2254. Die UN stand wiederum vor der Entscheidung, wie sie mit einer neuen Entwicklung umgehen sollte.

Verfassungskomitee bisher nicht zustande gekommen

Nach intensiven Verhandlungen am Rande der intra-syrischen Gespräche im Januar 2018 in Wien erzielten die UN und Russland einen Kompromiss, wonach die 1.600 geladenen Delegierten in Sotschi lediglich die Gründung eines Verfassungskomitees beschließen sollten, das unter UN-Regie in Genf geformt und gegründet werden und die Arbeit aufnehmen sollte. Die syrische Regierung, die Sotschi skeptisch beäugte und nur mit einzelnen Delegierten und nicht als Institution teilnahm, war gegen diese Abmachung. Sie steht bis heute auf dem Standpunkt, dass eine Verfassungsreform, wenn überhaupt, dann nur in Damaskus und unter den Bedingungen der Regierung stattfinden könne.

Hier entstand also eine Kluft zwischen der syrischen Regierung und ihren Unterstützern. Aber auch die SNC-Opposition war nicht glücklich. Sie hatte sich entschieden, Ende Januar nicht nach Sotschi zu fahren, und kritisierte, dass der UN das Heft aus der Hand genommen und zudem der Prozess auf eine Verfassungsdebatte verengt würde. Schließlich beinhalte die UN-Resolution 2254 auch, die Verhältnisse in Syrien so zu verbessern, dass eine ernsthafte politische Debatte überhaupt stattfinden könne. Besonders die Zusicherung an Oppositionelle müsse gewährleistet sein, an einem politischen Prozess in Syrien teilnehmen zu können.

Die Sotschi­Erklärung, die nach der Großkonferenz entstand, sprach der UN zwar das Gestaltungsrecht zu, allerdings ist ein Verfassungskomitee bis Ende 2018 nicht zustande gekommen. In den Monaten nach Sotschi erfolgten auch keine intra-syrischen Gespräche mehr, sondern es fand nur ein diplomatisches Tauziehen hinter den Kulissen statt. Unter dem Druck Russlands händigte die Regierung der UN zwar eine Liste mit fünfzig Experten für ein solches Komitee aus. Auch der SNC überreichte seine Liste der UN. Allerdings entbrannte ein Streit darüber, welche Kräfteverhältnisse innerhalb des dritten Drittels von Experten und Vertretern der Zivilgesellschaft herrschen sollten, die sich die UN zu bestimmen vorbehalten hatte.

Letzten Endes wurde deutlich, dass auf der Sotschi-Konferenz, die von den drei Astana-Garantoren getragen wurde, zwar ein Kompromiss erzielt wurde, der der UN in Genf einen entscheidenden Fortschritt zumindest auf dem Teilgebiet der Verfassungsdebatte hätte bringen können. Doch der politische Wille, dieses Verfassungskomitee tatsächlich umzusetzen, war auch Monate nach Sotschi nicht ausreichend sichtbar. Militärisch ging es seit Sotschi im Januar 2018 parallel dazu wie gewohnt weiter: Eine Rebellenhochburg nach der anderen fiel in die Hände des Regimes, teils durch militärische Zermürbung, teils durch von Russland hart verhandelte „Versöhnungsabkommen“, wie in Ost-Ghouta und im südlichen Daraa, wo die syrische Revolution im März 2011 einst friedlich begonnen hatte.

Geometrie der internationalen Akteure zersplittert

Zugleich wird eine De-facto-Zersplitterung Syriens immer deutlicher: in einen bevölkerungsreichen Rumpfstaat, der durch die Assad-Diktatur mit militärischer Unterstützung Russlands und des Irans regiert wird, in einen türkisch besetzten oder unter militärischer Verantwortung stehenden Nordwesten (Teile der Provinz Aleppo, Afrin und die letzte Deeskalationszone Idlib) und in einen Nordosten (knapp ein Drittel des syrischen Staatsgebiets, allerdings großenteils Wüstenland), der von den USA in Koordination mit der kurdischen PYD gehalten und verwaltet wird.

Auch die Geometrie der internationalen Akteure zersplittert weiter. War es zunächst die ISSG, die den Syrien-Prozess trug, sind die treibenden Kräfte nun das Astana-Trio und eine an Selbstbewusstsein gewachsene sogenannte Small Group (USA, Großbritannien, Frankreich, Saudi-Arabien, Jordanien, Deutschland, Ägypten), eine lose Gruppe arabischer Staaten, die ihre Stimme gegen die nicht-arabischen Astana-Staaten erheben, sowie andere temporäre Allianzen, wie der Vierer-Gipfel mit der Türkei, Russland, Deutschland und Frankreich im Oktober 2018 in Istanbul. Hinzu kommt, dass die USA unter Donald Trump das Atomabkommen mit dem Iran 2018 wieder aufgekündigt haben, sodass eine inklusive Formation wie die ISSG auf hoher Ebene mit dem Iran derzeit nicht mehr denkbar ist.

Schließlich bleibt auch der politische Prozess fragmentiert. Während die Bemühungen in Genf weiter stocken, bleibt das Astana-Trio aus höheren politischen Erwägungen heraus zum gegenseitigen Interessenausgleich und als Konfliktlösungsmechanismus zwischen den beteiligten Staaten bestehen. Gleichzeitig wird klar, dass das Astana-Trio auch mit dem Verfassungskomitee keine Eile hat. Die Zeit arbeitet zumindest nicht gegen die drei Staaten. De Mistura kündigte im Oktober nach vier Jahren und vier Monaten als UN-Sondergesandter seinen Rücktritt an. Mit einem Verfassungskomitee in letzter Minute oder der Herausforderung, wieder bei Null in Genf anzufangen, muss nun sein Nachfolger fertigwerden – voraussichtlich der norwegische Diplomat und Nahost-Kenner Geir Pedersen. Stattdessen hat Moskau Ende 2018 einen zweiten Sotschi-Kongress vorgeschlagen. Sotschi könnte also zu einem weiteren Parallelprozess werden, mit dem die UN umgehen muss.

Carsten Wieland, geboren 1971 in Mannheim, Diplomat und Buchautor, Syrien-Experte, politischer Berater des UN-Sondergesandten für Syrien mit Sitz in Genf.

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