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Wie viel Big Data erträgt die Freiheit?

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2014 ist ein Jahr, in dem Deutschland auf ein politisches Wunder zurückblickt: Vor einem Vierteljahrhundert fiel die Berliner Mauer. Die Bürger der DDR, die jene zynische Grenzanlage einrissen, sehnten sich nach einem Alltag ohne Grenzen. Ihre große Sehnsucht war die Freiheit, ihre Güterabwägung: Freiheit gegen totalitäre Kontrolle, Soziale Marktwirtschaft gegen zentralistische Planung, Privateigentum gegen Volkseigentum.

Fünfundzwanzig Jahre später hat sich viel verändert in Gesamtdeutschland. Begeistert gibt sich das Volk den neuen, schicken Medien der totalen Überwachung hin. Sie sind Legion, ihre Namen: iCloud, Google Fit, Facebook Chronik, Telematiktarif, kurz: Big Data. Sie sind integraler Bestandteil unserer Existenz geworden, die nicht mehr nur physisch, sondern auch digital ist. Die Big-Data-Religion: der optimierte Mensch. Die Mittel: Sensoren überall, mathematische Analysemodelle und autonome Kontrollmechanismen. Erst sie ermöglichen das Big-Data-Geschäftsmodell, das uns Hoffnung und Träume verkaufen will.[1]

Was daran soll falsch sein? In keiner anderen Epoche hat der Mensch mehr Freiheiten genossen als heute. Nie ging es unserer Zivilgesellschaft materiell besser. Nie gab es humanere Arbeitsbedingungen und mehr Freizeit, sich selbst zu verwirklichen. Die Optionen, zu sein, wer man will, zu tun, was man nicht lassen kann, waren niemals zahlreicher als im digitalen Zeitalter. Und möglich macht sie der Panoptismus aus Silicon Valley. Er maximiert Nutzen und Aufmerksamkeit, Bequemlichkeit und Spaß. Mit der modernen Wanze in der Hosentasche, dem Smartphone, scheint die Freiheit des Menschen, der sich freier fühlt als je zuvor, grenzenlos. Wenn Sie so denken, lesen Sie nicht weiter.

 

Fruchtbarer Boden: die Krise der Identität

Eine erfolgreiche Totalüberwachung braucht den fruchtbaren Boden einer gesellschaftlichen Geisteshaltung. Seit dem Mauerfall hatten sich Individualismus und Relativismus verbündet. Seitdem kann der Einzelne aus einer Menge „gleich gültiger“ Dinge beliebig wählen, ohne sozialen Zwängen unterworfen zu sein. Doch die Freiheit des Individualisten hat Schattenseiten: Sie fordert maximale Selbstverantwortung bei gleichzeitig wachsender Komplexität des Alltags mit einem schier endlosen Universum von Alternativen. Sie geht einher mit quälender Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, die in einer Identitätskrise gipfelt. Wohin gehöre ich, was soll ich als Nächstes tun, wer bin ich und wie viele? Derart überfordert sucht der Mensch nach Entlastung und Erlösung. Diese verspricht sich die Studentengeneration 2014 von ihren Berufsperspektiven: 30 Prozent der deutschen Studenten möchten für die öffentliche Hand arbeiten, 19 Prozent in Wissenschafts- und 17 Prozent in Kultureinrichtungen.2 Es sind zwei Drittel der Studenten, die sich eine unkomplizierte, risikolose Zukunft staatlicher Provenienz wünschen. Mitten hinein in dieses Gegenbild des Silicon-Valley-Optimismus, in das Unbehagen an einer abenteuerreichen Zukunft, platzt Big Data: Gesundheitsarmbänder mit ihren nützlichen Anweisungen für ein längeres Leben, selbstlernende Haustechnik, deren Messgeräte, Heizungsthermostate und Rauchmelder, alle Daten unserer Häuser anzapfen, maschinelle Währungshändler, die industrielle Wechselkursrisiken nicht nur minimieren, sondern gleich auch den kostspieligen menschlichen Händler überflüssig machen. Die Big-Data-Geschäftsmodelle machen keinen Hehl daraus, dass sie Nutzer überwachen, analysieren, lenken und ersetzen.

„Ich weiß wieder, was ich tun soll“, und noch viel besser: „Statt meiner entscheidet ein anderer.“ Das ist bequem: Für eine Entscheidung, die an anderer Stelle getroffen wird, muss man keine Verantwortung mehr übernehmen.

 

Big Data ist Künstliche Intelligenz

Big Data ist keine neue Technologie. Seit zwanzig Jahren werden Big-Data-Systeme zur militärischen Aufklärung und Lageanalyse genutzt. Ein bekanntes Beispiel ist das AWACS-Flugzeug. Mit seinen Sensoren überwacht das „fliegende Auge“ den Luftraum und sammelt Daten. Um Luftfahrzeuge als zivil oder militärisch zu klassifizieren, fusioniert das System alle vorhandenen Rohdaten: Fluggeschwindigkeit, Radarrückstrahlfläche, zivile Flugpläne. „Datenfusion“ heißt ein solch leistungsfähiges Computerprogramm, ein anderer Begriff für „Algorithmus“. Beschrieben ist jener Algorithmus in der Sprache der Mathematik, die mit künstlicher Intelligenz realisiert wird. Nur künstliche Intelligenz kann riesige Datenmassen strukturiert analysieren. Auch die Frage, ob man einen feindlichen Kampfjet im eigenen Luftraum unbehelligt lassen kann oder abdrängen muss, wird die Kontrollstrategie der intelligenten Maschine selbst beantworten. Intelligente Datenfusionssysteme mit ihrem Dreiklang „überwachen – analysieren – lenken“ sind deshalb nicht nur für die Aufklärung nützlich, sondern stellen die Basistechnologie für alle autonomen Systeme dar, von der Industrie 4.0 bis hin zum selbstfahrenden Auto.

Was außer dem Anschwellen künstlicher Intelligenz wird neu sein an Big Data 2015? Seit 2010 steigen die verfügbaren Massen unstrukturierter Daten wie Bilder, Texte oder Videos gewaltig an. Der Grund: die exzessive Nutzung mobiler Geräte. Und die Qualität der Datenberge ist eine andere. Die heute verfügbaren Daten stammen nicht mehr von Objekten wie bei der militärischen Luftraumüberwachung, sondern von Menschen, von Personen. Sie bestehen aus einem ganz überwiegenden Teil aus unseren persönlichen Daten. Ahnungslos geben wir umfassende Details aus unserem Leben preis – ein folgenreicher Schritt. Gmail, Google+, Google Fit, YouTube, Google Inbox – die Dienste aus einer Hand, dem One-Stop-Shop, sind besonders kritisch, weil sie persönliche Daten zentralisieren. Zwei Drittel der Internetnutzer würden noch dazu ein Bankkonto bei den Internetgiganten Google, Facebook oder Amazon eröffnen; alle drei haben eine Banklizenz beantragt. Nicht ein demokratisch kontrollierter Staat, sondern wenige Internetgiganten sind über sämtliche Details unseres Lebens informiert. Sie wissen, wer unsere Freunde und Arbeitgeber sind, was wir in unserer Freizeit tun, wie viel Gesundheitsvorsorge wir betreiben und – sobald die Banklizenzen erteilt sind – wie hoch unser Finanzbedarf ist. Wer hingegen vermeiden will, sich digital zu entblößen, muss mit gravierenden Einschränkungen für sein reales Leben rechnen. Wer heute in den Vereinigten Staaten eine Krankenversicherung abschließen will, aber nicht über ein Facebook-Profil oder eine vergleichbare Onlineexistenz verfügt, zahlt einen 15 Prozent höheren Versicherungsbeitrag. Wenn nirgendwo öffentlich ist, wie Sie Ihre Freizeit gestalten, riskant oder behütet, werden Sie diskriminiert, und zwar unmittelbar, finanziell, alternativlos. Und das ist erst der Anfang.

Das Ökosystem aus millionenschweren intelligenten Maschinen, das hinter dem Bildschirm Ihres Browsers entsteht, wird unsere bekannte Welt aus den Angeln heben. Ihre Schlüsseltechnologien haben sich die digitalen Machtzentralen der Internetgiganten längst einverleibt. Allein Google akquirierte 2014 die britischen Firmen DeepMind, Dark Blue Labs und Vision Factory, drei europäische Start-ups für lernende Maschinen, eine Gattung künstlicher Intelligenz. Dramatisch für Deutschland: An zweien davon waren deutsche Gründer beteiligt, Köpfe, die Deutschland und Europa dringend für ein autonomes Internet bräuchten. Der Braindrain, die „Abwanderung“ deutscher Technologen und Gründer in Richtung Vereinigte Staaten, ist tragisch. Ein Grund: Deutsche Experten finden in Deutschland keine Heimat für ihre Technologien und Visionen. Dabei wäre es so dringend erforderlich, Experten für Europa halten zu können. Doch der Kontinent rechnet nicht mit den aufstrebenden neuen Technologien. Die US-Amerikaner sind hier schon einen Schritt weiter. Sie haben erkannt: Künstliche Intelligenz kann der Ökonomie den nächsten Wachstumsschub verleihen oder die Gesellschaft zerstören.

 

„Existenzielle Bedrohung des Menschen“

Die intelligenten Maschinen der Big-Data-Industrie sind also ein Game Changer. Das „Alte“ in unserer Gesellschaft hält dieser zweiten maschinellen Revolution schon heute nicht mehr stand. Traditionelle Geschäftsmodelle aller Industrien und Branchen wanken. Von der übergreifenden Unruhe, vom Zwang zum Paradigmenwechsel bleibt niemand verschont. „Kreative Zerstörung“ ist das erklärte Ziel des Silicon Valley. Aber auch kreative Zerstörung ist Zerstörung. Was wie die maximale Freiheit aussieht, zerstört bewährte Strukturen, denn: Big Data greift unser Menschenbild an. Es ist jenes Menschenbild, das unser Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Artikel 1 mit Ewigkeitsgarantie festschreibt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Big Data setzt die Menschenwürde aufs Spiel und damit auch unsere demokratisch-freiheitliche Gesellschaftsordnung.

„Künstliche Intelligenz ist die größte existenzielle Bedrohung des Menschen. Sie ist ein Dämon.“[3] Das Zitat stammt nicht von einem deutschen Kulturpessimisten, sondern von Elon Musk, dem Gründer von PayPal und SpaceX. Mit dem Kauf der britischen Technologieschmieden für Künstliche Intelligenz hat Google deshalb auch eine Ethikkommission eingerichtet. Das ist lobenswert, aber für einen gesamtgesellschaftlichen Konsens, wie mit dieser Technologie umzugehen, wie sie zu beherrschen sei und wie weit sie den Menschen und die geltende demokratische Ordnung verändern soll, nicht ausreichend; denn es ist damit zu rechnen, dass die ökonomischen Interessen eines privatwirtschaftlichen Initiators trotz Ethikkommission stets Vorrang genießen werden.

Dem europäischen Menschenbild hat Immanuel Kant (1724–1804) seinen theoretischen Rahmen verliehen. Nach Kant ist der Mensch Teil der Schöpfung, zeichnet sich aber durch seine Fähigkeiten zu Verantwortung, Gewissen und Moral aus. Als „Krone der Schöpfung“ ist er (Rechts-) Subjekt – Träger von Rechten und Pflichten –, die übrige Schöpfung ist mithin das Objekt, auf das sich die Handlungen des Menschen beziehen. Aus der Subjektivität des Menschen, seiner eigenen schöpferischen Kraft und Freiheit, resultiert die Menschenwürde, in der die Freiheitsrechte wurzeln, wie sie das Grundgesetz garantiert, darunter das Recht auf die „negative Freiheit“ – das Recht, in Ruhe gelassen zu werden –, die Privatsphäre und die Selbstbestimmung. Jener Dualismus von Subjekt und Objekt ist es, den die Big-Data-Industrie aufzulösen droht. (Persönliche) Daten sind der Rohstoff des 21. Jahrhunderts, das Öl, das neue Gold der Wirtschaft und der Big-Data-Industrie. Big Data nimmt den Menschen nicht als Subjekt wahr, sondern als Objekt, als Rohstoffträger, dessen Daten ausgebeutet werden sollen. Menschen sind die Ware der Big-Data-Industrie, nicht ihre Kunden. Deshalb scheinen ihre besonderen Freiheitsrechte nicht beachtenswert.

 

Der alte Denkfehler

Die Leugnung des Subjektcharakters der Person durch die Big-Data-Industrie ist nicht neu und hat einen Vorläufer in unserer Kulturgeschichte. In der Objektivierung des Menschen drückt sich ein „alter“ Denkfehler aus, mit dem die westlichen Gesellschaften schon in der Vergangenheit konfrontiert waren. Es handelt sich um den grundlegenden Irrtum eines ordnungspolitisch ungezügelten Kapitalismus, dass der Mensch seinem Wirtschaften untergeordnet werden könne. Was amerikanische Philosophen vor 120 Jahren mit einer Bewegung begonnen und als Theorie des Pragmatismus formalisiert haben, ist vielen Europäern schon immer frivol vorgekommen. Gut sei alles, was dem Menschen nützt, und am nützlichsten seien finanzielle Erfolge und die Maximierung des Gewinns. Tatsache ist: Die innovativen Big-Data-Geschäftsmodelle werden im Silicon Valley entwickelt und nach Europa exportiert. Hier sind sie häufig nur „halb legal“. Sie wurzeln in einem anderen Verständnis des Wirtschaftens, einem anderen Verfassungs- und Rechtsverständnis, das nicht so recht auf unser europäisches Verständnis von Menschenwürde und sozialer Marktwirtschaft passen will. In der digitalen Goldgräberstimmung schießt Silicon Valley deshalb auch schnell über das Ziel hinaus, wo das Geschäftsmodell „Überwachung“ millionenfach Bürgerrechte verletzt. Doch solange sie Umsatz und Gewinn versprechen, werden auch teilweise rechtswidrige Geschäftsideen mit großer Leidenschaft verteidigt. Dafür sind Uber (Beförderungsdienst mithilfe von Privatautos) oder Airbnb (Forum zur Untervermietung privaten Wohnraums) die prominentesten Beispiele. Bei Uber etwa geht es um potenzielle Verstöße gegen die Gewerbeordnung und das Personenbeförderungsgesetz – selbst in New York gelten 72 Prozent der Airbnb-Angebote als illegal.[4] Das interessiert die Big-Data-Protagonisten wenig, die lauthals Druck auf die europäische Politik ausüben. Sie soll die europäische Rechtslage so ändern, dass die Profitabilität ihrer Big-Data-Geschäftsmodelle möglich wird. Die Macht dazu gibt ihnen ihre enorme Liquidität. Allein die Top 5 der Internetgiganten verfügen über frei verfügbare Geldmittel in Billionenhöhe.

 

Privatsphäre und das Recht auf digitale Abstinenz

Die dringendste Aufforderung an die Politik ist, die Würde der Person und ihre Freiheiten auch in Zeiten der digitalen Transformation zu verteidigen. Zu den besonders gefährdeten Freiheiten gehören die Privatsphäre und das Recht auf digitale Abstinenz, die nicht zu Diskriminierung führen darf. Sie ist nichts weniger als die demokratische Alternative zur digitalen Partizipation. Auch Kontrollrechte über unsere persönlichen Daten fallen in den Schutzbereich eines digitalen Grundgesetzes: Wer persönliche Daten für sein Geschäftsmodell nutzt, muss Auskunft darüber geben, was er mit den Daten vorhat, wo und wie lange er sie speichert, welche Schlüsse er aus ihnen zieht, ob und wohin er sie weiterverkauft.

Die europäische Datenschutzgrundverordnung würde digitale Grundrechte teilweise gewährleisten, aber ausgerechnet Deutschland gehört zu den EU-Staaten, die zurzeit bei der Umsetzung einer einheitlichen europäischen Regelung noch zögerlich sind. Anlässlich des IT-Gipfels 2014 wurde die Hoffnung geäußert, das Big-Data-Geschäft könne Deutschland nach vorn bringen, wenn die Bedenkenträger verstummten.[5] Das aber dürfte schwierig werden ohne deutsche Experten für künstliche Intelligenz. Der Vorschlag einer elektronischen Maut anstelle unbedenklicher Vignetten oder anonymer Transponder, die sämtliche Wegstrecken eines Autofahrers aufzeichnet, indem sie ihn über Kennzeichen identifiziert, sollte noch einmal überdacht werden. Angesichts der eher mageren Einnahmen, die man sich vom elektronischen Mautkonzept erhofft, sollte der Preis, nämlich die Erfassung persönlicher Daten, noch einmal hinterfragt werden. Big Data enthält die Gefahr einer missbräuchlichen Verwendung zu Macht- und Überwachungszwecken in besonders hohem Maße und kann (auch unterschwellig) konformistische Verhaltensweisen befördern. Doch immer mehr Konformismus wird das Ende der Pluralität bedeuten, von der die Demokratie lebt. In einer digitalen Welt hat die Freiheit nur noch wenige Verfechter.

 

Yvonne Hofstetter, geboren 1966 in Frankfurt am Main, Geschäftsführerin der Teramark Technologies GmbH, eines Unternehmens, das auf die intelligente Auswertung großer Datenmengen mit Optimierern und maschinellen Lernverfahren spezialisiert ist.
 

[1] Apple Staff: Apps fürs Leben. Video. Cupertino: Apple Inc., 2014. www.apple.com/de/ios/videos/#developers.
[2] Ernst & Young Staff (2014): Studentenstudie 2014: In welche Branchen zieht es deutsche Studenten?, Ernst & Young GmbH, Stuttgart 2014.
[3] Kumparak, Greg: Elon Musk Compares Building Artificial Intelligence to “Summoning The Demon”, techcrunch by AOL Inc., New York, N. Y. 2014. http://techcrunch.com/2014/10/26/elon-
musk-compares-building-artificial-intelligenceto-summoning-the-demon/?ncid=tcdaily.
[4] dpa: Airbnb macht Ärger wie Uber, dpa, Hamburg 2014.
[5] Delhaes, Daniel / Hofer, Joachim / Jakobs, HansJürgen / Koenen, Jens: „Hoffen auf ‚Big Data‘“, in: Handelsblatt vom 21.10.2014, S. 1.

 

Literatur

Hofstetter, Yvonne: Sie wissen alles. Wie intelligente Maschinen in unser Leben eindringen und warum wir für unsere Freiheit kämpfen müssen, Gütersloh 2014.

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