Hans-Gert Pöttering hat einen bedeutenden Beitrag zur europäischen Zeitgeschichte geleistet: mit seiner Autobiographie Wir sind zu unserem Glück vereint. Mein europäischer Weg. Bedeutend, weil das Buch Annäherungen und Begegnungen mit epochalen, historischen Entwicklungsschritten Europas seit dem Zweiten Weltkrieg vermittelt und weil es eine exemplarische Politikerexistenz bis in ihre Wurzeln verständlich macht.
Kaum ein Geburtsdatum könnte sprechender sein als Pötterings: Am 15. September 1945 geboren, hat er seinen Vater, der zu Weihnachten 1944 seine Familie (ein älterer Bruder war schon geboren) besuchen konnte, nie kennengelernt – der Vater ist vier Monate vor Kriegsende an der Ostfront verschollen, Hans-Gert Pöttering kam vier Monate nach Kriegsende zur Welt. Das war die Welt, in der europäische Einigung die Alternative, die einzige, war, die Alternative zum Schicksal des Vaters, zum Schicksal so vieler Väter der Vaterländer. So hat Pöttering das erlebt, daher stammt sein europäisches Engagement – ein existenzielles, mit anderen Worten, es geht nicht um eine beliebige Karriere in der Spaßgesellschaft. Im ländlichen norddeutschen, niedersächsischen Flachland, in der Kleinstadt Bersenbrück, unweit von Osnabrück, wuchs Pöttering mit seiner Mutter und seinem Bruder auf. Nach Turbulenzen durch Flüchtlingstrecks aus den ehemals deutschen Ostgebieten, durch britische und polnische Besatzungstruppen, baute seine Mutter, die bäuerlicher Herkunft war, das kleine Textilgeschäft des Vaters wieder auf. Hans-Gert konnte das Gymnasium besuchen, war über viele Jahre kein guter Schüler, holte vor dem Abitur aber auf und wurde, wie damals bei besonders erfolgreichen Schülern üblich, „vom Mündlichen befreit“. Er wurde sogar mit einer Rede betraut, die er im Wortlaut wiedergibt und die bereits die Koordinaten seiner nie infrage gestellten Überzeugungen zur Sprache bringt. Überhaupt scheint, trotz (oder wegen?) der familiären Katastrophe am Anfang seines Lebens, seine Entwicklung nicht unsicher, nicht erratisch gewesen zu sein, nicht von jugendlich-revolutionären Ausbruchsversuchen durcheinandergebracht, sondern geradezu stromlinienförmig und unbeirrt. Mitten in den Wirren der „68er“ trat er 1969 in den RCDS ein, studierte Geschichte, Politik und Jura in Bonn, mit Auslandsaufenthalten in Genf, Lausanne, wo er einem der Vordenker des europäischen Föderalismus, Denis de Rougemont, begegnete, und (für ein Studienjahr) in den USA (die sonst in seinem Buch kaum eine Rolle spielen). Pötterings Entschluss, sich politisch zu engagieren, verdankt sich einem prägenden Erlebnis: der Begegnung mit der Mauer in Berlin, ein Jahr nach ihrer Errichtung. Dieser Eindruck ließ ihn nach dem Studium endgültig den Weg einer politischen Karriere und nicht etwa eine wissenschaftliche oder juristische Laufbahn einschlagen. Auch jetzt war seine Weiterentwicklung klassisch: Junge Union, Übernahme von Leitungsfunktionen im Landesverband, Kandidatur für und Einzug in das Europäische Parlament bei der ersten Direktwahl 1979. Vor der Wahl zum Europäischen Parlament 2014 (für die er nicht wieder kandidierte) sollte Pöttering der einzige Abgeordnete dieses Parlaments sein, der seit 1979, das heißt 35 Jahre lang, dabei war.
Stärkung der EVP
Auch im Europäischen Parlament selbst setzte sich Pötterings geradliniger Aufstieg bis an die Spitze fort. Dazu gehörte in den ersten fünfzehn Jahren seine Bewährung in der Ausschussarbeit, zunächst im Regional-, dann in dem umstrittenen neuen Unterausschuss für Sicherheit und Abrüstung (den Pöttering „U-S-A“ nannte). Die nächste Stufe führte in den Vorstand der EVP-Fraktion, zunächst als Vize, dann – für anstrengende siebeneinhalb Jahre – zum Vorsitz. Für diese, vielleicht mächtigste Position seiner Laufbahn qualifizierte er sich unter anderem dadurch, dass er „seine“ Fraktion durch Aufnahme weiterer, bis dahin separater, kleinerer Fraktionen zur stärksten im Europäischen Parlament machte und damit die bis dahin dominierende Sozialistische Fraktion überholte. Der Gipfel, wenn nicht an Macht, so doch an Reputation, war schließlich die Funktion des Parlamentspräsidenten, die Pöttering zwischen 2007 und 2009 innehatte. Seine Antrittsrede, die er ebenfalls sehr ausführlich wiedergibt, bestätigt die Kontinuität seiner Überzeugungen und Anschauungen; die Linie von seiner Abi-Ansprache über die sogenannten „Wolfsburger Beschlüsse“ der Jungen Union von 1979 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Parlament 2014 ist ungebrochen.
Pötterings Interessenschwerpunkte haben sich in seinem Leben konkretisiert, aber kaum verändert. Ihm ging es immer um europäische Demokratie – daher sein besonderes Engagement für die parlamentarische Seite des politischen Systems – und ebenso dezidiert um die Förderung eines europäischen Bundesstaates, eines föderalen, subsidiären Europas. Das wird besonders deutlich in den Auseinandersetzungen, die auf dem Dresdner CDU-Parteitag 1991 um den Begriff der „Vereinigten Staaten von Europa“ geführt wurden; bis dahin fasste dieser Begriff im CDU-Verständnis das gemeinsame Leitbild zusammen, wurde nun aber von Helmut Kohl gestrichen. Pöttering setzte sich für die Formel der „Vereinigten Staaten von Europa als europäischer Bundesstaat“ ein und bestand insbesondere auf dem zweiten Teil dieser Formel – für den Fall, dass der erste geopfert werden sollte. In dieser europäisch-föderalistischen Sicht war ihm der Blick nach Osten und auf Mitteleuropa wichtig; er engagierte sich für die Osterweiterung, und zwar mit allen Kandidatenstaaten, die aus dem Ostblock hervorgegangen waren, und nicht nur mit denen, die mehr oder weniger bürokratischen Vorgaben der EU-Kommission erfüllten. Sicher hat diese Blickrichtung auch mit dem Schicksal seines Vaters und seinem eigenen deutschlandpolitischen Interesse zu tun.
Natürlich täuscht die Stromlinienförmigkeit der hier stark abgekürzt skizzierten Karriere über die Hürden und Hindernisse, die dabei im Alltag durch Ausdauer und tief gegründete Motivation immer wieder zu überwinden waren. Pötterings Koordinatensystem jedenfalls scheint ein unerschütterliches und festes Auffangnetz zu sein: die christlich-katholische Fundierung, ihre Übersetzung in die als natürlich empfundene Zugehörigkeit zur CDU, die ebenso entschiedene europäische Orientierung, das dezidierte Engagement für das Europäische Parlament als Garant und Hoffnungsträger nicht nur irgendeines, sondern eines westlich-demokratischen, föderalen Europas. Mehrfach bringt Pöttering die Komplementarität der Dimensionen auf die Formel: „Heimat, Vaterland und Europa“ müssten einander ergänzen, eines ohne das andere führe auf Abwege.
Rederecht für Daniel Cohn-Bendit
Mit dem festen Blick auf die Arbeit im Europäischen Parlament, auf die Förderung seiner Rolle in einer entstehenden europäischen Demokratie sind freilich auch (Selbst-)Beschränkungen verbunden. Pötterings Autobiographie ist keine Universalgeschichte, sondern ein persönliches Buch. Das wird zum Beispiel in dem Kapitel über den „U-S-A“-Ausschuss deutlich, in dem er von 1984 an für zehn Jahre maßgeblich mitarbeitete. Dabei ging es um die zweifellos bedeutsame und zum damaligen Zeitpunkt noch keineswegs gesicherte außen- und sicherheitspolitische Kompetenz der Europäischen Gemeinschaften beziehungsweise der EU; die Kehrseite der Konzentration auf dieses Anliegen ist allerdings, dass die gleichzeitigen, ebenfalls wesentlichen europapolitischen Weichenstellungen und Wendepunkte nur am Rande zur Sprache kommen: Die Einheitliche Europäische Akte, der damit verbundene Weg zum Binnenmarkt, selbst der Aufbruch des Ostblocks durch Gorbatschows Reformpolitik sowie andere Institutionen als das Europäische Parlament werden allenfalls gestreift (der Name Jacques Delors kommt im gesamten Buch nur dreimal vor, und immer nur in Nebensätzen). Dagegen wecken die Ereignisse um die deutsche Wiedervereinigung die ganze Emphase Pötterings, freilich auch jetzt eingebettet in die Kollegialität mit anderen (und zwar nicht nur Parteifreunden, sondern) Weggenossen aus dem Europäischen Parlament: Das gilt etwa für seinen fesselnden Bericht über Besuche in Moskau, in denen auch andere Abgeordnete seiner Delegation mit Vertretern der alten sowjetischen Nomenklatura für das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen im Rahmen der europäischen Friedensordnung eintraten, und dies sowohl im Blick auf die Wiedervereinigung wie hinsichtlich der freien Bündniswahl – eine natürlich beglückende Erfahrung für Pöttering. Mehr als anekdotisch ist seine Schilderung einer Begegnung mit dem euroskeptischen tschechischen Präsidenten Václav Klaus, der ihm, Pöttering, dem Parlamentspräsidenten, empfiehlt, dem rebellischen Grünen Daniel Cohn-Bendit das Wort zu verbieten, nachdem letzterer Klaus’ Allianz mit zweifelhaften irischen Gegnern des Lissabon-Vertrages scharf kritisiert hatte. Pöttering dagegen hält unbeirrt an der Redefreiheit auch für Cohn-Bendit fest und wird von Martin Schulz mit einem Zettel belohnt: „Herr Präsident, schön, wie Du das Rederecht Deiner Kollegen verteidigst“ (Seite 359). Schon diese Beispiele zeigen, dass Pöttering gerade aufgrund seiner unzweifelhaften Bindungen an die christlich demokratische Europa-Politik auch mit ebenso engagierten, anders orientierten Europäern Kompromisse eingehen konnte. Ein einziges Mal schließlich, und auch das ist eine kleine zeitgeschichtliche Fallstudie, fühlte er sich einem parteipolitischen Gegner entschieden sympathischer verbunden als einem Vertreter der eigenen Parteifamilie: Das war bei der Gelegenheit eines Besuches in London, bei dem er eine überaus unangenehme Kontroverse mit David Cameron hatte, der in Pötterings Augen klaren Wortbruch beging, als er die britischen Torys aus der Fraktionsgemeinschaft im Europäischen Parlament lösen wollte; der anschließende Besuch bei Tony Blair in Downing Street 10 war ihm demgegenüber geradezu als Rückkehr in eine europäische Vertrauensatmosphäre erschienen.
Fallstudie europäischer Kultur
In diesem Sinne ist das Buch eine Autobiographie – persönlich und lebendig, mit vielen Erlebnissen, Erfahrungen und Begegnungen, die aber eben nicht bloß Anekdoten, sondern kleine Fallstudien politischer Kultur in europäischer Vielfalt und Einheit sind. Darüber hinaus ist Pötterings Werk zugleich Quelle und Quellensammlung; Quelle für Zeithistoriker, insofern der Autor selbst Handelnder in der europäischen Politik war, Quellensammlung, weil er vielfach sehr ausführlich und kommentierend aus eigenen Reden, Entschlüssen, Berichten und Verträgen zitiert. Zugleich trägt das Buch aber auch Züge eines politischen Rechenschaftsberichts, der die Lebendigkeit der Erzählung hin und wieder beeinträchtigt, etwa wenn über eine halbe Seite die Namen und Funktionen von Teilnehmern an Tagungen oder Sitzungen wiedergegeben werden. Andererseits ist diese Sorgfalt selbstverständlich auch eine Hommage an die einzelnen Kollegen und Mitstreiter.
Das würde jedenfalls dem Politikertypus entsprechen, den Pöttering verkörpert: Bodenständigkeit, und zwar sowohl im räumlichen als auch im geistigen Sinne, ist sicher ein Schlüssel zum Verständnis seiner Persönlichkeit. Auf dieser Grundlage hat er sein politisches Leben in den Dienst an seinen Überzeugungen und Wertvorstellungen gestellt. Diese Orientierung hat ihn weit über den engeren Horizont seiner Herkunft und Heimat hinausgeführt und – wiederum sowohl in geographischer wie in politischer Hinsicht – zu einem politischen Dasein von europäischer Dimension. Ihm ging es zweifellos nicht vorrangig um ich-bezogenen Ruhm und noch weniger um materiellen Reichtum, sondern um ein Zusammenleben von Europäern, das Schicksale wie das seines Vaters und die Konsequenzen für die nachfolgende Generation für immer ausschloss. Auch wenn ein Abgeordneter im Europäischen Parlament, ein Fraktionsvorsitzender, ein Präsident des Europäischen Parlaments nicht zu den herausragenden Entscheidungsträgern gehört, ein herausragender Europäer kann er dennoch sein. Die Lektüre von Pötterings Buch jedenfalls lohnt sich – bis zur letzten Zeile.
Hartmut Marhold, geboren 1953 in Nordhausen (Thüringen), Direktor für Forschung und Entwicklung, Centre international de formation européenne (CIFE), Nizza (Frankreich).