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von Christian Waldhoff

Der Verfassungsstaat und die Schwäche der Kirchen

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Die Hiobsbotschaften über den Niedergang der beiden großen Kirchen reißen nicht ab. Die katholische Kirche bekommt ihren Missbrauchsskandal weder in Deutschland noch weltweit in den Griff. Deutlich erhöhte Austrittszahlen sind die Folge. Auch kirchentreue Mitglieder wenden sich ab oder ziehen sich in die innere Emigration zurück. Der notorische Priestermangel und das damit zusammenhängende Sterben der Pfarrseelsorge bewirken ein Übriges. Reinhard Bingener sprach jüngst von einer „Implosion“ der Kirche.1

Die evangelische Kirche, von Skandalen weniger betroffen, leidet eher unter einer schleichenden Auszehrung – bei weitgehend intakter Organisation. Sie hat sich, konfessionsgeschichtlich bedingt, schon immer wesentlich stärker den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Umfeldern angenähert, zuweilen auch angeglichen. Die kulturelle Differenz ist damit geringer, gleichzeitig verblasst jedoch das Proprium des Religiösen und damit die Plausibilität der Sinnhaftigkeit, ja Notwendigkeit der Kirche in der Gegenwart. Der bereits seit Jahrzehnten bestehende Trend des Rückbaus konnte auch hier nicht gestoppt werden.

Die Corona-Pandemie hat zusätzlich katalytische Wirkungen in die beschriebene Richtung entfaltet – beide Kirchen waren wenig vernehmbar, haben teils vorschnell auf Gottesdienste und Seelsorge verzichtet und sich insgesamt zu den Corona-Schutzmaßnahmen eher affirmativ verhalten. Die gegenwärtige Situation scheint damit die dritte Welle pointierter Säkularisierung seit Kriegsende zu sein, die den ohnehin langfristigen Großtrend der schleichenden Säkularisierung des Gemeinwesens überlagern und verstärken: Gesellschaftliche Veränderungsprozesse hatten seit Mitte der 1960er-Jahre zu Kirchenaustritten, Distanzierungen und einem damit verbundenen Einflussverlust der Kirchen geführt. Die zweite Welle brachte mit der Wiedervereinigung 1989/90 eine weitere religionssoziologische Schwächung, ein auch als Folge autoritär-religionsfeindlicher Politik weitgehend entkirchlichtes Land im Vergleich zur alten Bundesrepublik. Die kirchliche „Brache“ konnte kaum „aufgeforstet“ werden, im Gegenteil: Die säkularen Tendenzen ergriffen erneut auch den westlichen, demokratisch-verfassungsstaatlich geprägten und von den normativen Rahmenbedingungen ausgesprochen religionsfreundlichen Landesteil.

Mag in der globalen Perspektive von einer Renaissance der Religionen gesprochen werden – für Mitteleuropa und für Deutschland ist ein solcher Befund unzutreffend. Die Verluste werden auch nicht durch einen wachsenden und vergleichsweise (noch) vitalen Islam, durch Zuwanderung religiöser Milieus oder durch Privatisierungstendenzen des Transzendenten kompensiert. Vor Weihnachten vermeldete das Institut für Demoskopie Allensbach, dass erstmals in der deutschen Geschichte die Bevölkerung aus weniger Christen als Nichtchristen bestand; der Anteil der Katholiken und der Bürgerinnen und Bürger evangelischer Konfession sank knapp unter fünfzig Prozent der Einwohner. Den größten Anteil bei den Nichtchristen machen inzwischen die Religionsbeziehungsweise Konfessionslosen aus. 1949 bei Gründung der Bundesrepublik, also zwei Generationen zuvor, gehörten deutlich über neunzig Prozent der Einwohner einer der beiden großen Kirchen an. Damit einher geht, dass – zumeist etwas phasenverschoben – die religiösen Bindungen staatlicher Funktionsträger abnehmen. Eine religionssoziologische Analyse des Deutschen Bundestages zeigt seit 1990 eine kontinuierliche Abnahme der sich zum Christentum bekennenden Abgeordneten von mehr als siebzig Prozent auf aktuell rund 45 Prozent. Von ähnlichen Veränderungen in den Höchstgerichten, insbesondere im Bundesverfassungsgericht, muss ebenfalls ausgegangen werden. Das wirkt unmittelbar auf den politischen Prozess zurück – die Folgen sind bereits sichtbar und werden in Zukunft noch sichtbarer werden.

 

Rückgang katholischer Intellektualität

Den beiden Kirchen fehlt es im Grunde an allem: an Mitgliedern, Gläubigen, Priestern und Pfarrern, an Glaubenseifer, religiöser Praxis, öffentlicher Wirksamkeit – nur am Geld (noch) nicht. Doch auch dies wird angesichts der Austrittszahlen, wiederum phasenverschoben, knapper werden und die kirchlichen Möglichkeiten entsprechend einengen.

Auch die intellektuellen Impulse aus den Kirchen für das Gemeinwesen sind nur mehr marginal erkennbar. Zudem muss hier ohnehin eine konfessionelle Differenz in Erinnerung gerufen werden: Während es etwa mit dem frühen Heinrich Böll oder mit Reinhold Schneider eine katholisch akzentuierte Literatur oder mit Hermann Krings oder Robert Spaemann eine solche Philosophie in der alten Bundesrepublik gab (in der Staatsrechtslehre könnten Ernst-Wolfgang Böckenförde, Alexander Hollerbach oder Josef Isensee hinzugefügt werden), kam noch nie jemand auf die Idee, etwa Thomas Mann oder Siegfried Lenz als „evangelische“ Schriftsteller zu apostrophieren. Das ist Folge der deutschen Religionsgeschichte und der seinerzeitigen Existenz eines katholischen Milieus im ursprünglich nationalprotestantischen Staat. Für unseren Zusammenhang: Diese durchaus attraktive, erkennbar katholische Intellektualität ist, wenn nicht aufgelöst, so doch stark zurückgegangen. Oder um ein anderes Beispiel zu bemühen: Von Helmut Schmidt ist aus seiner Zeit als Bundeskanzler überliefert, dass er gern mit Oswald von Nell-Breuning über Zentralfragen der Katholischen Soziallehre diskutiert hätte. Auf eine solche Idee kam nicht einmal mehr Helmut Kohl, geschweige denn gegenwärtige Bundeskanzler, die bezeichnenderweise konfessionslos sind. Die quantitative wie qualitative Schwäche beider wissenschaftlicher Theologien sind dann nur mehr Folgeerscheinungen in diesem Kontext.

Das Geschilderte, insbesondere das Absinken des Anteils der Christen unter die Fünfzig-Prozent-Schwelle, war eine länger absehbare Entwicklung, die gleichwohl wie ein Menetekel wirkt, das, wenn nicht verstört, so doch erneut zum Nachdenken anregt. Wird dies von den Kirchen in aller Deutlichkeit erkannt? Zweifel sind angebracht. Mein Anliegen vor diesem Hintergrund kann keine umfassende Analyse des zuvor Skizzierten sein. Kurzfristige „Lösungen“ gibt es ohnehin nicht. Der vorliegende Beitrag verfolgt ein sehr viel bescheideneres Ziel: Aus der spezifischen Sicht des Staatsrechtlers möchte ich aufzeigen, was die Schwäche der Kirchen für den Staat, für unsere Verfassungsordnung bedeutet. Das erweist sich als Umkehrung des gewohnten Blicks, zumindest des Juristen: Im Religionsverfassungsrecht geht es traditionellerweise um die Sicherung der Freiheit des Religiösen vor staatlichen Ein- und Übergriffen. Mit anderen Worten: Es geht aus einer freiheitsichernden Perspektive um den Schutz von Religion. Der hier eingenommene Blick kehrt dies um und nimmt eine staatliche Sichtweise als Erwartungshaltung ein: Zu fragen ist, was die zunehmende Schwäche der Kirchen für Staat und Rechtsordnung bedeutet.

 

Gefährdete staatliche Säkularität

Josef Isensee hat bereits vor gut dreißig Jahren beim Hauptforum des Religionsverfassungsrechts in Deutschland, zum 25-jährigen Jubiläum der Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, die aufgeworfene Frage in einem wichtigen Vortrag unter der Überschrift „Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche“ verhandelt.2 Noch früher sprach er zugespitzt von der „Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates“.3 Säkularisierung ist nicht notwendigerweise dasselbe wie Schwächung, hängt jedoch damit zusammen. „Rechtlich gesehen wird der demokratische Rechtsstaat nicht berührt von Entwicklungen im Bereich der Religion. Er gewährleistet seinen Bürgern die Freiheit der Religion und gewinnt damit für sich selbst rechtliche Unabhängigkeit vom religiösen Leben der Bürger“ (Isensee). Doch so einfach ist es verfassungsrechtlich nicht. Im Folgenden möchte ich zwei Dimensionen der angedeuteten Verfassungserwartungen an die Kirchen staatlicherseits unterscheiden: die religionsverfassungsrechtliche und die staatstheoretische Dimension.

Erstens: Im historischen sowie im synchronen Vergleich stellt sich die deutsche Rechtsund Verfassungsordnung als ausgesprochen religionsfreundlich dar. Das normative grundgesetzliche Konzept verfolgt eine Aufgabenteilung: Während das Individualgrundrecht der Religionsfreiheit alles Religiöse schützt, unabhängig von seiner Mächtigkeit, Kulturüblichkeit oder Sinnhaftigkeit, auch die abwegige oder sektiererische Auffassung, wendet sich das institutionelle Religionsverfassungsrecht in Rezeption der Weimarer Staatskirchenartikel von 1919 Religion als institutionalisiertem, kollektivem Ereignis zu, indem Religionsgemeinschaften angesprochen sind. Beide „Säulen“ des Religionsverfassungsrechts stehen zwar nicht beziehungslos nebeneinander; das Bundesverfassungsgericht sieht den institutionellen Rahmen zumindest auch als Hilfsmittel zur Verwirklichung individueller Religionsfreiheit. Meines Erachtens geht der institutionelle Überhang nicht im Individualgrundrecht auf – das ist in der Fachdiskussion freilich sehr umstritten. Mehr als beim Individualgrundrecht verspricht sich der Staat bei den institutionellen Regelungen etwas von der Religion.

Die entsprechenden Regelungen sind damit staatlicherseits nicht vollständig zweck- und erwartungsfrei, auch wenn klar ist, dass sich der Staat in die religiöse Sphäre als solche nicht einmischen darf und die Kirchen aufgrund des Angebotscharakters der Regelungen nicht instrumentalisiert werden. Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 explizierte das noch im Jargon der Spätaufklärung sehr viel direkter: „Jede Kirchengesellschaft ist verpflichtet, ihren Mitgliedern Ehrfurcht gegen die Gottheit, Gehorsam gegen die Gesetze, Treue gegen den Staat und sittlich gute Gesinnungen ihrer Mitglieder einzuflößen.“ Die religiös-weltanschauliche Neutralität des säkularen Verfassungsstaats von 1919 beziehungsweise 1949 kann sich Derartiges nicht mehr erlauben, ist von den aufklärerischen Postulaten jedoch weniger weit entfernt, als vielen bewusst ist. Das Bundesverfassungsgericht spricht daher nicht ohne Grund von „freundlicher“ oder „fördernder“ staatlicher Neutralität gegenüber Religionen. Die staatliche Neutralität bezieht sich danach nicht auf Religion als solche – dieser wird ein ausgesprochen weiter Entfaltungsraum garantiert und diese wird reichlich gefördert –, sondern auf die prinzipielle Gleichbehandlung alles Religiösen.

 

Kooperationsmodell unter Druck

Der Kern des deutschen religionsverfassungsrechtlichen Modells zwischen Laizismus einerseits und Staatskirchentum andererseits bilden die zahlreichen Kooperationsangebote: An staatlichen Hochschulen existieren theologische Fakultäten, Religionsunterricht ist als staatliche Veranstaltung ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen, in staatlichen Krankenhäusern, in Gefängnissen sowie in der Bundeswehr dürfen die Religionsgemeinschaften Seelsorge betreiben und so weiter. Theologieprofessorinnen, Religionslehrer und Bundeswehrseelsorger sind staatliche bezahlte Beamte. Diese Kooperation ist vor dem Neutralitätsparadigma nur haltbar, wenn die Inhalte von den Religionsgemeinschaften selbst bereitgestellt werden: Was im Religionsunterricht oder im Theologiestudium vermittelt wird, kann nicht gegen den Willen der jeweiligen Religionsgemeinschaft festgesetzt werden. Die Religionsgemeinschaften haben außerdem ein Mitbestimmungsrecht, wer unterrichten darf. Der Staat ist in diesem Bereich in doppelter Weise inkompetent: Er kann keine Glaubensinhalte vorgeben, weil ihm schlicht die Sachkompetenz fehlt, und er darf sie nicht liefern, weil er sonst seine Neutralität verletzte.

Dieses Kooperationsmodell setzt freilich leistungsfähige und leistungsbereite Kooperationspartner aufseiten der Kirchen voraus. Die Normen ruhen erkennbar auf intakten volkskirchlichen Strukturen auf, die sowohl 1919 als auch 1949 vorhanden waren, heute jedoch erodieren. Das Modell gerät dadurch unter Druck. Für die Kirchen stellen sich heute kaum noch staatliche Übergriffe als Problem dar; sie konkurrieren freilich mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, die sich teilweise auch als „Sinnagenturen“ gerieren und weniger rechtlich privilegiert sind. Die Einbeziehung anderer Religionen – zumindest des Judentums (auch aus historischer Verantwortung) und des gemäßigten Islam (vor allem aufgrund der zunehmenden Bedeutung) –, soll und kann das bis zu einem gewissen Grad kompensieren. Schwieriger wird es mit den Weltanschauungsgemeinschaften, die unter dem Label eines wie auch immer gearteten „Humanismus“ religionskritisch daherkommen. Weltanschauungsgemeinschaften sind in vielen Fragen zwar nach dem Religionsverfassungsrecht Religionsgemeinschaften gleichgestellt. Sie können jedoch nicht für die Gruppe der Religionslosen sprechen. Der Anteil der Mitglieder von Weltanschauungsgemeinschaften an der Gesamtbevölkerung ist und bleibt verschwindend gering.

Der kontrafaktische Geltungsanspruch des (Religions-)Verfassungsrechts hat zur Folge, dass sich durch diese Veränderungen nicht sofort das Recht ändert. Der Legitimationsdruck steigt jedoch, auch wenn man sich bewusst sein sollte, dass die beiden Kirchen immer noch mit Abstand die größten Religionsgemeinschaften darstellen und auch bleiben werden. Das scheinbare Paradox liegt darin, dass sich die Kirchen trotz des im diachronen wie synchronen Vergleich sehr wohlwollenden Rechtsrahmens nicht gut entwickeln. Die Option, durch Übergang zum „amerikanischen Modell“, das heißt einer Trennung vom Staat und Überantwortung in die rein gesellschaftliche Sphäre, gegenzusteuern, wie sie letztlich auch der Freiburger Rede Papst Benedikts 2011 mit ihrem Entweltlichungspostulat zugrunde lag, ist freilich naiv, da sie die komplexen sozialkollektiven Pfadabhängigkeiten entsprechender Modelle ausblendet. Der richtige Kern solcher Überlegungen dürfte darin liegen, dass sich das gesellschaftliche Engagement der Kirchen nicht beliebig weit vom religiösen Proprium entfernen kann, an das es stets rückzukoppeln ist. Das führt zu meinem nächsten Punkt.

 

Verwirklichung des Subsidiaritätsgedankens

Etwas weniger dramatisch stellt sich die Entwicklung der Berücksichtigung der Kirchen im außenpluralistischen Setting im Kultur- und Sozialbereich dar. Es gehört zu den Charakteristika der Bundesrepublik, dass sich etwa im Sozialrecht, durchaus in Verwirklichung des Subsidiaritätsgedankens, ein pluralistisches Trägermodell etabliert hat. Nicht der Staat allein, sondern vorrangig „freie“ Träger, darunter vor allem die Großkirchen, betreiben Krankenhäuser, Altenheime, Kindergärten und Sozialstationen. Hier mag es einen gewissen, historisch erklärbaren Überhang kirchlicher Träger geben, die vor allem auch darunter leiden, ihre geistliche Dimension kaum mehr wirklich füllen zu können (und daher auch entsprechende Schwierigkeiten haben, ihre Sonderstellung im Arbeitsrecht zu verteidigen). Neben Caritas und Diakonie oder anderen traditionellen Verbänden, wie dem Roten Kreuz oder der Arbeiterwohlfahrt, ist längst die Volkssolidarität aus DDR-Zeiten getreten.

Entsprechendes gilt für die kirchliche Präsenz in Rundfunkräten oder als Träger der staatlichen Begabtenförderung. In beiden Fällen – im Sozialbereich wie im Kultur- und Bildungsbereich – kommt der Großteil der Finanzierung dieser Aktivitäten aus öffentlichen Kassen. Es handelt sich damit nicht um Religionsförderung, sondern um die Inanspruchnahme von Religionsgemeinschaften für eine pluralistische Verteilung von Fördergeldern oder die pluralistische Gewährleistung eines öffentlichen Auftrags. Die kirchliche Präsenz relativiert oder verdünnt sich hier mit den üblichen Phasenverschiebungen, um der gesellschaftlichen Realität von Veränderungen der Zivilgesellschaft Rechnung zu tragen, bleibt jedoch im Prinzip erhalten.

 

Fast totzitiertes Böckenförde-Diktum

Zweitens: Komplexer ist die staatstheoretische Dimension hiesiger Fragestellung. Die Verfassungserwartungen an die Kirchen kann der Staat angesichts des Neutralitätsparadigmas kaum explizit formulieren; sie sind jedoch vorhanden. Diese Erwartungen resultieren daraus, dass der rechtlich begrenzte Verfassungsstaat stets von einem säkular begrenzten Gemeinwohl ausgehen muss, will er den Menschen nicht „total“ erfassen. Die beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts sprechen als menschenverachtende Gegenmodelle für sich. Der (grund-)rechtsgebundene Verfassungsstaat ist insoweit immer fragmentarisch. Das fast totzitierte und in der Sache deutungsoffene Böckenförde-Diktum bringt das auf den Begriff; oder, um mit Josef Isensee einen anderen scharfsinnigen Beobachter zu zitieren: „Die Kirche, die nicht unter den verfassungsstaatlichen Neutralitätspflichten steht, kann dazu beitragen, die sittlichen Voraussetzungen des freiheitlichen Gemeinwesens zu festigen und zu erneuern.“ Man müsste ergänzen: nicht allein, sondern neben anderen zivilgesellschaftlichen Entitäten. Dabei sollte beachtet werden, dass Krankenhäuser und Altenheime auch vom Staat betrieben werden können, Seelsorge und Glaubensverkündung demgegenüber aus den dargelegten Gründen niemals. Um nochmals Isensee zu zitieren: „Wenn die Botschaft der Kirche auf die aufklärerischen Derivate des Christentums schrumpfte, bliebe sie dem Verfassungsstaat gerade den komplementären Dienst schuldig, den nur sie ihm zu leisten fähig ist.“

Aktuell stellt sich diese Frage bei der anstehenden Ablösung der Staatsleistungen für die Religionsgemeinschaften, einem seit 1919 nicht erfüllten Verfassungsauftrag. Darf und soll der Staat die unsystematischen und nur historisch als Säkularisierungskompensation erklärbaren Staatsleistungen durch eine allgemeine staatliche Religionsförderung ersetzen? Manches spricht dafür. Das müsste dann jedoch alle in Deutschland relevanten Religionen abgestuft einbeziehen. Solche Förderung gibt es indirekt durch Steuer- und Gebührenbefreiungen für korporierte Religionsgemeinschaften, aber auch durch staatlich finanzierte theologische Fakultäten, Religionsunterricht und Anstaltsseelsorge ohnehin schon. Wohlgemerkt: Es geht nicht um die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Sozial-, Stiftungs- oder Schulträger. Dies wurde oben bereits als von einer solchen Religionsförderung abzugrenzender, dem Subsidiaritätsprinzip und dem Pluralismus verpflichteter staatlicher Handlungs- und Verteilungsmechanismus erklärt. Es ginge um wirkliche Religionsförderung unter Beachtung der religiös-weltanschaulichen Neutralität des säkularen Verfassungsstaats. Diese komplexe Frage wird uns in der gerade begonnenen Legislaturperiode noch beschäftigen.

 

Christian Waldhoff, geboren 1965 in Paderborn, Vertrauensdozent der Konrad-Adenauer-Stiftung, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Finanzrecht, Humboldt-Universität zu Berlin.

 

1 Reinhard Bingener: „Die Implosion verhindern“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 258, 05.11.2021, S. 1.
2 Josef Isensee: „Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche“, in: Heiner Marré / Joseph Stüting (Hrsg.): Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 25, Mainz 1991, S. 104 ff., wieder abgedruckt in: Ansgar Hense (Hrsg.): Josef Isensee. Staat und Religion. Abhandlungen aus den Jahren 1974–2017, Berlin 2019, S. 211 ff.
3 Josef Isensee: „Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates“, in: Gerfried W. Hunold / Wilhelm Korff (Hrsg.): Die Welt für morgen. Ethische Herausforderungen  im Anspruch der Zukunft, München 1986, S. 164 ff., wieder abgedruckt in: Ansgar Hense, a. a. O., S. 179 ff.

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