Asset-Herausgeber

von Michael Braun

Literatur in der Empörungsdemokratie

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„What would you say if no one was listening?“, heißt es auf dem Plakat einer Forschungsgruppe am Trinity College Dublin. Sprechen ohne Zuhörer, das klingt ungewöhnlich in einer vernetzten Welt, ja beinahe unmöglich, wenn man an die Spektakel und Skandale unserer „Empörungsdemokratie“ denkt. Denn da scheint jeder jedem etwas zu sagen zu haben. Zugleich aber kann niemand ganz unsichtbar und unhörbar sein, Personen des öffentlichen Interesses am allerwenigsten.

Was aber geschieht, wenn die Echokammern der sozialen Medien ausgeräumt, die Ohren auf einmal zu voll und die Zuhörer des Zuhörens müde geworden sind? Was würden wir dann sagen? Würden wir überhaupt noch etwas sagen? Äußerungen von den Rändern des Akzeptablen rücken ja nur dann ins Zentrum medialer Aufmerksamkeit, wenn das, was diese Worte nicht mehr akzeptabel macht, an den Grundlagen unseres demokratischen Diskurses rüttelt, an Freiheit, Recht, Individualität und Wertebewusstsein.

Die Unsagbarkeit, ursprünglich – wie Ernst Robert Curtius gezeigt hat – ein Topos aus der Festrede, der den Sprecher nicht vergrößert, sondern als Zwerg auf die Schultern von anderen Riesen stellt, gerät zur Sprachschranke. Dieser Wandel der Diskursregel ist nicht ohne Widersprüche. Einerseits beansprucht das anstößigste Wort, ein freies zu sein, andererseits ist die so auch missbrauchbare Redefreiheit häufig von Aussprechverboten umstellt.

Es gilt, auf die Kontexte zu achten. Der zu Recht inkriminierte Vergleich der nationalsozialistischen Zeit mit einem „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte durch einen AfD-Politiker ist eine unzulässige Relativierung und Verharmlosung des Holocaust. Rhetorisch gesehen, radikalisiert er einen anderen Vergleich, den Hans-Ulrich Wehler im letzten Band seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte anstellte, als er die DDR als eine „Fußnote“ in der deutschen Geschichte bezeichnete. Auch das ist eine der vieldiskutierten Bruchstellen des Unsagbarkeitstopos. Und wer, wie Uwe Tellkamp beim Dresdner Literaturstreit im März 2018, mit dem Islam in Deutschland eine Religion als Politik einwandern sieht, „die mit unseren Werten, speziell unserem Rechtssystem, nicht viel am Hut hat“, und dann vor einem vermeintlichen Gesinnungsterror warnt, der ruft sofort eine Öffentlichkeit auf den Plan, die sich über die Empörung empört. Es kommt zu einem kommunikativen Klimawandel. Die Rollen von Publizistik und Publicity werden verwechselt, die Ansprüche der Wahrheit gegen sogenannte alternative Fakten eingetauscht und manche Standpunkte auch schon einmal übereifrig für Standorte gehalten.

„Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld.“

„Die Große Gereiztheit“: So nennt der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen dieses Erregungsmuster des digitalen Zeitalters. Das Wort geht zurück auf Thomas Mann. Es ist die Überschrift des vorletzten Kapitels aus dem Zauberberg. Manns Roman aus dem Jahr 1924 bannt die nervöse Vorkriegsgesellschaft ins Bild eines hypernervösen Sanatoriums in Davos. In dem Schweizer Berghof regiert eine kleine Gesellschaft mit großen Sensoren für Zeit, Raum und Medien. Es liegt etwas in der Luft, etwas, das empört und zugleich reizt. So heißt es: „Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge. Erbitterter Streit, zügelloses Hin- und Hergeschrei entsprang alle Tage zwischen einzelnen und ganzen Gruppen, und das Kennzeichnende war, daß die Nichtbeteiligten, statt von dem Zustande der gerade Ergriffenen abgestoßen zu sein oder sich ins Mittel zu legen, vielmehr sympathetischen Anteil daran nahmen und sich dem Taumel innerlich ebenfalls überließen.“

Das Scharmützel, das Thomas Mann in diesem Kapitel inszeniert, nimmt den „Großen Krieg“ (1914–1918) vorweg. Die Kombattanten sind Naphta und Settembrini, an deren hybriden Eigenschaften schon so mancher Interpret verzweifelt ist. Naphta ist zugleich Jesuit, Ostjude und Kommunist, ein Verfechter von gerechtem Krieg, totalitärem Gottesstaat, Revolutions- und Leidensmystik; Settembrini ist Anwalt der Aufklärung, Rationalist, Demokrat, ein fortschrittlich gesonnener Humanist und romantischer Freiheitskämpfer. Es ist der Begriff der Freiheit, an dem sich der Disput erhitzt. Weltbeherrschung gegen Weltberechnung, Freiheit von Volk und Nation gegen weltbürgerliche Freiheit, so die Positionen. Am Ende kommt es zu einem absurden Duell, Settembrini weigert sich zu schießen, Naphta jagt sich eine Kugel in den Kopf.

Freiheit des Wortes

Naphta und Settembrini sind Pilotfiguren für die Empörungsdebatten, die sich seit Mauerfall und Wende unter wechselnden Vorzeichen in der Kulturszene wiederholen. Die Diskussion um die Stasi-Verwicklung von Schriftstellern (1989/90), die Botho-Strauß-Debatte um die Rückkehr der Nation (1993), die Aufregung über die DDR-Bilder in Günter Grass’ Roman Ein weites Feld (1995) und der oben genannten Gesellschaftsgeschichte von Hans-Ulrich Wehler (1998), die Walser-Rede in der Paulskirche (1998), das Israel-Gedicht von Grass (2012) und jüngst die Dresdner Runde mit Durs Grünbein und Uwe Tellkamp: Immer geht es um die politische Rolle des Intellektuellen, um sein öffentliches Rederecht, um die Differenz zwischen Nation und Europa, Heimat und Kosmopolitismus, um Geschichtsgedächtnis und Zukunftsängste, um Täter- und Opferbilder, vor allem aber um die Frage nach der Freiheit des Wortes.

Dient diese Freiheit dazu, Hetzjagden auf Normabweichler zu veranstalten, oder ist sie eine Art moralisches Immunsystem der Gesellschaft? Ist es der Preis der Freiheit, wenn jede Meinung gleich viel zählt, auch die überzogene Erwartung oder die unnötig geschürte Angst? Manchmal melden sich empörte Stimmen zur Empörung, sei es ein Verlag oder ein Veranstalter, wie im Sommer 2017, als Michael Kleeberg in seiner Frankfurter Poetikvorlesung erzählte, wie sein neues Buch Der Idiot des 21. Jahrhunderts. Ein Divan (2018) über die Ankunft des Islams im Westen entstanden ist, und dabei zwischen seiner Sorge als Staatsbürger und seiner Aufgabe als Schriftsteller differenzierte.

Ein Kennzeichen der Unsagbarkeits-Debatten ist ihre Selbstbezüglichkeit. Sie kreisen um sich selbst. Am Stammtisch der sozialen Netzwerke ist man sich vor allem darüber einig, dass man sich einig ist. So ist Pegida nicht nur eine rechte Demonstration, sondern auch eine Facebook-Seite mit fast 200.000 Unterstützern. In diesem System eines entfesselten Affirmationsdenkens gibt es nur ein Medienecho, das sich selbst reproduziert: in den bereits erwähnten Echokammern.

Oft setzt erst die Wut über die Wut der anderen Seite das Wortgefecht in Szene. Auf der Blattgoldwaage der digitalen Blogs, Tweets und Live-News bekommt es ein spezifisches Gewicht: das Gewicht der Entrüstung. Und wer sich da entrüstet, ist ein Mensch im Alarmzustand. Ludwig Marcuse hat in seiner Studie Obszön (1962) diese Entrüstung als große Schwester der Empörung beschrieben: als „die defensive Mobilisierung einer Emotion zur Abwehr eines Einbruchs in die Feste, in der man sich verschanzt hat“.

Sogenannte Gesinnungskorridore

Eine solche Burg sind die derzeit häufig genannten Gesinnungskorridore. Das englische Wort Overton Window geht auf den Politikwissenschaftler Joseph P. Overton (1960–2003) zurück und wurde durch den Titel eines gleichnamigen Politthrillers (2010) bekannt. Das Overton Window ist ein Popularitätsfilter, der die Stärke einer politischen Idee nicht danach bemisst, was sie wert ist oder wie gut sie ausgedrückt ist, sondern danach, wie weit sie ankommt. Merkwürdigerweise kann eine Radikalisierung der Idee auf der einen Seite zu mehr, auf der anderen aber auch zu weniger Freiheit führen. Die deutsche Lehnübersetzung „Gesinnungskorridor“ bringt eine wertethische Dimension in den Begriff. Er markiert die Grenze des sanktionsfrei Sagbaren. Aber wie frei ist ein Wort noch, das man durch einen Korridor schicken muss, damit es einen normen- und regelkonformen Ausdruck annimmt?

Paul Celan (1920–1970), der den Holocaust überlebt und neben der spät mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Nelly Sachs wohl am nächsten am Rande des Sagbaren geschrieben hat, spricht in seiner Bremer Rede vom 26. Januar 1958 von dem Gedicht als „Flaschenpost“, „aufgegeben in dem – gewiß nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht“. Der Modus der Literatur ist das Sprechen in freien Raum und offene Zeit hinein. Literatur ist ein vielleicht nicht unbestechlicher, aber aufmerksamer Wächter der Freiheit. Damit das Dasein nicht von seiner Umwelt gelebt wird, wie Martin Heidegger einmal an Hannah Arendt schrieb, bedarf es des literarischen Wortes. Es braucht Zeit und Freiheit. Wahrheit ist langsam, Information ist schnell.

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Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Leiter des Referates Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung Sankt Augustin und außerplanmäßiger Professor für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln.

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