Erlittenes Unrecht und Verletzungen ziehen oft Vergeltungswünsche nach sich, allerdings mit der für Täter und Opfer tragischen Tendenz zur Unabschließbarkeit. Kreisläufe von Angriff und Rache – teils verpönt und gleichwohl wirksam (Bernhardt 2021) – sind typischerweise schwer zu unterbrechen. Um Möglichkeiten konstruktiver Konfliktlösung auszuloten, müssen die damit verknüpften Herausforderungen in ihrer vielschichtigen sozialen und psychisch-affektiven Dynamik erhellt werden. Wichtige Ansatzpunkte bietet etwa der französische Philosoph Paul Ricœur, der den Fragen nachging, ob und wie Versöhnung auch angesichts von schmerzlichem Leiden und Traumata angemessen und möglich ist, wie sich ein tragfähiges Verzeihen unterscheidet von oberflächlicher Bagatellisierung oder Verleugnung von Schuld und Schmerz.
In teils archaisch-märchenhaft wirkender und zugleich psychologisch subtiler Gestalt bildet sich solches Ringen beispielhaft in Giacomo Puccinis Oper „Turandot“ ab, in der die Titelfigur und die scheinbar unverrückbare Logik ihres Handelns sowohl Verletzung als auch ewige Rache geradezu verkörpern – und in der es doch auch um die Kunst der Versöhnung geht. In der Oper erlebt sich Turandot, eine traumatisierte junge Frau, in einer Vergangenheit, die nicht vergehen will; und um sich für Gewalt und Leiden zu rächen, stellt sie jedem Bewerber, der sich ihr zu nähern sucht, tödliche Rätsel. So auch dem „unbekannten Prinzen“ Calaf. In der dramatischen und musikalischen Gestaltung der Oper werden, zunächst widerstrebend, Ansätze einer Wandlung spürbar, die auf Mitfühlen, Trauer und Verzeihen basieren, somit den Raum der Möglichkeiten erweitern[1]. Das Gedächtnis der Rache verändert sich.
Gedächtnis der Rache – stillstehende Zeit
Ricœur verknüpft Gedächtnis mit dem geschichtlichen Bewusstsein, das sich nicht auf die „bloß chronologische Dimension der Zeit“ (1998, S. 86) reduzieren ließe: Was zählt, ist nicht einfach eine Aufschichtung von Geschehnissen, sondern sind die bis in die Gegenwart reichenden Bedeutungen des Vergangenen und damit verbundenen Festlegungen. Diese gilt es zu bearbeiten, um kollektiv Spielräume für die Zukunftsgestaltung zu schaffen. Ricœur plädiert dafür, der „Beziehung der Gegenwart zur Zukunft Vorrang einzuräumen in Relation zur Beziehung zur Vergangenheit“ – auch im Sinne einer von ihm so genannten „Therapeutik des verletzten Gedächtnisses“ (1998, S. 87), für die er eine basale Einsicht der Psychoanalyse aufgreift: Die ‚Wahrheit‘ des Erinnerten kann sich, im günstigen Fall, demnach nur im Durcharbeiten derjenigen Widerstände herausschälen, die sich der realistischeren Vergegenwärtigung des Vergangenen entgegenstellen. Diese verlangt insofern immer auch Trauerarbeit (Freud 1917), die auch beinhaltet, die Unveränderbarkeit des Vergangenen zu akzeptieren, um künftig Neues zu ermöglichen. Rache perpetuiere demgegenüber die Verweigerung der Trauer, das Vergangene wird konserviert.
Vergeltung als Lebenselixier
Auch die Oper „Turandot“ folgt einer eigensinnigen Zeitlogik: Bevor die Protagonistin mit eigenen Worten auftritt, ist in der Oper bereits lange Zeit vergangen. Erst wird von ihr erzählt, dann tritt sie zunächst stumm in Erscheinung. Schließlich folgt Turandots erste Arie, im Zweiten Akt, in der sie ihre Urszene des Leidens bebildert: Einer Ahnfrau sei Schreckliches widerfahren, Schändung und Entführung – ihr „Schrei, er drang durch lange Ahnenreihen bis her zu mir und füllt nun meine Seele“. Turandot vergegenwärtigt den Schrei, der zeitlos-unverändert ihre Seele fülle, den sie als Auftrag erlebt und der ihre Identität markiert: ‚Ich bin die Rächerin, die alle zerstört; ich bin die, die niemand berühren wird‘, so die unmissverständliche Setzung. Nichts anderes als diese radikale Verneinung gilt. Nichts anderes macht sie offenbar aus.
Hört man Turandots Erzählung wiederum wie eine von eigener, unaussprechlich traumatischer Erfahrung gezeichnete, so dient die grausame Inszenierung der Rätselprobe – jeder Bewerber, der das Rätsel nicht löst, wird geköpft – als Bollwerk gegen eigene abgründige Ängste. Die immer neu wiederholte Hinrichtung all jener Prinzen wird zur Re-Inszenierung einer nach außen gewendeten Erfahrung des Ausgelöschtwordenseins, exerziert an all denen, die ihr Rätsel nicht beantworten. Psychologisch betrachtet, lässt sich die Geschichte der Urahnin auch wie ein „gewähltes Trauma“ verstehen. Vamık D. Volkan (2005, S. 82 ff.) bezeichnete damit Narrative, die ein Trauma in die ferne Vergangenheit projizieren. Zugleich wird das Bild der ungerecht zum Opfer gewordenen Vorfahren auch als ewiger Urgrund und Legitimation des aktuellen Verhaltens stilisiert; als Auftrag, wachsam zu sein, Vergeltung zu üben und die Ehre der Geschädigten wiederherzustellen. Nicht zuletzt wird damit Identität gestiftet, auch wenn sie auf tönernen Füßen steht. Oftmals sind es kollektive Traumata, die in dieser Weise als kulturelle Mythen dienen, aber auch individuell können Opferlegenden als Platzhalter für seelisch Überforderndes fungieren – um sie festzuhalten und zugleich zu distanzieren.
Der leere Triumph der Grandiosität
In einer solchen Logik der Rache kann das Opfer zum Täter werden, das Unerträgliche wird an andere weitergegeben. Die Vergeltung soll Verluste vergessen lassen und eine Barriere schaffen gegen die Gefahr, mit dem eigenen Schmerz und dem der anderen in Berührung zu kommen. In diesem Kosmos dominiert die Spaltung in Gut und Böse, Alles oder Nichts, Überhöhung und Entwertung. Innere Leere und Angst vor Kontrollverlust können zwanghaft überschrieben werden mit sich wiederholenden sadistischen Handlungen und zwanghafter Kontrolle über andere. In der Oper wird Hilflosigkeit konterkariert durch ein Phantasma grandioser rigider Herrschaft, in der nur die eine – Turandot – Macht über Leben und Tod all derer hat, die mit ihr in Beziehung zu treten versuchen. Dazu in mächtigem Widerhall wallen die rohen Affekte und Begierden der aufgeregten Menge auf und ab. Masse und Hofstaat fungieren wie Erregung verstärkende Medien, replizieren laut und drastisch Sensationslust, Unterwerfung und Brutalität. Scham wird verborgen durch Verachtung, Angst vor Demütigung vermieden durch auftrumpfende Überlegenheit. Blicke, Gesten und Worte dienen nicht der Verständigung, sondern dem Verurteilen. Verbindung ist im tieferen Sinne des Wortes undenkbar.
Verwandlung im Widerstreit
Zwischen solch unheilvoll repetitiver Welt einer Re-Inszenierung der traumatisierten Innenwelt im Außen und zaghaften Schritten der Versöhnung, zunächst mit der eigenen Verletzlichkeit, bis hin zur Sehnsucht nach dem Anderen als einem erstmals benennbaren möglichen Empfinden, bewegt sich aus dieser Perspektive die Oper. Von einer Geschichte des Stillstands voller Qualen hin zu einem Ringen um Veränderung, dargestellt als zwischenmenschliche und innere Kämpfe. Bei Prinz Calaf dominiert lange Zeit sein Begehren, der Erste und Einzige zu sein, der glorreich das Rätsel löst. Doch um zu siegen, muss er Turandot verstehen. Der erste Schritt: Die Fähigkeit, das Rätsel zu lösen, ist Ausdruck einer identifikatorischen Nähe. Calaf liest die verborgenen Wünsche und versteht Turandots Ambivalenz. Er errät nicht einfach die richtigen Worte oder siegt durch Schlauheit. Vielmehr kann er die drei Rätsel lösen – „Hoffnung“, „Blut“ und „Turandot“ lauten die richtigen Lösungen –, indem er sich in sie hineinversetzt, Wunsch und Leiden erspürt, seine eigenen Gefühle als Richtschnur nimmt.
Damit bietet Calaf der Rätselstellerin Turandot eine Deutung ihrer selbst: In seiner Rätsellösung kann sie sich selbst zum ersten Mal erkennen. Turandots festgefügte Muster werden dadurch erschüttert, zugleich richtet sie neue Widerstände auf. Calaf geht einen weiteren Schritt und liefert sich aus, doch immer noch in der Selbstgewissheit des Sieges. Erst im Angesicht des Liebesopfers einer Dritten, Liù, und der Authentizität ihres Fühlens und Verzeihens deutet sich eine weiter reichende atmosphärische Wendung an: neue Schuld, aber auch erstmals spürbare Schuld- und Vergebensfähigkeit. Die Lust am Grausamen weicht der Reue. Trauer, Schuld und Scham sind Zeichen einer ersten Hinwendung zur Wirklichkeit. Die sich bis dahin als göttlich-körperlos imaginierende Prinzessin beginnt sich neu zu spüren. Calaf wiederum, der ihr seinerseits das Rätsel aufgegeben hatte, seinen Namen zu erraten, verzichtet auf den Sieg. Er selbst enthüllt ihr seine Identität und liefert sich Turandot damit aus. So deutet sich, zum Ende hin, eine Fähigkeit an, dem Fühlen eine lange gemiedene Bedeutung zu geben – „sein Name ist Liebe“, verkündet Turandot, kurz bevor der Vorhang fällt. Zumindest klingt durch Intonation des Erhofften und doch Unerwarteten die Möglichkeit eines versöhnenden Bezugs zum Anderen an, der eine Öffnung zum Unbekannten hin riskiert.
Schweres Verzeihen
Was bedeutet also Versöhnung? Ricœur grenzt das leichte Verzeihen oder gar „eskapistisches Vergessen“ (1998, S. 145) vom schweren Verzeihen ab. Leichtes Verzeihen bedeute nichts anderes als eine Maskerade; es bleibt oberflächlich, selbstgefällig oder instrumentell. Demgegenüber setzt das schwere Verzeihen psychische Arbeit voraus, ein Durcharbeiten von Widerständen. Als Vergebung beinhaltet es im Kern eine Gabe, eine Großzügigkeit, die nicht auf simplem Tausch und instrumentellen Beziehungen basiert (Ricœur 2004). Während derjenige, dem verziehen wird, anzunehmen lernen müsse – im Sinne einer Fähigkeit zur Dankbarkeit, die wie die Gabe psychisch voraussetzungsvoll ist (King 2020). Versöhnung vollzieht sich damit jenseits der erwarteten Reziprozität von Gabe und Gegengabe – jenseits des ‚ich gebe, weil du gibst‘ –, die spiegelbildlich nichts anderes ist als die Logik der Rache, des ‚wie du mir, so ich dir‘. Schweres Verzeihen geht darüber hinaus. Es nimmt die Tragik oft unauflöslich scheinender Konflikte ernst und versucht zugleich praktisch, die „Knoten zu entwirren“ (Ricœur 1998, S. 153), um „mit der infernalischen Logik einer von Generation zu Generation wiederholten Rache [zu] brechen“, wie sie etwa zum Auftakt des Dramas beschworen wird. Nur dann werde möglich, dass die „‚Vergangenheit, die nicht vergehen will‘ […] aufhört, die Gegenwart zu verfolgen“ (ebd., S. 155).
Das größte Rätsel
Turandot tritt im dramatischen Ablauf der Oper lange Zeit nur als Bild und festgefügtes Phantasma anderer in Erscheinung. Auch in ihrem Selbstbild ist sie „kein Menschenwesen“, sondern „Tochter des Himmels“, wie sie sagt – eine Prinzessin, die sich ‚für immer‘ hinter grausamer Vergeltung verbarrikadieren möchte, bis sie es wagt, verletzlich und endlich zu sein. In diesem Sinne geht es um einen Prozess der Humanisierung – um ein, geborenwerden als Mensch, der eine eigene Geschichte und Zukunft hat. Bis dahin blieb sich Turandot selbst ein Rätsel. Selbstüberhöhung und das Zwangssystem gewaltiger Kontrolle überdeckten die Angst, Selbsttäuschung wird nur widerstrebend aufgegeben. Beide begegnen sich zunächst in einer hochgerüsteten Form: Turandots ewige Rache und mörderische Zurückweisung, Calafs unbedingte Liebe zu etwas, das er noch gar nicht kennt, und die insofern projektiv und selbstbezüglich bleibt. Auch Calaf durchläuft eine Veränderung: von dem, der um jeden Preis erobern will – hin zu jemandem, der versteht und etwas von sich gibt. Die Oper bildet dieses Ringen in allen Schattierungen ab, insofern das verändernde und versöhnende Potenzial der Kunst entfaltend, das Ricœur betont, wenn er schreibt, „dass das, was wir Subjekt nennen, niemals am Anfang gegeben ist“ (2016, S. 224), während ästhetische Erfahrung dazu beitragen kann, über projektive Bespiegelung hinauszukommen, womöglich geben und vergeben zu können. So vervielfältigt sich hier der von Theodor W. Adorno betonte „Rätselcharakter“ der Kunst (1998, S. 221) in der Figur des Rätsels, das Lösung verlangt, Erlösung verspricht, aber zugleich immer neue Suche in Gang setzt. „Wenn auch das Kunstwerk das größte Rätsel ist“, so Joseph Beuys, ist auch in dieser Geschichte, wie beim dreigliedrigen Rätsel der Sphinx, die Lösung: „der Mensch“.
Vera King, Professorin für Soziologie und Sozialpsychologie, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Geschäftsführende Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts Frankfurt am Main. 2025 erschien, herausgegeben von Vera King und Heinz Weiß: "Hoffnung in der Krise?", Doppelheft der Zeitschrift "Psyche", 79. Jg. (9/10).
Konrad Kuhn, Dramaturg, unter anderem an den Staatsopern in Berlin und Wien, bei den Salzburger und den Bayreuther Festspielen sowie seit 2015 an der Oper Frankfurt.
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[1] Giacomo Puccinis letzte Oper „Turandot“ blieb unvollendet. Zwei Akte sowie der Großteil des dritten liegen vor. Puccini hat bis zu seinem Tod 1924 darum gerungen, das abschließende Duett zwischen Turandot und Calaf sowie das Finale in eine Form zu bringen. Es sind detaillierte Skizzen überliefert, aus denen sein Komponistenkollege Franco Alfano posthum eine Fassung erstellt hat, die als „Alfano 1-Schluss“ bekannt ist. Der Dirigent der Uraufführung Arturo Toscanini verlangte indes Streichungen; mit dem gekürzten „Alfano 2-Schluss“ wird die Oper meist aufgeführt. Manche Interpreten sparen die Nachkomposition auch ganz aus (vgl. Konrad Kuhn: „Ringen um Glaubwürdigkeit“, in: Wiener Staatsoper (Hrsg.): Giacomo Puccini – Turandot, 2023). Anders in der Inszenierung von Claus Guth 2023 an der Wiener Staatsoper, die u. a. mit dem längeren Schlussdialog auch Raum für Veränderung plausibilisiert.
Literatur
Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, 14. Aufl., Suhrkamp Verlag, Berlin 1998.
Bernhardt, Fabian: Rache. Über einen blinden Fleck der Moderne, Matthes & Seitz, Berlin 2021.
Freud, Sigmund: „Trauer und Melancholie“, Erstveröffentlichung in: Internationale Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse, 6. Jg., Bd. 4, 1917,
S. 288–301; auch in: Gesammelte Werke, Bd. X, Werke aus den Jahren 1913–1917, Berlin 2010, S. 428–446.
King, Vera: „Generativität und die Zukunft der Nachkommen. Krisen der Weitergabe in Generationenbeziehungen“, in: Ingrid Moeslein-Teising et al. (Hrsg.): Generativität, Psychosozial-Verlag, Gießen 2020, S. 11–28.
Dies.: „Turandot und das Rätsel der Verwandlung“, in: Wiener Staatsoper (Hrsg.): Giacomo Puccini – Turandot, S. 26–31.
King, Vera / Kuhn, Konrad: Memory and Vengeance, Art and Reconciliation. Dynamics of Injury, Retribution, and Forgiveness in Puccini’s Turandot (im Erscheinen).
Kuhn, Konrad: „Ringen um Glaubwürdigkeit“, in: Wiener Staatsoper (Hrsg.): Giacomo Puccini – Turandot, S. 62–70.
Ricœur, Paul: Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Wallstein Verlag, Göttingen 1998.
Ders.: Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Suhrkamp Verlag, Berlin 2004.
Ders.: Über Psychoanalyse. Schriften und Vorträge, Psychosozial-Verlag, Gießen 2016.
Volkan, Vamık D.: Blindes Vertrauen. Großgruppen und ihre Führer in Zeiten der Krise und des Terrors, Psychosozial-Verlag, Erstaufl., Gießen 2005.